Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1
SPIEGEL:Herr Bouffier, Ihr Bundesland
war zuletzt mehrmals in den Schlagzeilen
wegen gravierender Straftaten. Hat Hessen
ein Sicherheitsproblem?
Bouffier:Es gab in letzter Zeit drei Fälle
bei uns, die herausragen und uns fassungs-
los machen, zuletzt der Mord an dem klei-
nen Jungen, der am Hauptbahnhof in
Frankfurt auf die Gleise gestoßen wurde.
Aber neben solchen schlimmen Einzelfäl-
len gibt es auch das Gesamtbild, und hier
zeigen alle Zahlen, dass Hessen zu den
sichersten Bundesländern gehört. Wir ha-
ben die Polizei drastisch ausgebaut, die
Mittel für den Verfassungsschutz vervier-
facht, und wir investieren viel in die Kri-
minalitätsprävention.
SPIEGEL:Der Mord an Ihrem Parteifreund
Walter Lübcke, der Anschlag auf einen Eri-
treer in Wächtersbach, die Drohungen ge-
gen eine Frankfurter Rechtsanwältin aus
Polizeikreisen – gibt es in Hessen nicht
doch ein größeres Problem mit Rechts -
extremismus, als man gedacht hätte?
Bouffier:Ich war mit Walter Lübcke über
40 Jahre befreundet, dieser Mord hat mich
bis ins Mark getroffen. Aber diese Tat ist
nicht hessenspezifisch, sie hätte auch an-
derswo stattfinden können. Jeder dieser
gravierenden Fälle ist anders. Nehmen Sie
etwa den mutmaßlichen Täter von Wäch-
tersbach – er tauchte in keinem unserer
Systeme jemals als verdächtig auf.
SPIEGEL:Sind vielleicht die Instrumente,
mit denen Extremisten identifiziert wer-
den, einfach nicht mehr zeitgemäß?
Bouffier:Nach elf Jahren als Innenminis-
ter bin ich überzeugt, dass Sie gegen völlig
unauffällige Personen mit neuen Rechts-

vorschriften nicht viel weiterkommen, es
sei denn, Sie werfen jeden Schutz des
menschlichen Intimbereichs über Bord,
und das will ich nicht. Aber wir sollten uns
auch nicht wehrlos zeigen. Ein Beispiel:
Hessen hat vor einem Jahr im Bundesrat
beantragt, dass jede Person, die mal von
einer Verfassungsschutzbehörde erfasst
wurde, automatisch als unzuverlässig für
den Waffenbesitz eingestuft wird. Unsere
Initiative fand damals keine Mehrheit.
SPIEGEL:In seiner Stammkneipe hatte
sich der Täter von Wächtersbach mit sei-
nem Mordplan gebrüstet. Das schien seine
Freunde nicht zu stören.
Bouffier:Ich kenne dazu keine Einzelhei-
ten, aber gerade wenn sich dieser Verdacht
erhärten sollte, müssen wir die Menschen
stärker sensibilisieren und aktivieren. Es
kann nicht sein, dass solche Sprüche ach-
selzuckend ignoriert werden. Sie müssen
ernst genommen und den Behörden gemel-
det werden. Oder, noch besser, das soziale
Umfeld muss auf diese Menschen Einfluss
nehmen.
SPIEGEL:Sie sind nicht auf Twitter. Wel-
che Verantwortung für Hasskriminalität
sehen Sie bei den sozialen Netzwerken?
Bouffier:Wenn Sie dieser Tage die Inhalte
dieser Plattformen verfolgen, wird Ihnen
schlecht. Deshalb hat Hessen im Koali -
tionsvertrag eine massive Initiative gegen
Hate Speech vereinbart. Wir müssen die,
denen alles egal ist, irgendwie aufrütteln.
Und wer sich im Netz übel und strafbar ge-
bärdet, muss konsequent strafrechtlich ver-
folgt werden. Das Netz ist kein rechtsfreier
Raum. Da wünsche ich mir mehr Druck auf
die Plattformbetreiber, damit sie nicht mehr
alles ungefiltert rausschleudern.
SPIEGEL:AfD-Politiker zogen sofort Ver-
bindungen von dem Frankfurter Mord zu
Angela Merkels Flüchtlingspolitik.
Bouffier:Das finde ich infam. Der Vorgang
in Frankfurt bietet keinerlei Zusammen-
hang zur Flüchtlingspolitik von 2015. Der
Täter lebte seit über zehn Jahren in der
Schweiz, er galt als musterhaft integriert.
SPIEGEL:Trotzdem: Die Flüchtlingspolitik
hat Ängste und Wut in vielen Leuten frei-
gesetzt. Hat die Politik sie überfordert?
Bouffier:Unbestreitbar gibt es in der Be-
völkerung einen nicht geringen Teil, der
die Flüchtlingspolitik für falsch hält. Dieser
sah seine Bedenken auch im Bundestag
lange Zeit nicht vertreten. In einer Demo-
kratie ist eine solche Meinung zu respek-

