Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1
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ie Nacht auf Montag, den 22. Juli 2019, war ruhig in
Augsburg. Das Polizeipräsidium Schwaben Nord mel-
dete einen einzigen Vorfall, Vorgangsnummer 1682,
Überschrift der Polizeimeldung: »Stachelige Einbrecher«.
»Aufmerksame Anwohner verständigten heute Nacht die
Polizei, nachdem sie aus der Grundschule Herrenbach ver-
dächtige Geräusche hörten und außerdem zwei Personen im
dortigen Umfeld wahrnahmen, weshalb auch der Bewegungs-
melder der Außenbeleuchtung angegangen sei«, teilte die
Pressestelle der Polizei mit.
Mehrere Streifen fuhren los. Die Beamten umstellten die
Schule, klingelten den Hausmeister aus dem Bett, erstatteten
Bericht: Der Bewegungsmelder sei durch ein offenes Fenster
ausgelöst worden, welches hin- und
herschwang. »Auch die verdächtigen
Geräusche konnten schnell zugeord-
net werden: Sie wurden verursacht
von einem Igelpaar beim Liebesspiel!«
Der zuständige Hauptkommissar ver-
sicherte, die Streifen seien abgerückt,
ohne die Igel zu stören.
Igel können ziemlich laute Geräu-
sche von sich geben. Im »Handbuch
der Säugetiere Europas«, einem Stan-
dardwerk der Zoologie, heißt es dazu:
»Zum Lautinventar gehören leises
Schnaufen, Fauchen, Knurren und Ke-
ckern bis lautes Schreien.«
Am häufigsten sei »ein hartes, zir-
pendes, etwas pfeifendes ki oder kvi«.
Sowie das erwähnte Keckern. »Bereits
acht Tage alte Tiere keckern. Alle Lau-
te mit hohen Ultraschallanteilen.«
Die Londoner Zoologische Gesell-
schaft hat sich mit dem Paarungsver-
halten von Igeln beschäftigt. Sie fasste
den Forschungsstand im Jahr 1986
zusammen: »Diese Tiere sind poly-
gam und promiskuitiv« – untreu mit
nicht nachlassender Begeisterung. Die
Brunstzeit des Erinaceus europaeus
liegt zwischen Ende April und Ende
August. Da Igelgeräusche für Laien
nicht ohne Weiteres identifizierbar
sind, kommt es in dieser Jahreszeit gelegentlich zu Polizei-
und Feuerwehreinsätzen wie dem in Augsburg.
Erlangen, Juli 2016: Ein Mann hört lautes Schnaufen unter
der Treppe an seinem Hauseingang, er geht von Einbruch
aus und ruft die Polizei.
Kamenz bei Dresden, August 2014: Ein Mann hört laute
Geräusche aus einem Kleidercontainer. Er glaubt, ein Hund
oder eine Katze sei in Not, und ruft die Polizei. Die Polizei
ruft die Feuerwehr. Die Feuerwehr öffnet den Container mit
einem Hydraulikspreizer. Schließlich findet man ein Igelpaar
in einer Nische hinter dem Container.


Tostedt bei Hamburg, August 2013: Ein Mann hört lautes
Stöhnen in seinem Vorgarten und wählt 110. Die Beamten
stoßen im Dunkeln auf ein Igelpaar, laut Polizeibericht »of-
fenbar seit zwei Stunden intensiv mit der Familienplanung
beschäftigt«.
Düsseldorf-Vennhausen, August 2003: Ein Mann hört ver-
dächtiges Klopfen auf dem Nachbargrundstück, zwei Beam-
tinnen rücken aus, durchsuchen das Gelände, melden an die
Leitstelle: »Zwei Igel haben Spaß – und in ein paar Wochen
Nachwuchs.«
Städtische Igel sind eine bedrohte Spezies. Straßen, Zäune
und Mauern zerschneiden ihren Lebensraum, jedes Jahr
sterben in Deutschland Hunderttausende Igel im Straßen-
verkehr. Sie werden durch Rasenmäher, Laubbläser oder
Laub sauger verjagt und mitunter getötet, sie leiden unter
Pestiziden in den Gärten, sie leiden darunter, dass Gärten
selten natur belassen sind. Igel brauchen wilde Sträucher,
Laubhaufen, Ranken als Nestplatz und als Versteck. Wird
ein Igelweibchen mit kleinen Jungen gestört, frisst es oft sei-
nen eigenen Nachwuchs.
Bei einer Tätigkeit lassen sich die Igel allerdings selten aus
der Fassung bringen: beim Liebesspiel. Die Londoner For-
scher berichteten, dass kopulierende Igel unter menschlicher
Beobachtung in der Regel einfach weitermachen.
Das Liebeswerben der Igel, das der
Paarung vorausgeht, ist aufwendig.
Männchen boxen in der Brunstzeit
durch Kopfstöße, unterlaufen den Ri-
valen mit gesträubten Stirnstacheln,
beißen in ungeschützte Stellen. Das
eigentliche Vorspiel heißt bei Zoolo-
gen »Igelkarussell« und wird auf einer
Fläche von etwa 40 Quadratmetern
ausgetragen.
Aus dem »Handbuch der Säugetiere
Europas«: »Die Geschlechter treffen
ein, meist nach intensivem Treiben der
Männchen, die Männchen treiben in
gerader Richtung, beschnuppern das
Weibchen, dies schnauft und wehrt
durch Boxen ab, das Männchen be-
leckt es und bespeichelt sich (Selbststi-
mulierung?), setzt Duftmarken, schach-
tet aus, bespeichelt sich weiter selbst.
Schließlich Paarung mit Aufsteigen des
Männchens auf den Rücken des Weib-
chens, das mit gestreckten Hinterbei-
nen flach auf dem Bauch liegt.«
Es gibt genügend Tiere, die lauter
werden können als Igel: Pistolenkreb-
se zählen dazu, Zikaden, einige Frö-
sche – im Unterschied zu ihnen hören
sich Igel allerdings bei der Paarung
zum Verwechseln menschlich an, zu-
mindest manchmal. Sex im Freien –
und Igelsex ist nichts anderes – weckt auch Sehnsüchte; nicht
jeder, der etwas hört, ruft sofort die Polizei. Sachkundige tau-
schen sich auf Twitter aus, Hashtag #igelsex: »Jedes Jahr das-
selbe. Kaum ist es warm, hört man laut die Igel kopulieren.«
»Im Vorgarten spielen sich lautstark pornöse Szenen ab.
Immerhin ... sie scheinen Spaß zu haben.«
»Igel haben einfach den besseren Sex.«
Oder auch nicht.
»Es klingt«, schrieb ein anderer auf Twitter, »als würde
jemand draußen raue Steine aneinanderreiben.«
Timofey Neshitov

Liebesspiel


Warum Igel im Sommer so häufig
Polizeieinsätze auslösen

Eine Meldung und ihre Geschichte

SHUTTERSTOCK
Igel bei der Paarung

Aus der »Bild«-Zeitung
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