Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1

E


s sind viele Schätze zu bergen in
dieser Nacht. Der kostbarste ist,
den Jubelschreien nach zu urtei-
len, ein Kohlrabi. Eine Studentin
zieht ihn aus einer Mülltonne auf dem
Hinterhof eines Aachener Penny-Markts.
Kohlrabi ist ihr Lieblingsgemüse, kein an-
derer Fund aus dem Beutezug kann da mit-
halten.
Gut ein Dutzend junger Leute, großteils
Studenten, wandern in dieser Julinacht
durch Aachen. Sie lernen, wie man con-
tainert, also Lebensmittel aus Mülltonnen
von Supermärkten rettet. Für die meisten
von ihnen ist es das erste Mal. Sie sagen,
sie hätten es finanziell nicht nötig, aus der
Tonne zu leben, fänden die Idee aber gut.
Konsumkritisch, wie sie sind.
Angeleitet werden sie von erfahrenen
Mülltauchern, die alle paar Wochen eine
solche Tour anbieten. Darunter Tobias
Koschmieder, 32, tätig im betreuten Woh-
nen, Lebensmotto: »Ich sehe nicht ein, für
Essen Geld zu bezahlen, wenn ich es um-
sonst haben kann, weil andere es wegge-
worfen haben.« Und Christian Walter, 30,
auch er arbeitet »im sozialen Bereich«.
Das Problem, sagt er, sei der Kapitalismus,
er bedinge jegliche Überproduktion. Er
selbst sei Sozialist.
Rund 18 Millionen Tonnen Lebensmit-
tel werden in Deutschland jährlich weg -
geworfen. Das entspricht der Menge aller
Lebensmittel, die von Jahresanfang bis
zum 2. Mai produziert wurden, so hat es die
Naturschutzorganisation WWF errechnet.
39 Prozent des Essensmülls fallen in
Privathaushalten an, 14 Prozent entstehen
bei den Händlern. Das klingt nach wenig,
sind aber immer noch 2,6 Millionen Ton-
nen im Jahr. Weggeworfen wird Joghurt
mit überschrittenem Mindesthaltbarkeits-
datum, angedetschtes Obst oder Brot vom
selben Tag. Nicht nur die Regale der Super -
märkte sind deshalb üppig bestückt, son-
dern auch deren Müllcontainer.
Wer eine Gratismahlzeit sucht, kann
sich dort bestens versorgen. Nur: Contai-
nern gilt als Diebstahl. Was sich auf einem


DER SPIEGEL Nr. 32 / 3. 8. 2019 67


Tauchen für Anfänger


KonsumEssen aus Mülltonnen von Supermärkten zu bergen ist illegal, aber populär. Während


manche Läden versuchen, das »Containern« zu verhindern, gibt es bereits Kurse für Einsteiger.


sumenten ihr Verhalten ändern können, welche
Unter nehmen wirklich umdenken und was die
Politik tun muss. Welche Ideen gibt es, Ökologie
und Ökonomie zusammenzudenken?

Nachhaltig leben(IV) Der Klimawandel ist zur
entscheidenden politischen und ökonomischen
Frage geworden. Der SPIEGELwidmet dem Thema
deshalb eine Sommerserie: Wir fragen, wie Kon -

LARS BERG / DER SPIEGEL
Resteverwerterin beim Kaufhaus Lestra in Bremen: Rebellen des Konsums
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