Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1
private Konkurrenten mit ihren Zügen.
Die Türen befinden sich an unterschiedli-
chen Stellen und sind unterschiedlich
hoch – automatische Sicherheitsschleusen
beim Einstieg sind so kaum machbar.
Am ehesten noch seien solche Trenn-
wände in den U-Bahnen einzelner Groß-
städte denkbar, so der Erfurter Professor
für Eisenbahnwesen Michael Lehmann.
»Aber wirklich kriminelle oder psychisch
kranke Personen sind damit nicht zu stop-
pen. Die können dann auf Haltestellen von
Bussen oder Trams ausweichen und dort
schubsen«, sagte er der »Neuen Zürcher
Zeitung«.

Hoffnung setzen Politikerin Systeme zur
»Intelligenten Videoüberwachung«. In
Mannheim testet das Fraunhofer-Institut
Kameras, die auffällige Körperbewegun-
gen erkennen sollen: Sie schlagen Alarm,
wenn jemand tritt oder zuschlägt, hektisch
anfängt zu rennen oder plötzlich hinfällt.
Allerdings sei dieses System eher geeig-
net, die Fortsetzung einer Gewalttat zu
stoppen, als sie von Anfang an zu verhin-
dern, sagt der Videoüberwachungsexperte
Markus Müller. »Den ersten Schlag ver-
hindern wir nicht, vielleicht aber den zwei-
ten oder dritten – und damit die Eskalation
einer Tragödie.« Im Frankfurter Fall wäre
allerdings »der Tod des Jungen auch mit
unserer Technik nicht zu verhindern ge-
wesen«, sagt Müller.
Der Gewaltforscher Zick bemängelt,
dass es für öffentliche Orte wie den Frank-
furter Bahnhof keine Erfolg versprechen-
den Präventionskonzepte gebe. »Auf Ge-
walt sind wir als Gesellschaft nicht beson-
ders gut vorbereitet«, sagt er. »Wir disku-
tieren nach solchen Taten zu kurzsichtig.«

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Bayern: Tatverdächtig sind zwei 17-Jährige


MATTHIAS RIETSCHEL / DER SPIEGEL
Angriffsopfer Johne aus Dresden: »Mein Mann ist heute ein anderer Mensch«

Als Konsequenz aus dem Fall will er
auch solche Maßnahmen ergreifen, die
noch für Debatten in der Koalition sorgen
werden. »Ich werde alles in die Wege lei-
ten, um intelligente Kontrollen an der
Grenze vorzunehmen.« Im Jahr 2018 sei-
en 43 000 unerlaubte Einreisen registriert
worden, viele Migranten kamen, ohne
kontrolliert zu werden. »Diesem Umstand
müssen wir begegnen, durch eine erwei-
terte Schleierfahndung und anlassbezoge-
ne, zeitlich befristete Kontrollen auch un-
mittelbar an der Grenze – auch an der
Grenze zur Schweiz.« Bis September will
Seehofer ein entsprechendes Konzept vor-
legen.
Anders als noch vor einem Jahr, als der
Streit um Grenzen fast zum Bruch zwi-
schen CDU und CSU führte, drohe dieses
Mal kein Konflikt mit Angela Merkel,
glaubt Seehofer. »Ich weiß die Bundes-
kanzlerin in diesen Sicherheitsfragen voll
auf meiner Linie.«
Auf seiner Pressekonferenz konnte der
Bundesinnenminister trotzdem nicht viel
mehr als Versprechungen präsentieren: Es
solle mehr Polizisten geben, die Präsenz
zeigen, mehr Videokameras. Schleusen
oder Sperren an den Bahnsteigen, wie sie
in London oder Paris zum Einsatz kom-
men, sollen diskutiert werden. Was in die-
sen Städten üblich ist, hatte Seehofer am
Abend zuvor in seinem Ferienhaus im In-
ternet nachgelesen.
Auf den mehr als 5600 Bahnhöfen in
Deutschland Trennwände zu installieren,
die sich erst öffnen, wenn der Zug stillsteht,
halten Fachleute für nicht umsetzbar. Auf
den Schienen sind die unterschiedlichsten
Züge im Einsatz: ICEs, ICs, Regionalex-
presse, Regionalbahnen, ausländische und

Jedes Mal würden mehr Sicherheitsperso-
nal oder mehr Kameras gefordert. »Das
greift zu kurz.« Auch Absperrungen an
den Gleisen hält er nicht generell für die
richtige Lösung. Stattdessen seien etwa So-
zialarbeiter oder besser geschulte Polizis-
ten nötig, die Risiken besser erkennen
könnten und potenzielle Täter, wenn sie
über das Gelände irrten.
Weil der Tatverdächtige ein Eritreer ist,
haben Populisten die Sicherheitsdebatte
längst gekapert, um Stimmung gegen Mi -
granten zu machen. Schon kurz nach der
Tat gab neben Fraktionschefin Weidel die
AfD-Bundestagsabgeordnete Verena Hart-
mann den Ton an. Sie machte Kanzlerin
Merkel persönlich verantwortlich und
schrieb, sie »verfluche den Tag Ihrer Ge-
burt«. Später löschte sie den Tweet.
In rechten Foren machte bald ein
»Meme« die Runde: ein gefälschtes gelbes
Bahn-Warnschild mit dem Hinweis »Vor-
sicht Schubsende Migranten«. In den so-
zialen Medien versuchen manche die Em-
pörungswellen noch zu verstärken.
So tauchte ein angeblicher Tweet von
Gesundheitsminister Jens Spahn auf, in
dem dieser den Vorfall scheinbar verharm-
lost und »ganz nüchtern« in Relation zu
der Zahl von Kindern setzt, die im laufen-
den Jahr an Masern verstorben seien.
Spahn sah sich gezwungen, das gefälschte
Posting mit dem gefälschten Zitat via Twit-
ter richtigzustellen: »Der entsetzliche Tod
eines Kindes wird so für Stimmungsmache
und Fake News genutzt. Das ist besonders
perfide und plump.«
Innenminister Seehofer hält das, was
derzeit auf Twitter passiert, für »hochgra-
dig besorgniserregend«: »Dort geht die
Qualität der öffentlichen Debatte vor die

LINO MIRGELER / PICTURE ALLIANCE / DPA
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