Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1

ausgezeichnet hat, ihre Exportstärke,
macht sie und ihre Zulieferer jetzt so ver-
letzlich.
Der Maschinenbau steht vor einem ähn-
lichen Problem. Die Vertriebsleute in den
Firmen merken, dass die Kunden vorsich-
tig geworden sind und weniger investieren.
Im Mai gingen sieben Prozent weniger
Aufträge ein. Die Chemieindustrie be-
fürchtet ein Minus von vier Prozent. Sie
ist ein klassischer Frühindikator für Auf-
und Abschwünge, weil ihre Produkte in
fast jeder Branche gebraucht werden.
Die Schwäche der Schlüsselbranchen ist
deshalb so gravierend, weil an ihnen viel
hängt. Deutschland ist stärker durch die
Industrie geprägt als andere Länder. Auf sie
entfallen rund 28 Prozent der Wertschöp-
fung. Zum Vergleich: In Großbritannien
liegt der Wert laut Weltbank nur bei
19 Prozent, in Frankreich bei 17 Prozent.
Vor allem Deutschlands Paradesektor
macht nicht nur die schlappe Konjunktur
zu schaffen: Die Autoindustrie und ihre
Zulieferer stecken mitten in einer Struk-
turkrise. Wichtige Abnehmerländer wie
China haben selbst Kapazitäten aufgebaut.
Die Abkehr vom Verbrennungsmotor so-
wie die absehbare Revolution durch selbst-
fahrende Autos und neue Mobilitätsfor-
men, etwa Verleihsysteme, erschüttern
Deutschlands Autobauer im Markt.
Schon jetzt springt die Krise auf andere
Sektoren über. Der Umsatz bei Einzel-
händlern ist im Juni im Vergleich zum
Vorjahres monat um 1,6 Prozent gesunken.
Selbst die Baubranche schwächelt. Das
Bauhauptgewerbe registrierte im Mai
einen um 4,2 Prozent niedrigeren Auftrags-
eingang als im April.
Beurteilung: besorgniserregend


Der Arbeitsmarkt

Auf dem Arbeitsmarkt gibt es ebenfalls
Frühindikatoren, die Veränderungen an-
kündigen. Die Entwicklung der Zeitarbeit
gehört dazu. Tatsächlich ist die Zahl der
Zeitarbeiter in den vergangenen zwölf
Monaten von über einer Million auf rund
924 000 gesunken, vor allem in der Auto-
mobilindustrie und bei deren Zulieferern.
Allerdings taugt die Abnahme der Zeit-
arbeit noch nicht als Vorbote einer schwe-
ren Krise, denn sie setzte schon Ende 2017
ein. Einer der möglichen Gründe: Viele
Firmen übernehmen angesichts des Fach-
kräftemangels Zeitarbeiter in ihre Stamm-
belegschaft. Zudem haben Zeitarbeits -
firmen selbst große Probleme, genügend
qualifizierte Arbeitskräfte zu gewinnen.
In Bereichen wie der Pflege können sie die
Nachfrage nicht bedienen. Zugleich wirk-
ten 2018 Gesetzesänderungen, die das Ge-
schäft schwieriger machten: Zeitarbeiter
dürfen danach nur noch 18 Monate im sel-
ben Unternehmen bleiben und müssen


nach neun Monaten den gleichen Lohn be-
kommen wie die Stammbelegschaft.
Ein zweiter Frühindikator ist die Kurz-
arbeit. Seit Wochen fordern Gewerkschaf-
ten und Arbeitgeber, angesichts der Kon-
junkturschwäche müsse es ihnen leichter
gemacht werden, Kurzarbeit zu beantra-
gen. Im Mai dieses Jahres waren knapp
41 000 Menschen in Kurzarbeit, mehr als
dreimal so viele wie ein Jahr zuvor. Aller-
dings lag die Kurzarbeit 2017 und 2018 auf
extrem niedrigem Stand. Derzeit markie-
ren die Zahlen also eher das Normalniveau
als einen besorgniserregenden Anstieg.
In der Weltfinanzkrise 2009 war jeder


