Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1

Haltung den Kurs bestimmt und nicht der
Wahltermin. »Man sieht nicht mehr, wofür
die SPD brennt«, klagt die Berlinerin. Kei-
ne Vision, stattdessen nur Verwaltungsmen-
talität. »Wir sind so schrecklich mutlos.«
Die SPD, sagt Schwan, brauche »end-
lich wieder eine klare Weltsicht«. Für of-
fene Grenzen, gegen Krieg, für mehr
Europa, gegen das Spardiktat. In der Re-
gierung würde sie mit einem solchen An-
satz leicht in die Bredouille kommen, in
der Opposition könnte er passen. Wahr-
scheinlich wird sich die SPD bald ohnehin
auf Letzteres konzentrieren müssen.
Die Sonne hat im Garten mittlerweile
die Schattenplätze erreicht. Einen Schirm
gibt es nicht, also werden Stühle und Ti-
sche einfach immer ein Stück weiterge-
rückt. Die Wiese ist umrahmt von hohen
Kiefern, ganz hinten rauscht leise die Stadt-
autobahn. Trotzdem fühlt sich die Hektik
von Berlin-Mitte hier sehr weit weg an.
Zuletzt waren ein paar von Eigens ame-
rikanischen Verwandten zu Gast. Schwan
hat Buletten gebraten. »Ich wollte für die
Amis was ganz klassisch Berlinerisches ma-
chen«, sagt sie. »Das fanden die super.«
Schwan hat keine Profis um sich, sie
macht im Grunde alles selbst. Termine, In-
terviews, Planungen. Sie muss zusehen, dass
sie im Gespräch bleibt, muss für sich wer-
ben, ihre Vorzüge betonen. Wirklich schwer
fällt ihr das nicht: »Ich gehe jeden Samstag
hier einkaufen. Da werde ich immer an -
gesprochen. Die Leute kennen mich.«
Eine Vertraute küm-
mert sich darum, dass die
emeritierte Professorin
bei Twitter vorkommt, sie
selbst findet die Welt der
sozialen Medien span-
nend, aber sie ist ihr auch
fremd. Sie hat mitbekom-
men, dass sich manche im
Netz über ihre Frisur lus-
tig machen, aber das ist
ihr egal. Es ist Schwan
überhaupt ziemlich egal,
was über sie und ihre Kan-
didatur gedacht wird. Sie
macht einfach ihr Ding.
Auch Peter Eigen hilft
manchmal aus. Ob er die
E-Mail verschickt habe,
fragt Schwan ihren Mann
im Vorbeigehen. »Mache
ich gleich«, sagt er.
Schwan mag auf die
80 zugehen, aber sie hat
mehr Energie als mancher
50-Jährige. Neben ihrem
Parteiwahlkampf schreibt
sie gerade ein Buch, in
dem sie sich mit der Frage
beschäftigt, warum sich so
viele Menschen von Par-
teien abwenden. Einen


Grund sieht Schwan darin, dass zu viele
Politiker zu Schauspielern geworden seien:
Sie lächeln inmitten schwerer Machtkämp-
fe. Sie geben die Klimaschützer, auch
wenn sie das Thema jahrelang vernachläs-
sigt haben. Sie erzählen Geschichten, die
leicht als Märchen durchschaubar sind.
Mit Schwan über Politik zu sprechen ist
spannender als mit vielen anderen im Re-
gierungsviertel. Sie blickt von außen auf die
SPD, weshalb sie die Krise der Partei tiefer
analysieren kann als die meisten Funktions-
träger. Sie meidet die gängigen Thesen und
Beschwichtigungen, sie macht keinen Hehl
daraus, dass es für die SPD gegenwärtig
schon wirklich sehr beschissen läuft, auch
wenn sie das natürlich vornehmer formuliert.
Eine zentrale These der Politikwissen-
schaftlerin lautet, dass die SPD ihren Nie-
dergang nicht stoppen wird, wenn sie Wäh-
lerstudien folgt und ihre Programmatik
darauf trimmt, verbliebene sozialdemo-
kratische Milieus zufriedenzustellen. »Das
ist für mich an Borniertheit gar nicht zu
überbieten«, sagt Schwan. »Da empfehlen
uns irgendwelche wahnsinnig pfiffigen Be-
rater, unsere Politik auf diese oder jene
Klientel zu optimieren.« Dabei sei dies der
beste Weg, Vertrauen zu verlieren. »Jeder
kann doch durchschauen, dass wir das nur
machen, um Stimmen zu kriegen, nicht
aus echter Überzeugung.«
Analytisch hält Schwan es für »völlig un-
sinnig«, den Kurs der SPD von Milieuver-
änderungen abhängig zu machen. »Milieus
ändern sich ständig, und
kein Mensch weiß, wie
genau unsere Gesellschaft
in 20 Jahren aussieht.«
Immer nur nach den
Wünschen der Kundschaft
zu äugen sei schädlich.
»Grundwerte sind viel an-
haltender als irgendwel-
che gerade hochgezoge-
nen Schichten.« Mancher
Stratege im Willy-Brandt-
Haus würde wohl unter
einer Chefin Schwan be-
ruflich umsatteln müssen.
Mit ihr, so scheint es,
würde die SPD weniger an
Hartz-IV-Sätzen und Frei-
betragsgrenzen feilen als
an der großen Geschichte,
wie eine freie Gesellschaft
künftig aussehen könnte.
Ihre Thesen werfen auch
die Frage auf, ob Intellek-
tualität der SPD jetzt wei-
terhilft. Schwans gedank -
liche Tiefe tut gut, aber sie
sich in der Werkshalle vor
10 000 VW-Mitarbeitern
vorzustellen ist nicht ganz
einfach. Der große SPD-
Rivale Robert Habeck, der

