Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1

I


n der DDR waren Frauen wie Rein-
traud Zemitzsch Vorbilder: drei kleine
Kinder, trotzdem voll berufstätig als
Anlagenfahrerin im Chemiefaserkombinat
Schwarza in Thüringen. Das Staatsfern -
sehen drehte 1980 einen Film mit dem Titel
»Wie stark ist das schwache Geschlecht?«,
in dem Zemitzsch und vier weitere arbei-
tende Mütter porträtiert wurden. Die Ka-
mera begleitete die Frauen in die Fabrik,
zum Kindergarten, zum Einkaufen.
Videoaufnahmen zeigen, wie Zemitzsch,
damals Ende zwanzig, eine graue Maschi-
ne mit roten Knöpfen bedient, ihr Blick
ist ernst und konzentriert. Währenddessen
erzählt eine männliche Stimme aus dem
Off von ihrem Alltag: »Wenn Frau Ze-
mitzsch um viertel fünf hier Feierabend
macht, ist für sie wie für alle berufstätigen
Frauen noch lange nicht Feierabend, be-
ginnt auch für sie die sogenannte zweite
Schicht.«
Die zweite Schicht, das waren alle Auf-
gaben in Familie und Haushalt, um die sich
die Frauen nach Feierabend kümmern
mussten: die Kinder vom Kindergarten ab-
holen, einkaufen, kochen, putzen. Die Frau-
en in der DDR, das sollte die Re portage
ausdrücken, kriegen alles unter einen Hut.


Zemitzsch ist inzwischen 68 Jahre alt
und aktive Sportschützin. Sie lebt noch
immer in Rudolstadt, ihrer südlich von
Weimar gelegenen Heimat, und sie sagt
auch heute noch: »Arbeiten, Kinder, Haus-
halt, das hat man einfach so hingekriegt.
Das war einfach so drinnen.«
Fast 40 Jahre nach dem DDR-Film ist
Reintraud Zemitzsch wieder Protagonis-
tin einer Fernsehreportage, eines SPIEGEL-
TV-Films über das 30-jährige Jubiläum
des Mauerfalls. Diesmal spricht sie selbst
und erzählt von den Erwartungen, die
wie selbstverständlich an Frauen gestellt
wurden: das Gleiche im Beruf zu leisten
wie Männer. In Zemitzschs Worten: »Wir
haben uns nie nicht gleichberechtigt
gefühlt.«
Bis heute gelten Frauen aus dem Osten
als finanziell unabhängig, selbstbewusst,
eigenständig. Die Autorin Jana Hensel, die
oft über ihre Erfahrungen als Ostdeutsche
schreibt, nennt ostdeutsche Frauen »eine
Erfolgsgeschichte«. Noch immer sind Müt-
ter aus dem Osten häufiger berufstätig.
Aber der Westen hat aufgeholt und vom
Osten gelernt.
Die Ausgangslage Anfang der Neunzi-
gerjahre war für Ost- und Westfeministin-

nen sehr unterschiedlich. Im Osten zählte
die Arbeit im Beruf. Vielen westdeutschen
Feministinnen ging es um Abstrakteres. Es
wurde viel diskutiert über Selbstbestim-
mung, Gendertheorien und Binnen-I. Und
im Westen gab es viel mehr Frauen, die
sich hauptsächlich um Haushalt und Kin-
dererziehung kümmerten – und denen
Gleichberechtigung herzlich egal war.
Vor der Wende arbeiteten laut amt -
lichen Statistiken mehr als 90 Prozent der
ostdeutschen Frauen außerhalb des eige-
nen Haushalts. In der alten Bundesrepu-
blik taten dies nur rund 50 Prozent.
Seitdem hat Deutschland bei der Eman-
zipation Fortschritte gemacht, im ostdeut-
schen Sinne. Das veranschaulicht der Wer-
degang von Manuela Lenz. Die 54-Jährige
hat die krassen Unterschiede zwischen
Ost und West in der Wendezeit selbst
erlebt.
Im Sommer 1989 floh sie gemeinsam
mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter
aus dem Thüringer Vogtland über Un garn
nach Bayern. Die beiden wollten, dass
ihre Tochter in einem Land mit mehr
Freiheiten groß wird. Doch im Westen
angekommen, merkte Lenz schnell, dass
die Möglichkeiten für sie selbst begrenzt
waren.
Aus ihrem Traum, eine Kinderkrippe
zu eröffnen, wurde vorerst nichts. Ihre
Ausbildung als Krippenerzieherin erkann-
ten die bayerischen Behörden nicht an, im
ganzen Freistaat gab es damals kein Be-
treuungsangebot für Kinder unter drei Jah-
ren. Also fing Lenz in einem Kindergarten
an, machte ihren Abschluss als Erzieherin
nach – und erlebte, als sie auf die Frauen
im Westen traf, einen Kulturschock.
Die oberbayerischen Mütter seien »ver-
bohrt« und »sehr hausfraulich orientiert«
gewesen. Kaum ein Kind habe nachmit-
tags den Kindergarten besucht. Die Mütter
»brachten ihre Kinder vormittags zum
Spielen vorbei«. Wohl eher, damit die Kin-
der Abwechslung hatten. Nicht weil sie
selbst arbeiten mussten.
Nachdem Lenz 1997 zum zweiten Mal
Mutter geworden war, brachte sie ihre ein-
jährige Tochter jeden Morgen über die
Grenze nach Thüringen in die nächste
Kinderkrippe, damit sie selbst arbeiten
konnte.
Rabenmutter habe man sie nicht ge-
nannt, es habe aber Leute gegeben, die
ihre Tochter, »das arme Kind«, bemitleidet
hätten. Sie baue sich mit ihrem Mann eben
eine Existenz auf, habe sie dann geantwor-
tet, sie hätten schließlich nach der Flucht
wieder bei null anfangen müssen. Das sei
aber nur ein Teil der Wahrheit gewesen:
»Ich kannte es nicht anders und war nach
einem Jahr Elternzeit froh, wieder arbei-
ten zu können.«
Erst seit 2013 gibt es in Deutschland
einen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz

DER SPIEGEL Nr. 32 / 3. 8. 2019 59

Erfolgsmodell Ostfrau


Deutscher Osten IIBürgerinnen aus den neuen Ländern galten nach
der Wende als emanzipierter. 30 Jahre nach dem Mauerfall
zeigt sich: Beim Feminismus hat der Westen vom Osten gelernt.

STRAUBE / AKG-IMAGES


Arbeiterinnen in der DDR um 1973 »Um viertel fünf beginnt die zweite Schicht«

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