36


Deutschland

»Das finde ich infam«


GewaltMinisterpräsident Volker Bouffier, 68,
Vize-Bundesvorsitzender der CDU, über die jüngsten Straftaten
in Hessen und den Hass im Internet

Gewalt am Gleis
Straftaten wider das Leben auf Bahnanlagen
Quelle: Bundespolizei

2017 2018

38


2016

(^2323)
Hunde«, sagt er. »Dort entsteht eine Pola-
risierung, die Grundlage für Gewaltbereit-
schaft ist.«
Noch am Tattag hatte ein gefälschtes
Nutzerkonto (»Naschkatze88«) pietäts-
losen Spott über den getöteten Jungen und
vermeintlich Empathisches über den Täter
und dessen Zukunftsaussichten gepostet.
Das gefälschte Konto war mit seinem Na-
men offenkundig an ein reales Twitter-
Konto einer jungen Frau angelehnt, von
dem auch Fotos gestohlen und übernom-
men wurden.
Als Reaktion darauf gab es – wie von
den unbekannten Urhebern offenbar er-
wünscht – Hass, Mord- und Vergewalti-
gungsfantasien, eine Jagd nach der Frau
auf dem Foto begann.
Diese perfide Methode, Hass anzusta-
cheln, ist spätestens seit dem vergangenen
US-Präsidentschaftswahlkampf bekannt –
ihr Ziel ist das, was die Stasi einst »Zerset-
zung« nannte. Sie soll die Gesellschaft wei-
ter auseinandertreiben, spalten und pola-
risieren.
Ein Opfer dieser Polarisierung sind nun
die in Deutschland lebenden Eritreer. Rut
Bahta 38, ist Vorstandsmitglied von »Uni-
ting Eritrean Voices in Germany«, der
Dachorganisation der eritreischen Diaspo-
ra in Deutschland. Sie ist in Deutschland
aufgewachsen und arbeitet als Assistenz-
ärztin in der Psychiatrie.
Viele Eritreer hätten unter Schock ge-
standen, nachdem ein Mann eine Woche
zuvor den Eritreer Bilal M. aus rassisti-
schen Motiven in Wächtersbach niederge-
schossen hatte. »Eigentlich dachten alle,
in Deutschland sei man sicher.«
Wenige Tage danach steht ein Eritreer
als Täter im Fokus. Seitdem würden sie
und ihre Kollegen ständig von anderen Eri-
treern aufgefordert, sich stellvertretend für
die Gemeinschaft der Exil-Eritreer zu
positionieren. »Die Öffentlichkeit soll er-
fahren, dass wir gute und friedliebende
Leute sind«, forderten sie. Bahta spricht
der Mutter des getöteten Jungen ihr »tiefs-
tes Beileid« aus. Die Tatsache, dass der
Täter von Frankfurt Eritreer sei, stehe »für
rein gar nichts«, sagt Bahta, »es ist Zufall«.
Den Eritreer, in dessen Auto Habte A.
Freitag Nacht wohl für kurze Zeit saß, quä-
len seit der Tat düstere Gedanken. Was
wäre passiert, fragt er sich, wenn er mit
dem Mann gesprochen, sich um ihn ge-
kümmert hätte? Hätte er ihn von der
furchtbaren Tat abhalten können?
Eine Frage, auf die es keine Antwort
mehr gibt.
Melanie Amann, Laura Backes, Felix Bohr,
Katrin Elger, Annette Großbongardt,
Hubert Gude, Lucia Heisterkamp,
Anna-Lena Jaensch, Timo Lehmann,
Ann-Katrin Müller, Marcel Rosenbach,
Wolf Wiedmann-Schmidt

Free download pdf