Star der Grünen, schafft es, über den Din-
gen zu schweben. Insofern würde es der
Sozialdemokratie vielleicht guttun, einen
Gegenentwurf zu präsentieren. Jemanden,
der handfest tickt, schnörkellos spricht,
auch mal zulangt. Boris Pistorius etwa, den
niedersächsischen Innenminister. Oder
Franziska Giffey, die Familienministerin.
Niemand aus dem Elfenbeinturm.
Schwan hält von dieser Theorie gar
nichts. »Brauchen wir bei 13 Prozent für
die Umkehr des andauernden Abwärts-
trends jemanden, der die Politik handfest
im Wedding verkaufen und Kindergarten-
sätze berechnen kann – was immer wich-
tig ist? Oder brauchen wir jetzt jemanden,
der die historische Mission der SPD erklä-
ren und für die Zukunft weiterentwickeln
kann? Ich glaube, vor allem Letzteres.
Und das traue ich mir zu«, sagt sie.
Vier Wochen hat Schwan noch Zeit,
einen Mitstreiter zu finden. Sie ist nicht die
Einzige, die sucht, es ist ein bisschen so, als
wäre die SPD gerade ein Swingerklub. Neu-
lich gab es ein Telefonat zwischen Schwan
und Ralf Stegner, dem stellvertretenden
SPD-Chef, aber beide waren sich am Ende
einig, dass sie sich politisch zu sehr ähneln
und als Duo nicht jugendlich genug wären.
In der SPD blickt man mit gemischten
Gefühlen auf Schwan. Manche sind ge-
nervt von ihrer Chuzpe, andere, wie Ex-
Chef Sigmar Gabriel, halten sie für eine
super kluge Frau. Schwan sei eine »heraus-
ragende Sozialdemokratin«, sagt er. »Ich
habe in meiner Zeit als SPD-Vorsitzender
oft von ihrem wachen Intellekt profitiert,
auch und gerade dann, wenn wir nicht so-
fort einer Meinung waren. Ich kann wirk-
lich nur Gutes über sie sagen.« Aber ob er
sie wählen würde?
Schwan fürchtet sich nicht davor, am
Ende allein dazustehen. Es werde sich
schon ein Tandempartner finden. Und
wenn nicht, dann eben nicht. Die bisheri-
gen Kandidatenpaare Michael Roth und
Christina Kampmann sowie Karl Lauter-
bach und Nina Scheer haben Schwan in
ihrem Plan eher bestärkt als gebremst, je-
denfalls hat sie gewisse Zweifel, ob diese
Duos den Abwärtstrend stoppen können.
Nach dem 1. September würde es richtig
hart. Mehr als 20 Regionalkonferenzen,
eine Tour durch alle Landesverbände.
Steht man das durch in ihrem Alter?
»Klar«, sagt Schwan. Sie habe 100 Par-
teiveranstaltungen in den vergangenen
zwei Jahren absolviert. »So was kann ich
immer. Das macht mir überhaupt keine
Angst.«Veit Medick

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Deutschland

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Gesine Schwans
Karriere in Zitaten
spiegel.de/sp322019schwan
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Der Weg an die SPD-Spitze
Seit 1. Juli


  1. September

  2. Oktober

  3. Oktober

  4. bis 8. Dezember


können Bewerber ihre
Kandidatur für den SPD-
Vorsitz einreichen.

Basisentscheid der rund 430 000
SPD-Mitglieder über den Kandi-
daten oder das Kandidatenteam
für die Parteispitze.

In Berlin kommt der Bundes-
parteitag der SPD zusammen,
um den oder die Gewinner des
Mitgliederentscheids formell
an die SPD-Spitze zu wählen.

Ende der Bewerbungsfrist.
Die Kandidaten sollen sich
danach in Regionalkonferenzen
der Basis präsentieren.

Das Ergebnis der Mitglieder-
befragung wird vorgestellt. Sollte
kein Bewerber über 50 Prozent
der Stimmen erhalten, gibt es
eine Stichwahl zwischen den
beiden Erstplatzierten.
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