  1. Arbeitnehmer in Kurzarbeit, heute ist
    es jeder 1000.
    Viele Beschäftigte bekommen die Ab-
    kühlung also noch nicht zu spüren. Der
    Arbeitsmarkt reagiert erst mit Verzöge-
    rung auf Änderungen der Wirtschaftslage.
    Dass die Hiobsbotschaften bisher so wenig
    Spuren am Arbeitsmarkt hinterlassen ha-
    ben, liegt auch an der demografischen Ent-


wicklung. Die Zahl der Menschen, die aus
Altersgründen den Arbeitsmarkt verlas-
sen, steigt Jahr für Jahr. Der Fachkräfte-
mangel aber bleibt und damit die Bereit-
schaft der Firmen, ihre Belegschaften so
lange wie möglich zu halten. Zugleich ge-
winnen konjunkturunabhängige Sektoren
wie der öffentliche Dienst, Schulen, Kitas
oder Krankenhäuser an Bedeutung.
Saisonbereinigt ist die Zahl der Erwerbs-
losen im Juli um 1000 gegenüber dem Vor-
monat gestiegen, im Jahresvergleich aber
um fast 50 000 gesunken. Die Beschäfti-
gung nimmt weiter deutlich zu, aber lang-
samer als in den vergangenen Jahren. Die
Entlassungsquote – also das Risiko, arbeits-
los zu werden – liegt auf dem niedrigsten
Stand seit der Wiedervereinigung. Wer ar-
beitslos wird, hat noch immer gute Chan-
cen, schnell wieder einen Job zu finden.
Beurteilung: stabil

Der Finanzmarkt
Den Akteuren am Finanzmarkt wird nach-
gesagt, besonders früh zu wittern, ob ein
Aufschwung sich dem Ende zuneigt oder
fortsetzt. Die Summe ihrer Einschätzun-
gen spiegelt sich in der Zinsentwicklung.
Im Normalfall liegen die kurzfristigen Zin-
sen unter den langfristigen. Die Erklärung
ist einfach: Wenn Investoren Geld für län-
gere Zeit anlegen, verlangen sie einen Auf-
schlag, der sie für das größere Risiko ent-

schädigt. Je weiter die Rückzahlung in der
Zukunft liegt, desto höher fällt der Auf-
schlag aus, weil die Anleger auch einen
Ausgleich für künftige Inflation einpreisen.
Deshalb werfen zum Beispiel Staatsanlei-
hen mit einer Laufzeit von zehn Jahren
normalerweise mehr Rendite ab als solche
mit nur zwei Jahren Laufzeit.
Wenn sich die Verhältnisse umkehren,
die Zinsen von Langläufern also unter den
kurzfristigen liegen, dann droht Unge-
mach. Ökonomen sprechen dann von
einer inversen Zinsstrukturkurve. Sie gilt
als Anzeichen dafür, dass Anleger mit
Blick auf die Zukunft nervös werden und
sich mit weniger Rendite zufriedengeben.
In den USA ging jeder Rezession in den
vergangenen 60 Jahren ein solches Phä-
nomen voraus. Mit einem Abstand von
6 bis 24 Monaten folgte auf eine abfallende
Zinskurve eine Rezession.
In Deutschland hat sich die Zinskurve
in den vergangenen Monaten noch nicht
umgekehrt, sie verläuft aber deutlich fla-
cher. Lagen die Zinsen für Bundesanleihen
mit zehn Jahren Laufzeit im Juli vergan-
genen Jahres noch rund ein Prozentpunkt
über denen mit zwei Jahren, hat sich die
Differenz mittlerweile mehr als halbiert.
Die USA sind schon einen Schritt weiter.
Dort liegen die kurzfristigen Zinsen deut-
lich über den länger laufenden Papieren.
Einige Ökonomen bezweifeln jedoch,
ob die Zinsen als Indikator noch taugen.
Der Grund: Sie werden durch Aktionen
der Notenbanken, gleichgültig, ob in den
USA oder in der Eurozone, heftig verzerrt.
Durch ihren massiven Aufkauf von Staats-
anleihen haben sie die Kurse lang laufen-
der Staatsanleihen in die Höhe getrieben
und die Zinsen entsprechend gedrückt.
Und die amerikanische Notenbank Fed
hat sich erst diese Woche nach vielen Jah-
ren wieder zu einer Absenkung der Leit-
zinsen entschlossen.
Beurteilung: beunruhigend

Die Warnsignale für eine Rezession
mehren sich also, auch wenn noch alle
Prognosen davon ausgehen, dass die deut-
sche Wirtschaft 2020 wieder Fahrt auf-
nimmt. Ende der Woche allerdings kün-
digte US-Präsident Donald Trump neue
Strafzölle gegenüber China an. Sollte
Großbritanniens neuer Premierminister
Boris Johnson sein Land tatsächlich ohne
einen Deal aus der EU führen und Trump
auch deutsche Autos mit zusätzlichen
Strafzöllen belegen, käme dies einem To-
desstoß für die Konjunktur gleich. Sämt -
liche Prognosen wären damit hinfällig, ein
echter Einbruch der Wirtschaft wäre un-
ausweichlich.
Markus Dettmer, Alexander Jung,
Christian Reiermann, Michael Sauga
Mail: [email protected]

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Wirtschaft

Vor allem Deutschlands
Paradesektor macht
die Konjunkturschwäche
zu schaffen.
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