Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1
ner Herr, also ging für mich das Leben erst
mit dreißig los.«

Osnabrück Hbf. An: 17.51 Uhr.
Wulff steht auf dem Bahnhofsvorplatz. Ge-
rade hat er sich dazu entschlossen, etwas
später zur Sitzung der Universitätsgesell-
schaft zu kommen, um noch ein bisschen
durch Osnabrück zu spazieren. Früher hät-
te er sich das nicht erlaubt.
In seiner Rede spricht er darüber, wie
nach dem Krieg Millionen Vertriebene in-
tegriert werden mussten; über die deut-
sche Einheit; darüber, dass der jungen Ge-
neration jetzt das Zusammenleben mit den
Menschen mit Zuwanderungsgeschichte
in unserem Land gelingen muss.
Es geht aber auch um Angela Merkel.
Wenn man Wulff begleitet, vergeht kaum
ein Tag, an dem er sie nicht erwähnt.
Wenn er mit anderen für ein Gruppen-
foto zusammensteht und der Fotograf nicht
zum Schluss kommen will, sagt Wulff:
»Spätestens jetzt sagt Frau Merkel: Schöner
werden wir nicht.« Oder wenn auf einem
Bild nur Männer zu sehen sind: »Das Foto
darf Frau Merkel aber nicht sehen. Frau
Merkel schimpft immer, wenn auf dem
Foto nur Männer zu sehen sind.« Gern
erzählt er die Geschichte eines Dialogs
zwischen Merkel und ihm, aus der Zeit, als
er noch Bundespräsident war.
»Angela«, habe er gesagt, »ich habe es ja
eigentlich immer besser als du gehabt. In
der Türkei hatte ich mit Gül zu tun. In Russ-
land mit Medwedew. In Ungarn mit Schmitt.
Du hast Erdoğan in der Türkei. Putin in
Russland. Und Orbán in Ungarn. Ich hatte
es immer mit den netteren Leuten zu tun.«
»Und was sagt das jetzt über mich?«,
habe Merkel gefragt.
Ende April war Wulff drei Tage lang in
Istanbul, er hat seinen »alten Freund Ab-


dullah Gül« sowie den mittlerweile neu
gewählten Istanbuler Oberbürgermeister
Ekrem Imamoğlu getroffen, für das gegen-
seitige Verständnis der Religionen geworben
und vor einem Ende der Demokratie unter
Präsident Erdoğan gewarnt. In Deutschland
führt er vertrauliche Gespräche mit Minis-
terpräsidenten, damit sie, wie er das nennt,
»den Reichtum der Menschen mit Zuwan-
derungsgeschichte erkennen«. Er hat das
Gefühl, dass Leute wie er heute mehr als
früher gebraucht würden. 2010, sagt er, hät-
ten 60 Prozent der Deutschen seinem Satz
über den Islam zugestimmt, heute seien es
nur noch 40 Prozent. Während andere
schwach wurden, auch in seiner Partei, ver-
teidigt Wulff seinen Satz. In gewisser Weise
führt er seine Präsidentschaft einfach weiter.

Großburgwedel
Im vergangenen Jahr hat sich Christian
Wulff in Großburgwedel ein Haus gebaut,
einen Klinkerbau. In Großburgwedel muss
man in bestimmten Vierteln klinkern, das
schreibt die Bauvorschrift vor. In Großburg-
wedel ist sein Leben verdichtet auf einen
»Durchmesser von 400 Metern«, wie Wulff
es nennt. Hier sind ein Feinkostladen und
ein Edeka, in denen er einkauft, sein
Stamm italiener, die Trattoria Pasta è Vino,
die er gern mittags besucht, wenn seine Kin-
der von der Schule kommen, hier ist die
Grundschule seines Sohnes Linus und das
Gymnasium von Bettinas Sohn Leander,
den er wie seinen eigenen Sohn behandelt.
Es gibt Leute, die sich wundern, warum
er hiergeblieben ist, nach allem, was pas-
siert ist, vor allem, was seine Ehe mit Bet-
tina betrifft. Sie hat nicht nur ein Buch
über die gemeinsame Zeit veröffentlicht,
in dem Dinge über ihn stehen, die nie-
mand über sich lesen möchte, sie hat ihn
inzwischen erneut verlassen, für den Mu-

siklehrer ihrer Kinder, mit dem sie nun zu-
sammen in Großburgwedel lebt. Aber für
Wulff kam es nie infrage wegzugehen, er
hätte es als Flucht empfunden. Wenn er
von Bettina Wulff spricht, sagt er noch im-
mer »meine Frau«.
Die Romanistin Natascha Ueckmann ist
seine jüngere Halbschwester, sie haben die-
selbe Mutter, aber unterschiedliche Väter.
Sie sagt: »Wir haben eine komplizierte Fa-
miliengeschichte. Christian hat sich sehr
früh etwas sehr Vernünftiges zugelegt, was
auch mit dem Chaos in unserer Familie zu
tun hatte. Er hat sich immer gefragt: Wie
behält man einen klaren Kopf auf schwan-
kendem Boden?«
Christian Wulff war zwei Jahre alt, als
sich seine Mutter von seinem Vater trenn-
te, danach war die Familie gespalten in
zwei feindliche Lager. Wulffs ältere Schwes -
ter Elisabeth zog später zum Vater, Wulff
blieb bei der Mutter. »Unsere Familie war
alles andere als integrativ, sie war von Spal-
tung geprägt. Christian musste seinen Va-
ter heimlich sehen.« Deshalb sei für Chris-
tian eine enge Beziehung zu seinen Kin-
dern so wichtig.
Wulff hat einen Tisch in der Trattoria
Pasta è Vino reserviert, später kommen
seine beiden Söhne dazu. Er sagt ihnen,
sie sollten etwas bestellen, »das der Papa
nicht kann«, zum Beispiel Gemüse.
Sie bestellen Pizza und Pasta.
Dann reden sie über die letzten Tests,
den Elternabend beim FC Burgwedel und
die neue Wasserlandschaft, die im Erleb-
nispark Rust eröffnet werden soll.
»Wenn Sie Ihren Kindern mal etwas
ganz Gutes tun wollen, müssen Sie da un-
bedingt hinfahren«, sagt Wulff. Es gebe da
alles, für Große und Kleine, für Mutige
und weniger Mutige. Der ältere Sohn zum
Beispiel nehme immer den Megacoaster
»Blue Fire«, eine Achterbahn mit mehre-
ren waghalsigen Loopings. Er dagegen ver-
schwinde mit dem jüngeren Sohn lieber in
»Grimms Märchenwald«.
Er überlegt dann, wo man ein Foto ma-
chen könnte, das im SPIEGELerscheinen
kann.
Vor seinem alten Haus, der sogenann-
ten »Klinkerhölle«? Unmöglich.
Vor seinem neuen Haus? Auf keinen Fall.
Auf dem Weg durch Großburgwedel,
gegenüber vom Edeka, wo er immer seine
gelben Säcke abholt, entdeckt er eine ge-
klinkerte Bushaltestelle.
Er setzt sich. Er lächelt.
»Das ist jetzt unser Bild«, sagt er, »eine
Klinkerhöllenbushaltestelle.«

52 DER SPIEGEL Nr. 32 / 3. 8. 2019

Gesellschaft

SONJA OCH / DER SPIEGEL
Fußballfan Wulff in Osnabrück: Diszipliniert und kopfgesteuert

Video
Unterwegs mit dem
Bundespräsidenten a. D.
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