Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1

für Kinder ab einem Jahr. Heute erscheint
das schwer vorstellbar.
In Leupoldsgrün, einem Dorf im Land-
kreis Hof nahe der thüringischen Grenze,
hat Lenz dann endlich eine Krippengrup-
pe eröffnet. Als sie vor einigen Jahren an
den Bürgermeister herantrat, reagierte er
skeptisch, ließ sich von ihr aber zu einer
Bedarfsanalyse für die Kleinkindbetreu-
ung unter den etwa 1200 Einwohnern
überreden. Die fiel eindeutig aus; zwei
Monate später gab er sein Okay. Kurz
darauf wurden acht Kinder aus dem Ort
für die neue Kleinkindbetreuung angemel-
det, eine volle Gruppe. Mehr als 20 Jahre
nach ihrer Flucht erfüllte sich Lenz damit
ihren Traum.
Sie und andere Frauen aus dem Osten
waren es aber auch, die halfen, die Idee
der Kitas für Kleinkinder nach West-
deutschland zu exportieren. Weil sie die
Rückständigkeit vieler Westfrauen nicht
akzeptierten und so dazu beitrugen, dass
Mütter, die arbeiten wollten, nicht mehr
angegriffen wurden. Die SPD-Politikerin
Manuela Schwesig, Ministerpräsidentin in
Mecklenburg-Vorpommern, glaubt sogar,
dass es ohne Wiedervereinigung »noch
heute keinen Rechtsanspruch auf einen
Kita-Platz« gäbe.
Allerdings wird oft ausgeblendet, wel-
chen Preis die Frauen in der DDR für ihre
Rolle zahlten. Die Geschäftsführerin der
Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-
Diktatur, Anna Kaminsky, sagt, sie habe
»Hochachtung davor, was die Frauen in
der DDR geleistet haben«. Aber sie hadert
mit dem ausschließlich positiven Mythos
der starken Ostfrau.


Das System der DDR sei paternalistisch
gewesen. »Männer haben Politik gemacht
und entschieden, wie Frauen zu arbeiten
haben.« Die Frauen hätten eingekauft, ge-
kocht, die Kinder vom Kindergarten ab-
geholt – und eben nicht die Männer. Ein-
mal im Monat hätten sie einen Haushalts-
tag bekommen, um zu Hause zu putzen
und zu waschen. »Viele Frauen hätten gern
weniger gearbeitet, das aber war meist
nicht vorgesehen.« Das werde oft verklärt.
Und heute? Spielt die Herkunft aus dem
Osten oder Westen für den Blick auf die
Gleichberechtigung noch eine Rolle? Laut
einer Umfrage der Forschungsgruppe Wah-
len im Auftrag des ZDF sind Menschen im
Osten und Westen davon überzeugt.
Auf die Frage »Wo sind die Frauen
emanzipierter?« ergab sich ein deutlicher
Unterschied: Mehr als zwei Drittel der Ost-
deutschen gehen davon aus, dass die

Emanzipation im Osten weiter vorange-
schritten sei. Das glaubt aber nur ein knap-
pes Drittel der Westdeutschen, während
ein Viertel meint, in Westdeutschland sei
die Emanzipation weiter als im Osten. Im
Osten stimmen dem nur fünf Prozent zu.
Von den Befragten unter 35 Jahren glaubt
knapp die Hälfte, dass es keine Unterschie-
de mehr gebe. Ein Drittel von ihnen findet
die Frauen im Westen emanzipierter.
Wenn man unter Emanzipation vor
allem Berufstätigkeit versteht, trügt das
Gefühl der Jungen jedoch. Bis heute sind
in den neuen Ländern im Schnitt mehr
Mütter berufstätig, und sie arbeiten mehr
Stunden pro Woche als im Rest der Repu-
blik. Besonders groß ist die Differenz,
wenn sie Kinder haben, die jünger als drei
Jahre sind: Im Osten arbeiten dann 39 Pro-
zent der Mütter Vollzeit, im Westen nur
19 Prozent. Und ostdeutsche Paare leben
offenbar gleichberechtigter zusammen, je-
denfalls nehmen viel mehr Väter in Thü-
ringen und Sachsen Elternzeit als etwa in
Bremen und im Saarland.
Auch in den Führungsetagen scheinen
sich ostdeutsche Frauen besonders oft
durchzusetzen. 2016 kamen nur 1,7 Pro-
zent aller Führungskräfte aus den neuen
Bundesländern – bei einem Bevölkerungs-
anteil von 17 Prozent. Aber unter denen,
die es nach oben schaffen, sind offenbar
überproportional viele Frauen. Das haben
die Rundfunkanstalten RBB und MDR
zusammen mit der Universität Leipzig
im Februar herausgefunden. Stiftungsge-
schäftsführerin Kaminsky erklärt das mit
einem »Wettbewerbsvorteil« der Ostfrau-
en nach der Wende. Für sie sei es selbst-
verständlich gewesen, genauso qualifiziert
für einen Posten zu sein wie ein Mann –
und Familie und Beruf zu verbinden.
Bis Anfang des Jahres gab es vier ost-
deutsche Vorstandsmitglieder von Dax-
Unternehmen. Drei von ihnen waren
Frauen, dann wurde eine abgelöst. Ähn-
lich sieht es in der Bundesregierung aus,
in der seit 1990 mehr als zwei Drittel aller
Minister aus dem Osten Frauen waren,
im Gegensatz zu 27 Prozent Frauenanteil
unter den Ministern aus dem Westen. Zu
einem ähnlichen Ergebnis kommt die
Erhebung in den Bereichen Justiz und
Wissenschaft, an Bundes- und Landesge-
richten sowie an deutschen Hochschulen:
Je höher die Posi tion, die jemand aus dem
Osten besetzt, desto häufiger handelt es
sich um eine Frau.
Laura Backes, Christiane Hübscher
Mail: [email protected]

60 DER SPIEGEL Nr. 32 / 3. 8. 2019

SVEN DÖRING / DER SPIEGEL

Emanzipation am Arbeitsmarkt
Anteil erwerbstätiger Frauen*,
in Prozent

Quelle:
Destatis
1991 2018

Ost-
deutsch-
land**

Ost-
deutsch-
land**

West-
deutsch-
land

West-
deutsch-
land

71,6


54,3


73,9
66,2

* in der
Alters-
gruppe
von 15
bis unter
65 Jahren
** mit Berlin

SVEN DÖRING / DER SPIEGEL
Rentnerin Zemitzsch, Erzieherin Lenz: Das »arme Kind« bemitleidet

‣Sendehinweis »Deutschland-Bilanz«.
Zweiteilige Doku mentation von SPIE-
GEL TV und ZDF, Dienstag, 6. August
um 21 Uhr, und Don nerstag, 8. August
um 22.15 Uhr, im ZDF.
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