Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1
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M


it diesem Auto würde wohl vor-
erst niemand mehr fahren. Rund
20 000 Bienen hatten sich auf
dem Dach des Opel Astra niedergelassen,
der Besitzer des Wagens stand in sicherem
Abstand ratlos daneben. Die fleißigen Ar-
beiterinnen hatten schon mit den Vorbe-
reitungen zum Wabenbau begonnen: Die
Heckscheibe war mit Tausenden Wachs-
klümpchen überzogen.
»Solche Szenen haben wir in diesem
Sommer immer wieder erlebt«, sagt Hans
Peter Lucht, seit mehr als 30 Jahren Imker
in Hamburg. Die Polizei rief ihn, um die
Tiere einzufangen.
Experten wie er wissen: Werden Bie-
nenvölker zu groß, teilen sie sich. Sie züch-
ten neue Königinnen heran, gleichzeitig
verlässt die bisherige Regentin mit ihrem
Gefolge den Stock, auf der Suche nach
einer neuen Heimat. »Schwärmen« nen-
nen die Fachleute das. »Leider gibt es in
Großstädten kaum ausgehöhlte Baum-
stämme oder andere natürliche Behausun-
gen«, erklärt Lucht. Die Bienen müssten
sich mit dem behelfen, was sie vorfinden:
Ampeln, Verkehrsschilder, Fahrradlenker,
Klettergerüste und Rutschen – oder eben
Heckscheiben von Autos.
Der Imkerverband Hamburg listet auf
seiner Website rund 50 Schwarmfänger
auf. »Sie waren im Dauereinsatz«, sagt die


Vorsitzende Edda Gebel. »Dieses Jahr war
extrem.«
Imkern ist hip. Gerade in den Großstäd-
ten wächst die Zahl der Hobbyimker rasant.
2013 zählte der Deutsche Imkerbund noch
rund 92 000 Mitglieder, innerhalb von fünf
Jahren stieg die Zahl auf mehr als 120 000.
»Wir erleben einen Boom«, sagt Benedikt
Polaczek, Vorsitzender des Imkerverbands
Berlin. »Viele Menschen machen sich Ge-
danken über den Klimawandel, sie sorgen
sich um die Folgen des Bienensterbens und
wollen etwas dagegen tun, das ist toll.«
Unternehmen, Behörden und Hotels er-
richten Bienenkisten auf ihren Gebäuden,
auch auf dem Dach des SPIEGEL-Hoch-
hauses leben zwei Bienenvölker. Zur Ern-
tezeit können Mitarbeiter in der Kantine
hauseigenen Honig kaufen.
2006 übernahm Hans Peter Lucht den
Vorsitz des Imkervereins Rechtes Alster-
ufer. Damals hatte er 52 Mitglieder, »fast
ausschließlich Herren im fortgeschrittenen
Alter«. 13 Jahre später ist der Verein auf
die dreifache Größe gewachsen. Der
nächste Imkereinsteigerkurs, den Luchts
Kollege über elf Abende anbietet, ist
längst ausgebucht. Dabei beginnt er erst
im Frühjahr 2020. »Wir freuen uns über
den Nachwuchs«, sagt Lucht. »Die neuen
Mitglieder sind fast alle jung.«
Doch die Bienenbegeisterung hat Fol-
gen. In Großstädten wie Berlin, Hamburg,
Köln oder München kommt es mittlerwei-
le zu Versorgungsproblemen. »Ist die Lin-
denblüte vorbei, findet ein Teil der Bienen
nicht mehr genug Nahrung«, sagt der Ber-
liner Imker Polaczek. »Es sind einfach zu
viele geworden.« Bienenhalter aus dem
Umland verschärften die Lage zusätzlich.
Die agrarindustrielle Ödnis außerhalb der
Städte macht den Landbienen zu schaffen.
Ist etwa der Raps verblüht, besteht die

Gefahr, dass die Tiere mitten im Sommer
verhungern. Deshalb siedeln Imker ab Mit-
te Juni Hunderte zusätzliche Völker in die
Städte um. Um den Mangel auszugleichen,
füttert mancher Imker seine Tiere mit
Zuckersirup, damit sie nicht geschwächt
in die kalte Jahreszeit starten.
Bei Amazon können Bienenfans ein Im-
ker Starterset bestellen, inklusive Abzieh-
gabel, »Queen-Fänger«, Bienenbürste,
Handbuch und rosa Schutzanzug für die
modebewusste Einsteigerimkerin. Bei
Ebay-Kleinanzeigen gibt es die passenden
Bewohnerinnen: 100 Euro pro Bienenvolk
ohne Kiste, »Königinnen von 2018 + 2019.
Mit Gesundheitszeugnis«.
Manch ein Onlinehändler verschickt die
Tierchen sogar mit der Post, »garantierte
lebende Lieferung«. Wer nicht gleich das
ganze Volk, sondern nur eine bereits träch-
tige Königin erwerben möchte, hat die
Wahl zwischen »standbegattet«, »insel -
begattet« und »künstlich besamt«.
Das Handwerk zu erlernen ist deutlich
komplizierter. Bis zu fünf Jahre dauere es,
bis Anfänger die Techniken des Imkerns
sicher beherrschten, schätzt Hans Peter
Lucht, – etwa wie sie das Schwärmen ih-
rer Bienenvölker verhindern könnten.
Dass in diesem Sommer so viele herren-
lose Tiere in den Innenstädten herum-
schwirrten, habe oft mit mangelndem Wis-
sen, manchmal auch mit Nachlässigkeit
zu tun, glaubt Lucht. »Erfahrene Imker
erkennen, wenn ein Bienenvolk in
Schwarmlaune ist – und können rechtzei-
tig eingreifen.«
Dazu müsse man die Bienenkisten ein-
mal wöchentlich kontrollieren. »Wie viel
Arbeit Imkern sein kann, stellen viele erst
fest, wenn sie mittendrin stecken.«
Manchmal können selbst Experten das
Ausbüxen nicht ganz unterbinden. »Mir
sind dieses Jahr selbst zwei Schwärme
abgezischt«, sagt Alan Zink, seit sechs Jah-
ren Hobbyimker in Hamburg-Wandsbek.
Als Schwarmfänger sammelt er normaler-
weise die Abgänge anderer Imker ein.
Mehr als 50 Anrufe hat er in den vergan-
genen Wochen bekommen. Die eigenen
Völker konnte er innerhalb kurzer Zeit
wieder einfangen. »Zum Glück fliegen die
erst einmal nicht weit«, erklärt Zink, oft
»parkten« die Tiere für einige Stunden in
der Nähe der alten Behausung, um sich zu
orientieren. Bienen seien friedliche Tiere.
»Wenn man sich ruhig verhält, geht von
ihnen keine Gefahr aus.«
Miriam Olbrisch
Mail: [email protected], Twitter: @olbi

LAM NGUYEN TIEN / DER SPIEGEL
Schwarmfänger Zink
»Zum Glück fliegen die nicht weit«

Veränderung
gegenüber
2008

+49,7%

2008 2010 2012 2014 2016 2018


Quelle: Deutscher Imkerbund


Bienenbändiger
Zahl der Imker im Deutschen Imkerbund,
in Tausend


81 83

88

98

108

121

Video
Was tun, wenn die
Bienen schwärmen
spiegel.de/sp322019imkerei
oder in der App DER SPIEGEL

Das große


Schwärmen


TrendsGroßstädter entdecken
das Imkern, weil sie
sich um Klima und Umwelt
sorgen. Doch das
bringt ungeahnte Probleme.

DER SPIEGEL Nr. 32 / 3. 8. 2019

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