Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1

A


m Freitag vergangener Woche sitzt
Gesine Schwan im Garten ihres Ber-
liner Hauses, als sie ausnahmsweise
mal ein bisschen unhöflich werden muss.
Schwan hat die Zeit vergessen, und nie-
mand hat sie daran erinnert. Sie wird unru-
hig, sie guckt auf ihr iPhone, sie sagt: »Ich
muss jetzt noch ein wichtiges Telefonat füh-
ren. Ich bringe Sie zur Tür.« Es ist die diskre -
te, schwansche Form eines Rausschmisses.
Kein Sprecher, kein Mitarbeiter kann das
für sie erledigen, sie muss das schon selbst
machen. Schwan nimmt das Kaffeegedeck
vom Holztischchen und die Wassergläser,


sie huscht über ihre Terrasse durch den Flur
zum Eingang ihres Hauses. »Alles Gute
Ihnen«, sagt Schwan noch, winkt kurz,
schließt dann die Tür. Termine, Termine.
Gesine Schwan ist jetzt 76 Jahre alt, sie
hat in ihrem Leben einiges geschafft, hat
eine Hochschule geleitet, eine andere ge-
gründet, sie hat Polnisch gelernt, hat zwei-
mal geheiratet und zweimal für das Bun-
despräsidentenamt kandidiert. Sie könnte
es jetzt ruhiger angehen lassen und sich
die Zeit nehmen, mit ihrem Mann zu ver-
reisen, zu entspannen. Oder im nahen
Schlachtensee schwimmen zu gehen.

Aber Schwan hat keine Zeit. Sie will
noch SPD-Vorsitzende werden, und weil
das ungefähr das Gegenteil von Entspan-
nung bedeutet, fragt man sich erst einmal,
ob Schwan noch alle Sinne beisammenhat.
Keine Partei in Deutschland braucht
dringender einen Generationswechsel als
die SPD. Das Personal ist verbraucht. Die
Partei ist erschöpft vom Regieren, frustriert
von den vielen Wahlniederlagen. Auf, auf
in neue Zeiten, rufen sie in der Sozialde-
mokratie, und das kann ja wohl kaum mit
einer Seniorin geschehen. Oder doch?
Das Spannende an der Situation der
SPD ist, dass sich nicht genau sagen lässt,
ob die alte Logik noch gilt. Die Partei
braucht einen Bruch, diese Erkenntnis ist
mittlerweile angekommen in der SPD.
Aber wenn sie wirklich etwas anders ma-
chen will, dann kann sie nicht schon wie-
der Funktionäre an die Spitze setzen, dann
müsste sie die Machtpolitiker einmal über-
gehen, die Ministerpräsidenten, die Kabi-
nettsmitglieder, die Vizevorsitzenden.
Das, so glaubt Schwan, sei ihre Chance
bei der Abstimmung unter den 430 000
Mitgliedern. Im Moment scheinen ja so-
wieso alle möglichen prominenten Genos-
sen abzusagen. Vielleicht erledigt sich das
Problem also auch von selbst?
Schwan jedenfalls wundert die bislang
spärliche Kandidatenriege nicht. »Die
SPD braucht jetzt nicht so sehr die Erfah-
rung von Regierungsinsidern«, meint sie.
»Allen, die mir vorwerfen, ich sei naiv, sage
ich: Und wie weit habt ihr es gebracht mit
eurer vermeintlichen Professionalität?«
Es ist schon eine etwas eigentümliche
Kampagne, die die Politikwissenschaftlerin
da fährt, wenn man denn von Kampagne
sprechen möchte. Sie hat ja noch nicht mal
richtig angefangen. Schwan braucht einen
Tandempartner, denn die SPD will künftig
eine Doppelspitze in der Parteizentrale in-
stallieren. Sie sei in Gesprächen, sagt
Schwan. Mehr verrät sie nicht.
Die Zentrale ihres Wahlkampfs ist ihr
Zuhause, eine helle Jugendstilvilla in Ber-
lin-Nikolassee. Hier wohnt Schwan mit ih-
rem zweiten Ehemann, dem Korruptions-
bekämpfer und Ex-Weltbankmanager Peter
Eigen. Gemessen daran, dass die Sozial-
demokratin als Anti-Establishment-Kraft
unterwegs ist, ist dieses Heim eine interes-
sante Umgebung. Mehr Establishment als
hier im Südwesten Berlins geht eigentlich
kaum, aber die Situierung sagt bekanntlich
nur begrenzt etwas darüber aus, wie Men-
schen ticken. Schwan tickt links.
Sie schreibt keine Strategiepapiere und
will keine Gesetze machen, aber ihr Pro-
gramm für die SPD kann Schwan trotzdem
klar umreißen. Sie will die Partei radikaler
aufstellen, leidenschaftlicher, klarer ausge-
richtet an den Grundwerten von Freiheit
und Solidarität. Sie will weg von der Spie-
gelstrichpolitik zu einem Ansatz, in dem die

38 DER SPIEGEL Nr. 32 / 3.8. 2019


Damenwahl


KarrierenGesine Schwan brät Buletten für ihre Verwandten,
schreibt ein Buch und will mit 76 Jahren für
den SPD-Vorsitz kandidieren. Wie irre ist das? Ein Besuch.

ANDREAS CHUDOWSKI / DER SPIEGEL
Sozialdemokratin Schwan: »Das macht mir überhaupt keine Angst«
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