Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1
Reichweite. Dann gäbe in Brandenburg
womöglich ein Mann den Ton an, der zum
Gespräch in der linken Landeszentrale
Kinderschokolade mitbringt.
Als seine Partei in Potsdam vor zehn
Jahren in die Regierung eintrat, hatte
Sebastian Walter gerade sein Abitur im
brandenburgischen Eberswalde gemacht.
Jetzt ist er 29 und kellnert in seiner Freizeit
noch immer im dortigen Studentenklub.
Wenn er sich ärgert, sagt Walter: »Das
kotzt mich an.«
Seit Anfang des Jahres ist der Jungpoli-
tiker neben der früheren Lehrerin Kathrin
Dannenberg offiziell Spitzenkandidat der
Linkspartei. Damit kann man zumindest
nicht mehr ganz ausschließen, dass einer
wie Walter im Herbst als brandenburgi-
scher Ministerpräsident vereidigt wird.
Denn die Machtverhältnisse im Land
haben sich dramatisch verschoben. Auch
Sozialdemokraten und CDU haben in der
Wählergunst verloren, und zwar deutlich
mehr als die Linken. Rot-Rot hat praktisch
keine Chance mehr auf eine Mehrheit. Die
beiden Parteien brauchten dann die Grü-
nen, um weiter regieren zu können. Doch
wer weiß schon, ob in so einem Bündnis
die SPD noch den Chef stellen würde.

40 DER SPIEGEL Nr. 32 / 3.8. 2019


Deutschland

Wahlwerbung in Brandenburg: »Wir sind noch immer eine strukturschwache Partei«

Die meisten Meinungsforscher sehen
die Sozialdemokraten zwar noch vor den
Linken, doch in der jüngsten Online -
umfrage von Civey lagen beide Parteien
fast gleichauf. Damit steigt zumindest theo-
retisch die Wahrscheinlichkeit, dass einer
der beiden linken Spitzenkandidaten Re-
gierungschef werden könnte.
Sicher könnte die Partei im Zweifel einen
erfahreneren Genossen aufbieten oder
sogar einer schwächeren SPD den Vortritt
lassen. Aber sollte es tatsächlich Walter
oder Dannenberg werden – er oder sie
käme eher aus Versehen ins Amt. Als sie
im vergangenen November als Spitzenkan-
didaten nominiert wurden, galt das Duo
als Notlösung. Die Linken sind in den ver-
gangenen drei Jahrzehnten von mehr als
40 000 auf inzwischen 5800 Mitglieder
geschrumpft. Ihnen fällt es immer schwe-
rer, Personal zu finden.
Bis zum vergangenen Jahr wurde Diana
Golze als große und vor allem einzige
Hoffnungsträgerin gehandelt, bis die da-
malige Gesundheitsministerin über einen
Pharmaskandal stolperte. Jetzt also sollen
es zwei weitgehend Unbekannte richten.
Kann das gut gehen?
Walter hat in seinen jungen Jahren im-
merhin schon eine steile Karriere hinge-
legt. Jüngster Kreisvorsitzender mit 19,
Linkenvize mit 22, dann der Wechsel zum
DGB als Regionalgeschäftsführer Ost -
brandenburg und damit zuständig für
50 000 Gewerkschafter.
Er kann zuspitzen und gilt deshalb par-
teiintern als der Mann fürs Grobe. Im Juni
kokettierte Walter schon mal öffentlich mit
der Forderung nach Enteignungen im gro-
ßen Stil. Das sorgte für Aufsehen in dem
vergleichsweise konservativen Landesver-
band. Der sei oft zu »unideologisch«, fin-
det Walter. Man habe in der Regierung le-
diglich verhindert, dass die Dinge schlim-
mer werden.
Walter gibt sich keine Mühe, seinen Ehr-
geiz zu verbergen. »Man kann doch sagen,
dass man mehr will«, sagt er. Zu seinen
eigenen Ambitionen sagt er: »Ich kann
jetzt nichts ausschließen.«
Allerdings: Auch die Grünen können
sich Hoffnung auf Platz eins in einem mög-
lichen Mitte-links-Bündnis in Potsdam ma-
chen. Die Grünen? In der Tat spielten sie
in den ostdeutschen Ländern bisher kaum
eine Rolle. Sie waren eine Splitterpartei,
in Brandenburg schafften sie es von 1994
bis 2009 nicht einmal in den Landtag.
Noch vor wenigen Monaten hofften sie,
wenigstens als Juniorpartner in eine Re-
gierung einziehen zu können. Und jetzt
das.
»Mir ist beinahe die Kaffeetasse aus der
Hand gefallen«, sagt Ursula Nonnemacher,
als sie Anfang des Jahres gehört habe, dass
die Grünen auf einmal in Umfragen klar
zweistellig waren. Die 62-Jährige sitzt auf

W


er Brandenburgs Roten einen Be-
such abstatten will, muss in eines
der nobelsten Viertel Potsdams.
In der Nauener Vorstadt reiht sich Villa an
Villa, mittendrin ein Gründerzeitpracht-
bau aus rotem Backstein. Es ist das Lothar-
Bisky-Haus, die Landeszentrale der Lin-
ken seit PDS-Zeiten, benannt nach dem
früheren Parteivorsitzenden.
Die gediegene Bürgerlichkeit passte lan-
ge zu den Genossen, die sich im Osten im-
mer schon mehr als staatstragende Volks-
partei verstanden denn als linksaktivisti-
scher Kampftrupp. Bei der Landtagswahl
2004 holten sie 28 Prozent, seit zehn Jah-
ren regieren sie mit der SPD.
Doch in dieser Zeit ist die Landespartei
regelrecht abgestürzt. Der Aufstieg der AfD
und ihr bräsiges SED-Image brachten die
Linke in Schwierigkeiten, außerdem rumpelt
es immer wieder in der Koalition. Bei der
nächsten Wahl am 1. September drohen ihr
weitere Verluste. In den jüngsten Umfragen
landete sie zwischen 14 und 17 Prozent.
Es klingt absurd, doch ausgerechnet im
Moment des Niedergangs könnte die Villa
Bisky der Ort sein, an dem die Branden-
burger Linken ihren größten Erfolg feiern:
Das Ministerpräsidentenamt scheint in


Ups, wir könnten


gewinnen


ParteienDie einen schrumpfen in Brandenburg seit Jahren, die
anderen spielten lange keine Rolle. Nun könnten ausgerechnet
Linkspartei oder Grüne im Nordosten bald den Regierungschef stellen.

JENS SCHLUETER / EPA-EFE / REX
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