Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1
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M


itte des Monats rief mich mein Sohn an und sagte,
er habe beobachtet, wie eine Berliner Polizeistreife
unser Nummernschild von der Straße aufgehoben
habe und damit weggefahren sei. Seitdem wir in Tel Aviv
leben, betreut der Junge das Auto. Gerade allerdings saß
meine Frau im Wagen. Wir waren zum Sommerurlaub in
Deutschland. Ich dachte, dass mein Sohn ziemlich dicht dran
gewesen sein musste, um zu erkennen, dass es wirklich unser
Schild war. Wir haben es vor 13 Jahren bekommen, als wir
von New York nach Berlin zogen. Es beginnt mit B wie Ber-
lin, dann folgt NY für New York und die Nummer 718, was
unsere Telefonvorwahl für Brooklyn war. Es wirkt inzwi-
schen ein wenig albern, aber damals war uns das wichtig.
Es hielt die Welt zusammen. Am Ende funktioniert das
natürlich nie. Meine Frau
fuhr schildlos durch Berlin.
Ich stand in der Straßen-
bahn. Ich nehme an, mein
Sohn wusste, dass das
Nummernschild bereits
gewackelt hatte. Er war si-
cher gegen irgendetwas ge-
fahren. Ein leichter Bums
beim Einparken. Hat er bei
mir gelernt.
»Wieso hast du den Poli-
zisten nicht gesagt, dass es
unser Schild ist?«, fragte ich.
»Es ging so schnell«, sag-
te er.
»Und jetzt?«, fragte ich.
»Ich bin auf dem Weg
zum Melt«, sagte mein
Sohn. Melt ist ein Musik-
festival in einem ehema -
ligen ostdeutschen Tagebau bei Bitterfeld. Es dauert mehrere
Tage.
»Bon Iver spielt«, sagte mein Sohn. Ich mag Bon Iver, und
er weiß das. Er schien etwas in Eile zu sein und wollte in Frie-
den scheiden. Ich verstand das. Als ich so alt war, wie mein
Sohn es jetzt ist, habe ich den Wartburg meines Vaters demo-
liert. Damals war das wirklich eine Katastrophe. Man wartete
14 Jahre auf so ein Auto. Mein Vater hat mir nie einen Vorwurf
gemacht. Er hat die zertrümmerte Fahrertür mit einem Seil
zugebunden, während uns andere Fami lienväter aus den
Fenstern unseres Neubaublocks beobachteten.
»Viel Spaß«, sagte ich.
Ich würde Urlaubszeit in der Berliner Bürokratie verbrennen,
dachte ich. Als ich vor vielen Jahren ein Nummernschild in
Brooklyn beantragte, stand ich vier Stunden an. Dann sagte
mir eine Beamtin, dass ich zu wenige »pieces of ID« hatte. Ich
hatte fünf, brauchte aber sechs. Ich appellierte an den gesunden
Menschenverstand. Die Beamtin berief sich auf die Ordnung.
»It’s a rule, Sir.« Am Ende behandelte sie mich wie einen Kran-
ken, einen gefährlichen Kranken. Entfernen Sie sich vom Schal-
ter! Ich ging nach Hause, holte die Mitgliedskarte der Videothek,
wartete noch mal drei Stunden und bekam das Nummernschild.
Das Telefon klingelte.


Es war ein Nachbar aus unserem Berliner Haus. Er hatte
gerade drei Polizisten getroffen, die ein Nummernschild bei
unserer Berliner Adresse abgeben wollten. Dort lebt vorü-
bergehend eine australische Familie. Mein Nachbar sagte den
Polizisten, wir seien nach Israel gezogen, wohnten allerdings
zufällig für ein paar Tage in der Wohnung anderer Nachbarn
im ersten Stock, die wiederum gerade in Spanien Urlaub
machten.
Das genügte. Die Polizisten händigten unserem Nachbarn
das Num mernschild aus. Juti.
Dafür liebe ich die Berliner Polizei. Ein Mann mit weißem
Bart erzählt eine weltumspannende Geschichte zu einem
herrenlosen Nummernschild, aber sie werden nicht miss -
trauisch, sie werden locker.
Die Berliner Polizei wird immer mal kritisiert, grundsätz-
lich aber mag ich Gegenden, in denen man mit der Polizei
diskutieren kann, ohne verhaftet zu werden. Anders als Alice
Weidel und Donald Trump glaube ich nicht, dass harte Regeln
automatisch zu mehr Sicherheit führen. In Nevada musste
ich mal mitten in der Wüste aus meinem Auto steigen, weil
ich zu schnell gefahren sein sollte. Es gab keinen Beweis, nur
den Cop mit der Sonnenbrille. Es war sehr heiß, bis zum
Horizont sah man keine anderen Autos. Ich musste sehr, sehr
vorsichtig meine Papiere
aus der Tasche ziehen. Sie
hätten eine Knarre sein
können. Das hat mich nicht
beruhigt.
Mein Nachbar stellte un-
ser Nummernschild in den
Schirmständer vor seiner
Tür. Dann ging er mit seiner
Frau im Park spazieren. Ich
fand das Schild und wartete
damit vor dem Haus auf die
Rückkehr meiner Frau. Ein
Mann mit einem Schild. Als
sie da war, legte ich das
Schild auf das Armaturen-
brett unseres Autos.
Meine Frau sagte, so fah-
re sie mit mir nicht. Ich er-
innerte sie daran, dass wir
vor ein paar Jahren monate -
lang mit einem alten Volvo durch Berlin und Brandenburg
gefahren waren, dessen Beifahrer-Airbag aus dem Armatu-
renbrett hing, nachdem ich in Potsdam in einen leichten
Auffahr unfall geraten war. Ich hatte die Stelle mit einer auf-
gefalteten »Süddeutschen Zeitung« abgedeckt. An einem
Abend stoppte uns eine Streife auf der Greifswalder Straße.
Es war spät, wir kamen von einer Party. Ich hatte ein Glas
Wein getrunken. In Nevada hätte ich vielleicht versucht zu
flüchten. In Berlin kurbelte ich mein Fenster herunter und
sagte dem Polizisten Guten Abend.
Er sah sich im Auto um und ließ sich die Papiere geben. Mei-
ne Frau lächelte ihn an. Der Airbagzipfel berührte ihre Knie.
Wie sich rausstellte, war unser TÜV abgelaufen.
»Bringen Sie das in Ordnung«, sagte der Polizist. »Gute
Weiterfahrt.«
Eine Woche später, vielleicht auch zwei, verkaufte ich den
kaputten Volvo für 900 Euro an einen Serben in Tempelhof.
Ich machte ein Abschiedsfoto und kaufte in Braunschweig
einen gebrauchten Mercedes. Alles, was wir behalten haben,
ist die alte Nummer. Sie stand auf dem Schild, das jetzt vorn
auf dem Armaturenbrett lag. Damit fuhren wir nach Bran-
denburg, ins Bundesland, in dem die AfD Chancen hat,
stärkste Kraft zu werden. Als Botschafter der Lockerheit.

Juti


LeitkulturAlexander Osang über Recht und
Ordnung in der deutschen Hauptstadt

ALEXANDER OSANG / DER SPIEGEL
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