Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1

S


ieben Jahrzehnte lang bewegte
sich der große Treck der Deut-
schen von Ost nach West. Nach
dem Krieg flohen die Bürger vor
der Diktatur, nach dem Mauerfall vor der
Arbeitslosigkeit.
Nun ebbt der Strom ab, er kehrt sich so-
gar um. Erstmals seit Generationen.
Inzwischen wandern mehr Menschen
vom West- in den Ostteil der Republik als
umgekehrt. Viele von ihnen sind Ostdeut-
sche, die nach einigen Jahren in den alten
Bundesländern dorthin zurückkehren, wo
sie aufgewachsen sind, wo ihre Eltern le-
ben, wo es so riecht wie in der Kindheit.
Die Chemnitzerin Nicole Lehmann hat
den Geruch noch in der Nase. In ihrem
Pass steht als Geburtsort Karl-Marx-Stadt,
1983 ist sie dort, im heutigen Chemnitz,
zur Welt gekommen. Nach dem Abitur
folgte sie ihrem Freund in den Westen,
nach Ludwigsburg. Sie arbeitete im Mar-
keting, bekam einen Sohn – richtig ange-
kommen sei sie dort aber nie, sagt sie. Die
Schwaben seien freundliche Leute, und
doch: »Ich habe mich, ehrlich gesagt, viele
Jahre ziemlich heimatlos gefühlt.«
Heute lebt Lehmann wieder in Chem-
nitz, sie leitet die Personalabteilung von
Terrot, einem Hersteller von Rundstrick-
maschinen. Nach der Trennung von ihrem
Mann wagte sie vor drei Jahren den Neu-
start in der alten Heimat. Lehmann, blon-
de Haare, exakter Scheitel, erinnert sich
daran, wie damals ihr Leben eine neue
Richtung nahm: zurück in die Zukunft.
An dem Wochenende, als sie den Eltern
ihren Rückkehrentschluss mitteilte, sei sie
durch das Viertel gelaufen, wo sie aufge-
wachsen war, das Heckertgebiet, eine Plat-
tenbausiedlung. »Mit einem Mal war alles
wieder da«, erzählt sie, die Erinnerung an
die Gerüche von früher, auf der Straße,
am Spielplatz, im Kindergarten. Heute
sagt sie: »Wäre ich immer in Chemnitz
geblieben, würde ich die Stadt nicht so
schätzen können.«
Rüber in den Westen und dann wieder
retour: Diesen Weg schlägt eine wachsen-
de Zahl von Ostdeutschen ein, die ihr
Glück in den alten Ländern suchten – und
es dort nicht fanden. Der jahrzehntelange
Exodus scheint gestoppt, jetzt kommt
gewissermaßen der Rexodus in Gang.
Zwischen 1991 und 2017 zogen rund
3,7 Millionen Bürger aus dem Osten fort.


Im selben Zeitraum kamen 2,5 Millionen
aus dem Westen in die neuen Bundesländer.
Unter dem Strich büßten die ostdeutschen
Flächenländer somit rund 1,2 Millionen
Einwohner ein und damit auch Arbeits-
kräfte und Steuerzahler. Verloren gingen
Fachkräfte, die heute dringend gebraucht
werden. Es verschwand zwar keine ganze
Generation, wie manchmal behauptet
wird, doch wer fortzog, war häufig beson-
ders qualifiziert, ambitioniert und mobil,
geografisch wie geistig.
Die erste Welle startete gleich nach der
Wende. Damals waren es überproportio-
nal viele junge Frauen, die in die alten Län-
der zogen und dem Osten verloren gingen.
Eine zweite Hochphase folgte in den Nul-
lerjahren, als die Arbeitslosigkeit im Osten
auf Rekordhöhe schnellte. Die Bürger, ge-
rade die jüngeren, verließen insbesondere
die peripheren Lagen Ostdeutschlands.
Auf der Suche nach Wohlstand im Westen
zog es sie vor allem nach Bayern oder
Baden-Württemberg.
Seit einigen Jahren nun schwindet die
Anziehungskraft, die der Westen ausgeübt
hat. Die Zahl der Fortzügler ist merklich
geschrumpft, gleichzeitig wächst die Zahl
der Rückkehrer. Das Bundesinstitut für Be-
völkerungsforschung notiert in seiner Mi-
grationsbilanz für 2017 erstmals ein Ost-
Plus von rund 4000 Bürgern; den größten
Zulauf erleben Sachsen und Brandenburg.
Dies sei kein Ausreißer, so die Wissen-
schaftler, sondern eine Trendwende. Das
bedeutet allerdings nicht, dass gebürtige

