Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1

Grundstück befindet, gehört dem Eigen-
tümer oder Mieter, selbst der Abfall. Man
mag das kurios finden, aber so steht es im
Gesetz.
Der Versuch von Hamburgs Justizsena -
tor Till Steffen (Grüne), das Containern
zu legalisieren, scheiterte im Juni auf Bun-
desebene. Das Thema wurde dadurch erst
richtig groß. Denn Containern ist nicht
mehr so sehr eine Frage von Bedürftigkeit,
es geht vielmehr um Verantwortung. Wer
containert, zeigt, dass er nachhaltig leben
will. Menschen, die sich aus der Mülltonne
ernähren, sind Rebellen des Konsums, mit-
unter auch nur für eine Nacht wie die Trup-
pe in Aachen.
Doch auch für sie gebe es Regeln, er-
klärt Tourleiter Walter. Die erste: Plastik-
handschuhe tragen, nicht überhastet wüh-
len, man kann sich leicht verletzten, wenn
Glasscherben in der Tonne sind, »und
dann gelangt irgendein Scheiß in die Blut-
bahn«. Regel zwei: Ruhe bewahren, damit
keine Nachbarn aufgeschreckt werden und
die Polizei rufen. Regel drei: Gut prüfen,
was noch genießbar ist; schimmelige Pilze
oder Brot liegen lassen, denn ist eine Stelle
befallen, ist alles verdorben – von Käse
hingegen lässt sich Schimmel abschneiden.
Die nächtliche Tour beginnt mit zwei
Niederlagen. Ein Rewe-Markt, dessen
Container bislang eine Fundgrube waren,
hat diese neuerdings mit einem Schloss ge-
sichert. Bei Lidl kommt die Truppe nicht
einmal aufs Gelände, das Tor ist geschlos-
sen. Zeit für Regel Nummer vier: Auf ab-
geriegeltem Gelände besser nicht contai-
nern. Übers Tor zu klettern wäre Hausfrie-
densbruch.
Der Penny-Markt mit dem Kohlrabi ist
die Entschädigung für die anfänglichen Ent-
täuschungen. Nun greift Regel fünf: Nicht


alles mitnehmen, aus Rücksicht auf nach-
folgende Mülltaucher. Und Regel sechs:
Den Ort sauber hinterlassen. Am Ende der
mehr als zweistündigen Tour wird die Beu-
te auf einer Wiese ausgebreitet, jeder darf
sich bedienen. Die Stimmung ist so feier-
lich wie bei einem Gottesdienst.
Seit Kurzem hat die Bewegung auch so
etwas wie einen Schutzheiligen: Cornelius
Strangemann, 42. Groß, barocke Statur,
Anzug, Krawatte. Strangemann ist Eigen-
tümer des Bremer Kaufhauses Lestra. Der
Name steht für: Lebensmittel Strange-
mann. Sein Vater gründete das Unterneh-
men vor 50 Jahren, heute hat Lestra 180
Mitarbeiter und erwirtschaftet 25 Millio-
nen Euro Umsatz.

Strangemann sagt: »Lebensmittel weg-
zuschmeißen tut mir weh. Man muss sich
das vorstellen: Tiere wurden großgezogen
und geschlachtet, Ananas und Avocados
um die halbe Welt geschifft – nur um am
Ende bei uns auf dem Müll zu landen?«
Dass auf seinem Gelände containert
wird, duldet Strangemann bereits seit zehn
Jahren. Damals entdeckte er nachts Stu-
denten, die in seinen Tonnen wühlten. Die
seien ziemlich erschrocken gewesen, sagt
er. Er beruhigte sie: »Ich tu euch nix.«
Berühmt wurde er erst vor ein paar
Wochen. Als Deutschland anfing, über
Sinn und Unsinn des Mülltauchverbots zu
diskutieren, brachte Strangemann Schilder
an seinen Tonnen an mit aufmunternden
Worten und Tipps, wie man richtig contai-
nert. Seither gilt er als der gute Kapitalist.
Jeden Tag kommen nun 20 bis 30
Schaulustige zu Lestra, angelockt durch
Medienberichte. Von Containertourismus
will Strangemann ungern sprechen, »das
würde andere Kaufhäuser abschrecken«.
Strangemann sagt, es habe nur wenige ne-
gative Zuschriften gegeben, auf Facebook
oder auf seiner Website, etwa: Wo andere
im Müll wühlen, würde ich nie einkaufen.
Und mehrheitlich Lob.
Es kommen auch Ratschläge. Er solle
seine Reste doch besser an Bedürftige ver-
schicken beispielsweise. »Ja, sollen wir
denn Pakete packen?«, entgegnet er. »Wir
sind auch ein Wirtschaftsbetrieb, ich kann
nicht nur Wohlfahrt machen.« Einen Vor-
schlag hat er allerdings umgesetzt: Er prä-
sentiert die aussortierten Lebensmittel
jetzt auf einem Rollwagen, damit niemand
mehr in die Tonnen kriechen muss.
Mit einer Bremer Mülltaucherin hat
Strangemann sich inzwischen angefreun-
det, sie kennen sich von gemeinsamen TV-
Auftritten. Katarzyna Swendrowski, 32,
hat früher als Wildtierpflegerin gearbeitet,
heute gibt sie Workshops zu Minimalis-
mus, nachhaltigem Leben und Achtsam-
keit. Sie ist Veganerin und Mutter des
neunjährigen Tadeusz.
Swendrowski containert seit sechs Jah-
ren, nicht bei Lestra, das Kaufhaus ist zu
weit von ihrer Wohnung entfernt. Sondern
bei einem anderen Laden und in den Müll-
tonnen des Wochenmarkts. Mehrere Stän-
de überlassen ihr dort auch übrig geblie-
bene Waren. Alle paar Wochen lädt sie zu
einem sogenannten Restefest in ihrem
Wohnzimmer ein, öffentlich, gegen Geld
oder kleine Dienstleistungen. Auf Insta -
gram bloggt sie darüber.
Swendrowski ist eine gemäßigte Akti-
vistin. Sie findet es »auf Dauer nicht ziel-
führend«, Betreiber von Supermärkten im
Internet an den Pranger zu stellen, nur
weil sie das Containern nicht fördern. »Es
ist nicht der Job der Händler, sich um jeden
nicht verkauften Salatkopf und jede Ka-
rotte zu kümmern«, sagt sie. Und manch-

68 DER SPIEGEL Nr. 32 / 3. 8. 2019


Quelle: FAO

Essen im Müll
Lebensmittelverschwendung in Kilogramm pro Jahr
und je Einwohner

Europa

Industrieländer
in Asien

Latein-
amerika

Nordafrika,
West- und
Zentralasien

Subsahara-
Afrika

Süd- und
Südostasien

Nordamerika
und Ozeanien

50 150 250

Endver-
braucher

Produktion
und Vertrieb

LARS BERG / DER SPIEGEL
Kaufhauschef Strangemann, Mülltaucherin Swendrowski mit Sohn: »Ich tu euch nix«
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