Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1

Politiker wie Präsident Hassan Rohani war,
dass sich Iran dem Westen zuwenden
sollte, dass es sich lohnt, in die Verbin-
dung zum Westen zu investieren. Das Nu-
klearabkommen würde die wirtschaftliche
Zusammenarbeit fördern und neue Ab -
kommen nach sich ziehen. Nach und nach
würde sich nicht nur das Verhältnis zum
Westen ändern, sondern auch Iran selbst.
SPIEGEL: Und nun?
Nasr: Die Stimmung hat sich gegen das
Abkommen gedreht. Viele denken, dass
es falsch war, den USA und den Europäern
zu vertrauen. Die Iraner ärgern sich, weil
sie sich getäuscht und betrogen fühlen, und
die Schuld dafür wird Moderaten wie Ro-
hani gegeben. Niemand in Iran kann sich
deshalb im Moment dafür einsetzen, mit
Trump zu reden. Niemand ist bereit, die-
sen entscheidenden Schritt zu tun.
SPIEGEL:Wie soll es weitergehen, wenn bei-
de Seiten nicht bereit sind nachzugeben?
Nasr: Ein Szenario wäre, dass Trump die
Sache einfach bis nach der Wahl liegen
lässt. Er könnte aber auch darüber nach-
denken, den Iranern einen Anreiz zu ge-
ben, sich zu bewegen. Aber das würde er-
fordern, dass er etwas anbietet, etwa die
Aufhebung einiger Sanktionen. Die irani-
sche Führung braucht ein Zugeständnis,
damit Gespräche mit den USA nicht wir-
ken wie eine Kapitulation vor Trump. Die
US-Regierung muss die iranische Innen-
politik mitbedenken. Pompeo kann nicht
so aggressiv gegenüber Iran auftreten und
erwarten, dass iranische Politiker das hin-
nehmen, ohne einen hohen innenpoliti-
schen Preis dafür zu bezahlen. Die Iraner
akzeptieren keine Demütigung.
SPIEGEL:Woher kommt die amerikani-
sche Obsession mit Iran?


Nasr: Iran ist kein Entwicklungsland wie
jedes andere; es ist eine sehr alte Kultur.
Das gibt dem Land eine eigene Aura und
Gravität. Außerdem leben dort mehr als
80 Millionen Menschen, und das Land
liegt an einer strategisch wichtigen Stelle
zwischen Europa und Asien. Es gibt aber
auch eine psychologische Komponente:
Die iranische Revolution war die letzte
große in der Geschichte. Wir benutzen
das Wort sehr freizügig, aber in Wahrheit
gab es nur vier große Revolutionen: die
französische, die russische, die chinesische
und die iranische im Jahr 1979. Sie war
ein großer Schock für den Westen und spe-

ziell für die USA. Die Geiseln in der US-
Botschaft in Teheran waren der wichtigste
Grund, warum Jimmy Carter im Jahr
1980 die Präsidentschaftswahl gegen Ro-
nald Reagan verlor. Außerdem gilt die ira-
nische Revolution als entscheidender An-
trieb für den Aufstieg des islamischen Fun-
damentalismus zu einer politischen Kraft.
Nun gibt es eine neue Generation von
amerikanischen Politikern, deren Sicht auf
Iran durch den Irakkrieg 2003 geprägt
wurde, Leute wie Trumps ehemaliger
Sicherheitsberater H. R. McMaster oder
Senator Tom Cotton, der im Irak ge-
kämpft hat. Diese Leute verbinden Iran

nicht mit Khomeini, sondern mit Qasem
Soleimani, dem Kommandeur der Quds-
Brigade. Sie sehen Soleimani als Terroris-
ten an, der die iranischen Militäraktionen
in Syrien, im Jemen und im Irak koordi-
niert und der Hunderte US-Soldaten mit
Sprengfallen tötete.
SPIEGEL:Lassen sich die Spannungen in
der Region auf absehbare Zeit überhaupt
eindämmen?
Nasr:Die arabische Welt, wie wir sie
kannten, gibt es nicht mehr. Die wichtigs-
ten arabischen Länder – Syrien, Ägypten
und der Irak – sind geschwächt oder
zertrümmert. Und ich glaube nicht, dass
Saudi-Arabien die Lücke füllen kann. Die
Saudis sind ein wichtiger Faktor, aber
nicht so wichtig, wie der Westen vielleicht
glaubt. Sie haben Geld, aber in Ländern
wie Syrien oder dem Libanon haben sie
keinen Einfluss, und im Jemenkrieg schei-
tern sie gerade. Die Situation im Nahen
Osten ist vergleichbar mit der am Vor-
abend des Ersten Weltkriegs. Wie damals
in Europa gibt es eine Art Gleichgewicht
der Kräfte, bestehend aus der Türkei, Iran
und Israel – plus Russland und den USA.
Diese Kräfte ringen um Einfluss in der
Region. Iran hat diese Chance bekommen,
weil die arabische Welt wegen des Arabi-
schen Frühlings und des Irakkriegs im -
plodiert ist. Für Iran hat sich so eine Tür
geöffnet, sie haben nun den größten Ein-
fluss in der Region. Das wiederum ist der
Grund dafür, warum Länder wie Saudi-
Arabien wollen, dass die Amerikaner Iran
zurückdrängen.
SPIEGEL:Es klingt nicht besonders ermu-
tigend, wenn Sie die Lage im Nahen Osten
mit der Lage Europas unmittelbar vor Aus-
bruch des Ersten Weltkriegs vergleichen.
Nasr:Deswegen ist es so wichtig, dass die
USA eine ernsthafte strategische Diskus-
sion mit Iran beginnen. Wir befinden uns
in einer Situation, in der die Amerikaner
zu den Iranern sagen: »Gebt euer Atom-
programm auf, verschrottet eure Rake-
ten« – und gleichzeitig gewähren wir Israel
und Saudi-Arabien Waffenlieferungen im
Wert von 100 Milliarden Dollar. Dazu
kommt, dass die USA von den Iranern ver-
langen, sich aus allen arabischen Nachbar-
ländern zurückzuziehen. Warum sollten
die Iraner das tun? Die USA müssen sich
darüber im Klaren werden, wo die irani-
schen Sicherheitsinteressen liegen. Als
Henry Kissinger im Jahr 1971 zu einem
Geheimtreffen mit dem chinesischen Pre-
mierminister Zhou Enlai reiste, waren sei-
ne ersten Fragen: »Was sind Ihre strategi-
schen Leitlinien? Was sind Ihre sicherheits-
politischen Sorgen?« Aber leider sehe ich
im Moment keinen Mann vom Format
Kissingers im Weißen Haus.
SPIEGEL:Herr Nasr, wir danken Ihnen für
dieses Gespräch.

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THOMAS KOEHLER / PHOTOTHEK / GETTY IMAGES
Außenminister Maas, iranischer Amtskollege Zarif:Der Schaden ist enorm

»Die Situation im Nahen


Osten ist vergleichbar


mit der am Vorabend des


Ersten Weltkriegs.«

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