Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1
Gesellschaft

in Großburgwedel, der sogenannten Klin-
kerhölle mit der orangefarbenen Sicher-
heitstür, zu seinen Reisen nach Sylt und
nach München, zur Nagelpflegerin seiner
Frau, zu seinem Verhältnis zu dem kürz-
lich verstorbenen Filmproduzenten David
Groenewold und zum Bobby Car seines
Sohnes, das ihm von einem Berliner Auto -
haus zugeschickt worden war.
Christian Wulff ist Jurist. Er zieht Sach-
bücher Romanen vor und arbeitet Texte
gern mit dem Leuchtstift durch. Ein An-
waltskollege habe ihm das
achtzeilige Lesen beigebracht,
um ergebnisorientiert lesen
zu können, sagt Wulff. »Sie
müssen dabei nur nach den
Substantiven und den Verben
schauen, dann wissen sie im
Grundsatz schon, worum es
geht. Nur die Zitate müssen
Sie einzeilig lesen.«
Er wusste immer sehr viel,
auch über weniger wichtige
Dinge, den Unterschied zwi-
schen kalendarischem und
meteorologischem Frühlings-
anfang etwa oder über die
Tatsache, dass die Flasche des
fränkischen Bocksbeutels ein
neues Design bekommen hat.
Aber was weiß er über sich?
Nach seinem Rücktritt hat
Wulff Freunde verloren und
manche gewonnen, unter ih-
nen den Drogerieunterneh-
mer Dirk Roßmann. Wulff ist
mit ihm oft gewandert, durch
die Lüneburger Heide oder
den Harz. Roßmann, sagt er,
gehöre heute zu seinen engs-
ten Freunden.
Roßmann vergleicht Wulffs
Präsidentschaft mit dem ers-
ten Wimbledon-Sieg von Bo-
ris Becker. »Als Boris Becker
mit 17 Wimbledon gewonnen
hat, war das nicht das große
Glück, sondern der Moment,
in dem die Probleme begon-
nen haben. So war das bei
Christian auch.«
Wulff, sagt Roßmann, sei
ihm »formal und sehr struk-
turiert« vorgekommen, als er
ihn kennengelernt hatte. »Ei-
nen wahren Zugang zu seinen
wirklichen Gefühlen hatte er
damals nicht. Er war sehr dis-
zipliniert, kopfgesteuert und
sprach häufig in Man-Form.
Er versteckte sich vielleicht
zu häufig hinter solchen Vo-
kabeln wie ›man‹, statt dass
er klar und deutlich sagte,
was ihn stört und für was er
kämpft.«


Roßmann hat Wulff viel zugehört, aber
auch Ratschläge gegeben.
»Mach ’ne Ich-Aussage«, riet er. »Wenn
ich finde, dass du ein Idiot bist, sage ich:
Du bist ein Idiot. Ich sage nicht: Man fin-
det, du bist ein Idiot.« In gewisser Weise,
sagt Roßmann, habe ihn Wulff an Fürst
Myschkin erinnert, eine Romanfigur Dos-
tojewskis, der von der Gesellschaft geäch-
tet wurde, weil er sich nicht wie ein richti-
ger Mann verhalten hatte. »Christian war
vielleicht unbeholfen, er hat vielleicht

auch tapsige Fehler gemacht, aber er ist
doch kein Verbrecher gewesen.«
Nach seinem Rücktritt, sagt Roßmann,
habe sich Wulff verändert. »Christian hat
in den letzten sieben Jahren sehr viel von
seinen Kindern gelernt. Er ist entspannter,
humorvoller, kurz gesagt: sensibler und
menschlicher geworden.«
Wulff hat angefangen, Romane zu lesen,
sogar einen von Michel Houellebecq, »Se-
rotonin«, »den schrecklichen letzten, den
unanständigen, der ist richtig schlimm«,
sagt Wulff. Eine Empfehlung
Roßmanns. »Das Buch kön-
nen Sie aber 16-zeilig lesen«,
sagt Wulff, »dann sparen Sie
sich den ganzen Schwein-
kram.«
Er las sogar Bücher, in
denen er sich selbst wieder -
erkannte. Den »Proceß« von
Franz Kafka etwa, in dem es
um eine albtraumhafte Will-
kürjustiz geht. Oder »Die ver-
lorene Ehre der Katharina
Blum« von Heinrich Böll, ein
Buch, in dem eine junge Frau
das Opfer einer Medienkam-
pagne wird. »Es ist eins zu
eins, was ich erlebt habe. Mir
haben zwar alle gesagt: Sag
das nicht, du hast deine Ehre
nicht verloren, aber wie man
in diesen Strudel reingerät,
dass alles irgendwie ausgelegt
wird und dass alles merkwür-
dig erscheint, das habe ich ge-
nauso erlebt.«
Er sagt, er habe zudem psy-
choanalytische Bücher gele-
sen. Ihm sei klar geworden,
dass er sich nicht als Opfer zu
sehen habe, sondern »als han-
delnder Akteur«.

Hannover Hbf. An: 16.36
Uhr. Ab: 16.40 Uhr.
Als der Zug Hannover er-
reicht, sagt Wulff: »Mal se-
hen, ob es jetzt noch voller
wird, wenn die Abgeordne-
ten aus dem niedersächsi-
schen Landtag einsteigen.«
Abgeordnete im Rudel nei-
gen zur Prahlerei, er hat das
nicht unbedingt in guter Er -
innerung. Seine Kollegen hat
er früher regelmäßig ermahnt.
»Das hat möglicherweise
mein Image geprägt, dass ich
ein bisschen steif bin«, sagt
Wulff.
Er hat unter diesem Bild
lange gelitten. Für Gerhard
Schröder, der gegen Wulff
zwei Landtagswahlen ge-
wann, blieb er immer das

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Im Leipziger Rathaus

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