Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1

S


eit Wochen mehren sich die
schlechten Nachrichten aus der
deutschen Wirtschaft. Große Kon-
zerne wie Bayer und Lufthansa
warnen Anleger und Öffentlichkeit vor
einem Gewinneinbruch, andere Unter -
nehmen, zum Beispiel Thyssenkrupp,
Siemens oder die Deutsche Bank, wollen
Tausende Stellen streichen.
Zulieferbetriebe der Automobilindus-
trie geraten ins Schlingern, in dieser Wo-
che musste Eisenmann, ein Hersteller von
Lackieranlagen aus Böblingen, Konkurs
anmelden.
Viele Experten sagen Deutschland für
dieses Jahr nur noch ein Miniwachstum
von deutlich weniger als einem Prozent
voraus. Bis zu einem Schrumpfen der Wirt-
schaft ist es nicht mehr weit. Geht der Auf-
schwung nach fast zehn Jahren zu Ende,
oder kommt Deutschland mit einer Delle
davon?
Am Mittwoch übernächster Woche ent-
scheidet sich, ob die schlechten Konjunk-
turmeldungen der letzten Zeit bloß Aus-
reißer waren oder ob sich dahinter ein Ab-
grund verbirgt. Dann verkündet das Sta-
tistische Bundesamt, wie sehr die deutsche
Wirtschaft von April bis Juni gelitten hat.
Im ersten Quartal hatte sie noch zulegen
können, um 0,4 Prozent zum Vorquartal,
das hat viele überrascht. Diesmal, so die
Erwartung, könnte das Inlandsprodukt ge-
schrumpft sein.
Manche Ökonomen nehmen bereits das
böse »R-Wort« in den Mund, »R« für »Re-
zession«. Volkswirte tun sich traditionell
schwer damit, Wendepunkte der Wirt-
schaftsentwicklung vorauszusagen. Doch
im Laufe der Zeit haben sie eine Reihe von
Frühwarninstrumenten entwickelt, die
Aufschluss geben sollen. Viele dieser Indi-
katoren entwickeln sich derzeit tatsächlich
besorgniserregend. Ein Überblick.


Die Stimmungsmesser

Wirtschaft bestehe »zu 50 Prozent aus
Psychologie«, pflegte Ludwig Erhard, der
Begründer der sozialen Marktwirtschaft,
zu sagen. Und weil das auch viele Kon-
junkturforscher so sehen, befragen sie in
regelmäßigen Abständen Verbraucher,
Manager oder Banker, wie sie die aktuelle
Wirtschaftslage bewerten. Von »Stim-
mungsindikatoren« sprechen die Ökono-
men, wenn ihre Erhebung nicht auf harten
Zahlen, sondern auf den Einschätzungen
von Betroffenen oder Experten beruht.
Als wichtigstes Stimmungsbarometer
gilt seit Langem der sogenannte Geschäfts-
klima-Index des Münchner Ifo-Instituts.
Jeden Monat fragen dessen Volkswirte bei
rund 9000 Firmen aus Handel, Dienstleis-
tungen, Bau und Industrie, wie deren Ge-
schäfte aktuell laufen und wie sie sich in
den kommenden sechs Monaten wohl ent-


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wickeln werden. Das Verfahren hat den
Vorteil, dass die Befragten bereits jene Pro-
duktions- und Umsatzzahlen kennen, die
von der amtlichen Statistik erst Wochen
später bekannt gegeben werden.
Ist die Zahl der Unternehmen, die eine
bessere oder schlechtere Geschäftslage
prognostizieren, genau gleich groß, liegt
der Wert der Erwartungen bei null.
Rutscht er ins Minus, gibt es mehr Pessi-
misten als Optimisten. Derzeit liegt der
Wert bei minus 6,7, so stark übertrafen die
negativen Erwartungen die positiven Ein-
schätzungen zuletzt im Juni 2009.
In der Industrie befinde sich das Ge-
schäftsklima mittlerweile sogar »im freien
Fall«, sagt Ifo-Forscher Klaus Wohlrabe.
In immer mehr Schlüsselbranchen brö-
ckeln Aufträge weg. Noch sei die Wirt-
schaft insgesamt zwar »in keiner Rezes -
sion«, sagt Wohlrabe, weil der Einbruch
im Verarbeitenden Gewerbe von der güns-
tigen Konjunktur am Bau und bei Dienst-
leistungen abgefedert werde. Doch inzwi-
schen trübten sich auch dort die Erwartun-
gen ein.
Der Ifo-Index hat sich in der Vergangen-
heit als Prognoseinstrument bewährt. Je-
der Rezession, die das Land nach dem
Krieg heimgesucht hat, ging ein Rückgang
des Indikators im Vorjahr voraus. Und je-
des Mal, mit der Ausnahme von 2002/03,
sank der Indikator im Schlussquartal des
Jahres, das der Rezession vorausging.
Bei aller Zuverlässigkeit hat aber auch
der Ifo-Index eine Schwäche. Untersuchun -
gen haben gezeigt, dass er zwar die Rich-
tung der konjunkturellen Entwicklung gut
vorhersagt, das Ausmaß des Auf- oder Ab-
schwungs aber weniger gut prognostiziert.
Wie weit es womöglich nach unten geht,
lässt sich aus den Zahlen deshalb schwer
ableiten.
Beurteilung: besorgniserregend

Die Realwirtschaft
In der realen Wirtschaft, dort, wo harte
Kennziffern und nicht Stimmungen zählen,
sind erste Bremsspuren zu erkennen. Die
Industrieproduktion schrumpfte im Mai
um 3,7 Prozent im Vergleich zum Vorjah-
resmonat, die Auslastung der Kapazitäten
ist rückläufig, auch die Zahl neuer Aufträ-
ge sinkt. Besonders mies stehen ausgerech-
net die deutschen Schlüsselbranchen da.
Die Autoindustrie hat im Juni fast ein
Viertel weniger Fahrzeuge produziert als
vor einem Jahr, seit Januar liegt das Minus
bei zwölf Prozent. Das CAR-Institut der
Universität Duisburg-Essen schätzt, dass
der weltweite Autoabsatz 2019 den größ-
ten Einbruch seit 20 Jahren erleben wird.
Die Verkäufe sind nicht nur hierzulande
eingebrochen, sondern auch in China, dem
Hauptabnehmer für BMW, VW und Mer-
cedes. Was die Konzerne bislang immer

Quelle: Ifo-Institut

Geschäftsklima-Index


Kurzarbeiter
Bezieher von Konjunkturellem Kurzarbeitergeld

Mai
2018

11 631

Quelle:
Bundesagentur für Arbeit;
* Hochrechnung

Mai
2017

24 690

Mai
2016

44 765

Mai
2019 *

40872


Mai 2018
102,7

Aug. 2018
104,2

Febr. 2019
98,9

Juli 2019

95,7


2015 = 100

0%


  • 1,0 %


+ 0 ,6 %

Restlaufzeit in Jahren

Zinsstruktur
am deutschen Rentenmarkt

Quelle: Bundesbank

Oktober 2018

Juli 2019

15 10

Automobilindustrie
produzierte Pkw
Quelle: VDA

Juni
2017

Juni
2018

Juni
2019

374700



  • 24 % im Vergleich
    zum Vorjahresmonat


0

200

400

600

in Tausend
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