Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1

an Kreuzungen des Lebens stehen«, sagt
die Beraterin, wenn runde Geburtstage an-
stünden oder ein Kind unterwegs sei. Dann
stellten sie sich die Frage, wo sie in nächs-
ter Zeit leben wollen oder die Kinder auf-
wachsen sollen, im Westen oder im Osten.
Dies sei die größte Gruppe unter den
Rückkehrern, Männer und Frauen Anfang
dreißig, die gerade eine Familie gründeten.
Ein zweiter Typus sei um die Fünfzig und
kehre zurück, um sich um die alten Eltern
zu kümmern oder in deren Haus zu ziehen,
hat Spletzer beobachtet. Eine dritte Grup-
pe bestehe aus Senioren, die in die altver-
traute Umgebung zurückgingen, um dort
ihren Lebensabend zu verbringen.
Viele ostdeutsche Städte bieten den
Rückkehrwilligen Hilfe an, allein in Bran-
denburg gibt es rund ein Dutzend Initia -
tiven. Sie unterstützen bei der Suche nach
Wohnung oder Job, organisieren »Coming
Home«-Partys, verteilen Flyer mit Sprü-
chen wie »Mach Mutti glücklich, komm
zurück!« oder organisieren einen Rückkeh-
rertag, meist am 27. Dezember. An diesem
Tag sind viele Weggezogene auf Familien-
besuch zu Hause, eine Chance, ihnen die
Vorzüge der Heimat nahezubringen.
Die Chemnitzer Wirtschaftsförderungs-
gesellschaft hat im vorigen Dezember so-
gar einen ICE gechartert, um für die Region
zu werben. Potenzielle Rückwanderer
konnten in Nürnberg zusteigen und sich
während der Reise über Karrierechancen
in Sachsen informieren. »Chemnitz zieht
an« heißt die Kampagne, sie wird von
rund 120 Unternehmen unterstützt.
Die Stadt ist ein traditionsreicher Tech-
nologiestandort, einige Autozulieferer und
Maschinenbauer sind in der Gegend ansäs-
sig. Vielen Mittelständlern fehlen qualifizier -
te Kräfte, sie hoffen, dass Westrückkehrer
helfen können, die Lücken zu schließen.
Vor wenigen Jahren noch waren solche
Personalengpässe kaum vorstellbar. Nach
der Wende schnellte die Arbeitslosigkeit
in den neuen Ländern in die Höhe, zwi-
schen 1991 und 2004 verdoppelte sich die
Quote von 10,2 auf 20,1 Prozent. Die Un-
ternehmen hatten unter den Bewerbern
die freie Wahl. Jetzt ist es fast umgekehrt.
Bei einer Arbeitslosenrate von weniger als
sieben Prozent können viele Firmen va-
kante Stellen nicht besetzen.
Es fehlen nicht nur die Erwerbstätigen,
die nach dem Mauerfall in den Westen ge-
gangen sind. Es klafft auch eine Lücke in
der jüngeren Generation. Nach 1990 ist
die Geburtenrate im Osten eingebrochen,
die Jahrgänge, die heute ihre Karriere star-
ten, sind ausgedünnt.
Personalchefin Lehmann erlebt es in
ihrer täglichen Arbeit, wie schwierig das
Rekrutieren von Nachwuchs geworden ist.
Sie selbst habe nach dem Abitur in Chem-
nitz im Jahr 2001 noch Hunderte Bewer-
bungen schreiben müssen, um eine Lehr-


stelle zu ergattern, erinnert sich Lehmann.
Bei ihrer Rückkehr vor drei Jahren dage-
gen sei es schon kein Problem mehr gewe-
sen, einen guten Job zu finden.
Die ostdeutsche Wirtschaft hat in den
vergangenen Jahren eine Stärkephase er-
lebt, es gab genug Aufträge, knapp war
nur das Personal. Der Fachkräftemangel
ist im Osten zur echten Wachstumsbremse
geworden, und er verändert das Profil der
Betriebe. Es kommen zu wenige Jüngere
nach, die Belegschaften werden älter.
Bei PSFU, einer Präzisionsschleiferei in
Wernigerode im Nordharz, sind die Mit-
arbeiter heute im Schnitt 46 Jahre alt – frü-
her habe der Wert unter 40 gelegen, sagt
Geschäftsführer Nils Appelt. Damals habe
die Firma noch 15 bis 20 Bewerbungen auf
ihre zwei Ausbildungsplätze bekommen.
Jetzt seien sie froh, wenn sie überhaupt
jemanden fänden, der Zerspanungsfach-
arbeiter lernen wolle.
PSFU fertigt Präzisionswerkteile, sie
werden etwa in Satelliten benötigt. Appelt
kann gut verstehen, wenn junge Leute von
zu Hause weggehen wollen, er selbst hat
es so gemacht, als junger Mann war er eine
Zeit lang im Ausland. »Sie sollen sich erst
mal die Hörner abstoßen«, sagt er – wenn

