Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1
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Afghanistan

»Wir sind auf alles


vorbereitet«


Der Ex-Geheimdienstchef und Vize -
präsidentschaftskandidat Amrullah Saleh,
46, der gerade einem Mordanschlag
entkommen ist, über die Aussichten auf
einen Friedensschluss mit den Taliban

SPIEGEL:Herr Saleh, was ist vergangenen
Sonntag passiert?
Saleh:Wir waren im Haus unserer Partei
Green Trend, im Norden von Kabul,
als nahe dem Eingang ein Truck und zwei
Minivans mit Autobomben
explodierten, ausgelöst durch
Selbstmordattentäter. Vier
Angreifer stürmten in das
Gebäude, sie töteten meine
Wachen. Ich war im vierten
Stock und lief mit sieben Mitar-
beitern aufs Dach. Wir hatten
Waffen und Munition gelagert
und verteidigten uns für etwa
50 Minuten. Dann konnten
wir über das benachbarte Dach
fliehen. Doch 22 Menschen
starben, 60 sind verwundet.
SPIEGEL:Sind Sie ebenfalls
verletzt?
Saleh:Körperlich nicht, aber ich habe
zwei Neffen verloren, dazu Wachen, Frei-
willige, Aktivisten, alle jung. Sie wurden
einfach massakriert. Das trifft mich.
SPIEGEL:Warum will man Sie töten?
Saleh:Es ist ein Angriff auf den demo -
kratischen Prozess, die Präsidentschafts-
wahl. Ich vertrete ein pluralistisches
Afghanistan ohne Extremisten. Sie glau-
ben, wenn sie Leute wie mich um -
bringen, töten sie die Widerstandskraft
der Gesellschaft.
SPIEGEL:Wer steckt hinter dem Anschlag?
Saleh:Die Operation trägt die Hand-
schrift der Taliban und des ISI ...
SPIEGEL:... des pakistanischen Geheim-
dienstes. Die USA und die Taliban ver-

handeln gerade. Können Sie sich einen
Frieden mit den Taliban vorstellen?
Saleh:Wir sind auf alles vorbereitet.
Wenn sie Frieden wollen, gut, wenn nicht,
können wir auch damit umgehen.
SPIEGEL:Die Amerikaner ziehen sich
wohl bald aus Afghanistan zurück. Wie
verteidigen Sie dann Ihre Werte gegen
Bomben und Selbstmordattentäter?
Saleh:Der US-Rückzugsplan beinhaltet
ja nicht die Evakuierung des Hindukusch,
unsere Berge bleiben hier, unsere Flüsse
und Täler, wir sind das Volk, und auch
wir bleiben hier. Die Taliban werden das
Land nicht übernehmen.
SPIEGEL:Sie kandidieren jetzt gemein-
sam mit Präsident Ashraf Ghani, den Sie

zuvor oft kritisierten. Was hat Sie zusam-
mengebracht?
Saleh:Die Überzeugung, dass Afghanis-
tan nicht geteilt werden darf. Dafür lohnt
es, unsere beiden Egos im Zaum zu halten.
Wir mögen über vieles unterschied liche
Auffassungen haben, sind uns aber grund-
sätzlich einig darüber, wie Afghanistan
aufgebaut werden soll.
SPIEGEL:Ihre Partei Green Trend besteht
vorwiegend aus jungen Männern. Wollen
Sie die Partei, wenn nötig, zu einer Miliz
umfunktionieren?
Saleh:Wir sind eine sehr disziplinierte
Bürgerorganisation mit 90 000 Mitglie-
dern. Wir tragen keine Waffen, betreiben
aber eine private Militärakademie. SUK

USA

Ist Joe Biden noch der


Favorit?


 Den härtesten Schlag musste Joe
Biden im jüngsten TV-Duell von der
eigenen demokratischen Partei einste-
cken, da war er noch nicht mal auf der
Bühne. »Es steht viel auf dem Spiel für
unsere Demokratie«, erklärte seine
schärfste Konkurrentin Elizabeth War-
ren am Mittwoch. »Wir können doch
keinen Kandidaten wählen, an den wir
gar nicht glauben, nur weil wir Angst
davor haben, etwas anders zu machen.«
Warren, die Senatorin aus Massachu-
setts, brachte damit ein Gefühl auf den
Punkt, das viele Demokraten in diesen
Tagen beschleicht.
Ex-Vizepräsident Biden ist zwar im -
mer noch der unangefochtene Umfrage-
könig, seine Erfahrung und außen -
politische Expertise sind unumstritten.
Glaubt man den Meinungsforschern,
dann ist Biden der beste Kandidat, um
weiße Wähler aus dem Mittleren Westen
zurück zu den Demokraten zu holen.
Aber die Partei ist hin- und hergerissen
zwischen Herz und Kopf. Biden mag
auf dem politischen Reißbrett funktionie -
ren, aber die Demokraten sehnen sich
nach Leidenschaft. Die kann Biden nicht
wecken. Sein zweiter Auftritt bei einer
TV-Debatte der demokratischen Prä -
sidentschaftsbewerber war solide, nicht
mehr. Die Zweifel, ob er mit 76 Jahren
noch in der Lage ist, gegen Donald
Trump zu bestehen, konnte er nicht zer-
streuen. Vieles deutet bei den Demokra-
ten auf ein Duell
zwischen Warren
und Biden hin.
Warren versprüht
jenen Kampfes-
geist und Verände-
rungswillen, den
die Parteibasis bei
Biden so schmerz-
lich vermisst. RP

Saleh

Europa

Der italienische »Verräter«


 Seit Anfang dieser Woche arbeitet der
ehemalige italienische Staatssekretär San-
dro Gozi als Europabeauftrager für die
Regierung des französischen Präsidenten
Emmanuel Macron. Nun tobt in Rom ein
bizarrer Streit um den vermeintlichen
»Verräter«. Denn bis 2018 hatte Gozi im
vom linken PD geführten italienischen
Außenministerium die Abteilung für euro-
päische Angelegenheiten betreut. Jetzt
dient er dem französischen Ministerpräsi-


denten Édouard Philippe. Gozi und
Macron hatten sich 2014 kennengelernt,
als Macron ein enger Berater seines Vor-
gängers François Hollande war. Bei den
Europawahlen trat Gozi für Macrons
Bewegung La République en marche in
Frankreich zur Wahl an und wurde
gewählt.
Der Chef der italienischen 5-Sterne-
Bewegung, Luigi Di Maio, will nun prüfen
lassen, ob man Gozi wegen Interessenkon-
flikten die Staatsbürgerschaft entziehen
kann. Vizepremier und Lega-Chef Matteo
Salvini holte ebenfalls aus gegen den ver-

meintlichen Abweichler: »Stellt euch vor,
welche Interessen diese Person früher ver-
treten hat, solange er noch in der italieni-
schen Regierung war!« Gozi spricht von
einer grotesken Polemik gegen ihn: »Für
Paris bin ich ein Freund, in Rom will man
mich am liebsten zum Staatenlosen degra-
dieren.« Die Beziehungen zwischen bei-
den Staaten hatten bereits gelitten, nach-
dem Di Maio die Gelbwestenbewegung
in Frankreich besucht und die Regierung
im Élysée als Kolonialherrn in Afrika
kritisiert hatte. Paris wertete die Ausfälle
als »inakzeptable Provokation«. HOR

LUCAS JACKSON / REUTERS
Biden

JIM HUYLEBROEK / NYT / REDUX / LAIF
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