Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1

C


hristian Wulff hat vom Bäcker
drei Teilchen mitgebracht. Eine
Quarkschnecke. Eine Mohnschne-
cke. Und eine Kirschschnecke.
»Haben Sie Hunger?«, fragt er.
Es ist halb drei Uhr nachmittags. Seit
dem Frühstück war er pausenlos unterwegs.
Er hat in seiner Funktion als Vorsitzender
des Stiftungsrats der Deutschlandstiftung
Integration Bundeskanzlerin Angela Mer-
kel und den Vorstandsvorsitzenden des
Axel-Springer-Konzerns, Mathias Döpf-
ner, im Berliner Allianz Forum zu einer
Festveranstaltung empfangen und eine
Rede zum 70. Jubiläum des Grundgeset-
zes gehalten. Später hat er in seinem Alt-
präsidentenbüro für eine Dreiviertelstun-
de mit dem stellvertretenden japanischen
Umweltminister gesprochen, um sich dann
mit dem Dienstwagen zum Hauptbahnhof
fahren zu lassen, wo er den IC 142 errei-
chen musste, der ihn zum nächsten Termin
bringen soll, nach Osnabrück, zurück in
die Stadt, in der er geboren wurde.
Wulff nimmt die Tüte mit den drei
Schnecken. »Welche nehmen Sie? Die
Quarkschnecke? Die Kirschschnecke?
Oder die Mohnschnecke?«
Wulff tritt gern zurück, wo andere wie
selbstverständlich zugreifen würden. Aber
er will auch niemanden zu einer Wahl
zwingen. Er sagt: »Die Schnecke mit dem
größten Risiko für den Redner ist die
Mohnschnecke. Wenn man Pech hat, klebt
der Mohn zwischen den Zähnen.«
Hat man jetzt noch die Wahl?
Er galt immer als ein bisschen zu freund-
lich, zu weich, er war der Mann, der stets
zwei Schritte hinter Angela Merkel ging.
Aber dann wurde er am 30. Juni 2010 pro-
tokollarisch Deutschlands Nummer eins.
Merkel musste nun zu ihm kommen, nicht
umgekehrt, eine Volte der Politik, an die sich
Christian Wulff erst gewöhnen musste.
Nur 598 Tage war er Bundespräsident.
Keiner vor ihm war jünger, keiner war kür-
zer im Amt. Nach seinem Rücktritt am



  1. Februar 2012 wurde 14 Monate lang ge-
    gen ihn wegen des Verdachts der Vorteils-
    annahme ermittelt. Es ging um Urlaubs-
    reisen und Hotelkosten, um die Kreditfi-
    nanzierung seines Hauses und irgendwann
    um ein Bobby Car. Dreieinhalb Monate
    dauerte der Prozess, erst am 27. Februar
    2014, mehr als zwei Jahre nach seinem
    Rücktritt, wurde Wulff freigesprochen.


Er hat einen mutigen Satz hinterlassen,
der ihm damals, mitten in der Debatte
über die islamkritischen Thesen von Thilo
Sarrazin, nicht nur Freunde machte: »Der
Islam gehört inzwischen auch zu Deutsch-
land.« Aber wer fragt ihn heute danach?
Als Altbundespräsident bekommt Wulff
einen Ehrensold von mehr als 200 000
Euro pro Jahr, er hat ein Büro in der Nähe
des Brandenburger Tors, Fahrer, Sicher-
heitskräfte und von der Deutschen Bahn
gratis die Bahncard 100 für die erste Klas-
se. Aber wer einmal Präsident war, ist auch
gefangen. Er kehrt nicht zurück, als Minis-
ter, Ministerpräsident oder Kanzler, er
bleibt Bundespräsident a. D., lebenslang.
Für viele seiner Vorgänger war das kein
Problem. Lübke, Heinemann, Weizsäcker
und Rau waren schon weit über siebzig,
als sie in den Ruhestand gingen. Sie muss-
ten niemandem mehr etwas beweisen.