sie denn später nur wiederkämen. Das
aber tun die wenigsten.
Bei der Personalsuche richtet Appelt sei-
ne Hoffnung nun gezielt auf Westpendler
und darauf, dass einige es irgendwann leid
sein könnten, jeden Tag stundenlang im
Auto zu sitzen, um zur Arbeit in den Wes-
ten zu fahren. Am Ortsausgang von Wer-
nigerode hat er ein Plakat aufgestellt, es
zeigt eine Uhr, darunter den Slogan »Zeit
ist Gold« und die Aufforderung »Jetzt be-
werben, Zeit sparen«.
Auch drei Jahrzehnte nach dem Mauer-
fall sind die Autobahnen noch immer voll
mit Pendlern. Rund 332 000 Bürger leben
im Osten und arbeiten im Westen. Die
Rückkehrerinitiativen richten ihre Bot-
schaft ausdrücklich auch an sie. »Heimvor-
teil: Harz« nennt sich eine Initiative aus
dem Harzkreis. Für die »Deutschland-
Bilanz«, eine Dokumentation von ZDF
und SPIEGEL TV,hat ein Fernsehteam ihre
Mitglieder begleitet.
Sie postieren sich zuweilen in aller Frü-
he an Parkplätzen, auf denen Pendler Rast
machen. Dann spendiert die Initiatorin
Katy Löwe den Autofahrern einen Becher
Kaffee. »Coffee to stay« steht auf einem
Plakat, sie drückt ihnen eine Visitenkarte
in die Hand und schlägt vor, sich doch mal
bei der Initiative zu melden. Vielleicht
gebe es ja einen Job im Harz für sie. Und
damit auch mehr Schlaf.
Hauptberuflich arbeitet Löwe in einer
Werbeagentur. Früher sei sie selbst gepen-
delt, erzählt sie, anderthalb Jahre lang täg-
lich nach Wolfsburg. Sie habe aber bald
gespürt, dass ihr der Spagat zwischen Pri-
vat- und Berufsleben missfällt. »Ich bin
ein Harzer Kind«, sagt sie, »ich brauche
meine Kirchtürme.«
Doch auch wenn die Zahl der Rückkeh-
rer steigt, einen Trend vermag die Entwick-
lung nicht aufzuhalten: Die Ballungszen-
tren, insbesondere Leipzig, gewinnen Ein-
wohner hinzu, die Provinz dagegen blutet
förmlich aus. In allen fünf ostdeutschen
Flächenländern wird die Bevölkerungs-
zahl in den kommenden 15 Jahren zudem
voraussichtlich weiter zurückgehen, weil
die Geburtenrate niedrig ist. Einzelne Re-
gionen werden wohl ein Drittel der Er-
werbsfähigen verlieren. Diese Lücke wird
auch die aktuelle Rückkehrerbewegung
nicht schließen können.
»Jubel ist kaum angebracht«, sagt Joa-
chim Ragnitz, Wirtschaftsforscher an der
Dresdner Dependance des Ifo-Instituts.
Die Unterschiede bei Wirtschaftskraft und
Lebensstandard würden zwischen West
und Ost sogar noch deutlich zunehmen,
lautet seine Prognose. »Die Abwanderung
mag gestoppt sein«, so der Ökonom, »das
Schrumpfen der Bevölkerung ist es nicht.«
Alexander Jung
Mail: [email protected]

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SVEN DÖRING / DER SPIEGEL

Geschäftsführer Appelt
»Erst mal die Hörner abstoßen«

Abwanderung gebremst
Bevölkerung in den neuen Bundesländern
(ohne Berlin), in Millionen

1991 2000 2010 2018

Quelle: Destatis

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