Ostdeutsche nun in Scharen zurückkehr-
ten. Wer bereits länger im Westen ist, der
hat in der Regel Fuß gefasst und bleibt
meistens auch dort.
Aktuelle Zahlen, wie viele der Ostzu-
zügler tatsächlich Rückkehrer sind, gibt es
nicht. Doch laut einer Erhebung des Insti-
tuts für Arbeitsmarkt- und Berufsfor-
schung sind von den rund 324 000 Ostbür-
gern, die zwischen 2000 und 2012 in die
alten Länder übersiedelten, nur rund
53 000 wieder zurückgegangen, das ist je-
der Sechste. Diese Gruppe verbrachte im
Schnitt 3 Jahre im Westen. Wenige Rück-
kehrer hielten sich dort länger als 5 Jahre
auf, die Chemnitzerin Lehmann entschloss
sich sogar erst nach 13 Jahren zur Rück-
kehr in die Heimat.
Die Trennung vom Mann spielte eine
wichtige Rolle. Lehmann suchte eine neue
Perspektive für sich und ihren kleinen Sohn –
aber nicht in Baden-Württemberg. Dort ha -
be sie für die Betreuung des Kindes 890 Eu -
ro im Monat gezahlt. »Von meinem Gehalt
blieb nur ein Taschengeld übrig«, sagt sie.
In Chemnitz, das wusste sie, konnte sie
auf ihre Familie zählen. Für Chemnitz
sprach auch, dass dort vieles billiger war:
der Platz im Kindergarten, das Brötchen
beim Bäcker oder die Wohnung am Kass-
berg, einem Viertel mit prachtvollen Grün-
derzeitvillen: 6,50 Euro Kaltmiete zahlt
sie dort pro Quadratmeter.
Lehmanns Beweggründe decken sich
mit dem, was eine Studie aus Brandenburg
über die Motive von Rückkehrern heraus-
gefunden hat. Die meisten sind einst weg-
gezogen, um im Westen Ausbildung und
Arbeit zu finden. Zurückgekehrt seien sie
nicht, weil sie beruflich gescheitert seien,
gaben die Befragten an. Vielmehr seien sie
im Westen nie richtig heimisch geworden
und suchten wieder die Nähe zu Familie
und Freunden. Dafür nehmen sie auch Ab-
striche in Kauf, beim Einkommen zum Bei-
spiel oder der Erreichbarkeit von Ärzten.
In den Westen wegen der Arbeit, aus pri-
vaten Gründen zurück, das ist das typische
Muster der neuen West-Ost-Wanderer. »Sie
gehen allein weg und kommen als Familie
wieder«, sagt Sandra Spletzer vom Netz-
werk »Ankommen in Brandenburg«.
Spletzer koordiniert verschiedene Bran-
denburger Initiativen, die Bürger beraten,
die an Rückkehr oder Zuzug interessiert
sind. Auf die Idee kämen sie, »wenn sie

56 DER SPIEGEL Nr. 32 / 3. 8. 2019


Wirtschaft

Rüber und retour


Deutscher Osten ISeit der Wende lautete für Millionen Ostdeutsche die Devise »Go West«,
dort waren die Jobs. Jetzt kehren erstmals mehr Bürger in die neuen Länder zurück als

fortziehen – weil die Sehnsucht nach der Familie groß ist und Fachkräfte dringend gesucht werden.


Auf Augenhöhe
Umzüge zwischen den alten und neuen
Bundesländern (ohne Berlin), in Tausend
von Ost nach West

von West nach Ost

1991 2000 2010 2017

Quelle: Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung

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