Als Wulff zurücktrat, war er 52. Jetzt
ist er 60 Jahre alt.
Als Altbundespräsident vertritt er mal
den amtierenden Bundespräsidenten, mal
die Bundeskanzlerin bei Terminen, die sie
nicht wahrnehmen können, wie 2015 bei
der Trauerfreier für den saudischen König
Abdullah oder in diesem Mai bei der Amts-
einführung des neuen ukrainischen Prä -
sidenten Wolodymyr Selenskyj. Wulff ist
Vorsitzender der Deutschlandstiftung
In te gration, Präsident des Deutschen
Chorverbands, Ehrenpräsident des Euro-
Mediterran-Arabischen Ländervereins,
Schirmherr der Deutschen Multiple Skle-
rose Gesellschaft sowie Ehrensenator der
Europäischen Akademie der Wissenschaf-
ten und Künste; nebenher arbeitet er als
Anwalt. Alles ehrenvolle Aufgaben. Aber
in den Zeitungen steht kaum mehr etwas
über ihn und wenn, dann meistens das
Neueste über seine Ehe oder den Freund
seiner Frau.
Wie fühlt sich das an, so früh politisch
beerdigt zu werden? Wie geht es weiter,
wenn alles vorbei ist?

An diesem Nachmittag liegen drei Stun-
den und 17 Minuten Fahrt vor Christian
Wulff, die Zeitspanne benötigt der IC 142
von Berlin Hauptbahnhof nach Osna-
brück. Wulff kennt die Abfahrtzeiten, die
sechs Zwischenhalte, sogar die Anschluss-
verbindungen mit dem Metronom von
Hannover nach Großburgwedel, wo er heu -
te lebt. Die Strecke ist eine Reise rückwärts
durch seine Karriere, von ganz oben nach
unten, dorthin, wo alles begonnen hat.

Berlin Hbf. Ab: 14.34 Uhr.
In Wulffs Abteil sitzen zwei Männer, die er
nicht kennt, sie haben die Fensterplätze re-
serviert, der eine, auf Wulffs Seite, bis nach
Minden, zwei Stationen vor Osnabrück, der
andere über Bad Bentheim an der deutsch-
niederländischen Grenze bis nach Amster-
dam. Wulff hat das auf den Reservierungs-
schildern gelesen. Er beginnt von Bad Bent-
heim zu schwärmen, der Grafschaft Bentheim,
der Obergrafschaft, der Niedergrafschaft,
dem Kloster Frenswegen mit seinem öku-
menischen Dialog. Der Mann, der über Bad
Bentheim fährt, ignoriert das Gespräch.
Irgendwann wendet sich Wulff dem an-
deren Mann zu, der nach Minden fährt.
Wulff: »Wie geht’s Melitta?«
Der Mann schaut ihn an.
Wulff: »Ist das nicht das Vorzeigeunter-
nehmen in Minden?«
Mann: »Ich bin bei der BG Bau.«
Wulff: »Ah, bei der Berufsgenossen-
schaft?«
Mann: »Genau. Da ist ’ne Tagung in
Bad Oeynhausen.«
Wulff: »Schwarzarbeit bekämpfen?«
Mann: »Nee, es geht um medizinische
Fragen.«
Wulff: »Sind Sie Mediziner?«
Mann: »Nee, ich bin in der Rechtsabtei-
lung.«
Er ist es jetzt, der den Leuten Fragen
stellt, nicht umgekehrt.
Als er Bundespräsident war, wussten
alle fast alles über ihn. Sein Lieblingsessen
(»Pasta in allen Variationen«), sein Lieb-
lingsduft (»Orange Verte« von Hermès),
sein Lieblingssong (»Apologize« von One
Republic). Er und seine Frau Bettina füll-
ten Fragebögen aus und produzierten Bil-
der wie sonst nur die Guttenbergs. Irgend-
wann verlor er die Kontrolle. Er musste
dann mehr als 400 Fragen beantworten,
zur Finanzierung seines Einfamilienhauses

DER SPIEGEL Nr. 32 / 3. 8. 2019 49


a. D.

KarrierenVor sieben Jahren trat Christian Wulff als Bundespräsident zurück. Er war 52 Jahre
alt. Wie geht es weiter, wenn alles vorbei ist? Von Marc Hujer

Gesellschaft

»Christian war
vielleicht unbeholfen,
aber er ist doch kein
Verbrecher gewesen.«
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