Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1

M


oskau erlebt aufwühlende Tage. Erst nahm die
Polizei am vergangenen Wochenende fast andert-
halbtausend Menschen fest, die auf einer fried -
lichen Kundgebung freie Wahlen zum Stadtpar-
lament gefordert hatten. Das ist ein trauriger Rekord. Dann
lobte der Bürgermeister die Sicherheitskräfte für ihre Ge -
walt – man sei hier schließlich »nicht in Simbabwe« und dulde
keine Anarchie, sagte Sergej Sobjanin im Fernsehen.
Nun ermittelt die Justiz wegen der Teilnahme an »Massen -
unruhen«, Mindeststrafe drei Jahre. Und der Polizeichef
der Stadt hätte am liebsten auch noch das Fußballderby
zwischen den Moskauer Spitzenklubs Spartak und Dynamo
an diesem Samstag abgesagt, weil die Polizei genug zu tun
habe mit neuen Protesten der
Opposition.
Man muss lange zurück -
denken, um sich an ähnlich
heftige Reaktionen der Be -
hörden zu erinnern. Das Sys-
tem Putin ist erstaunlich stabil.
In den knapp zwei Jahrzehn-
ten, die Russlands Präsident
faktisch an der Macht ist, wur-
de es nur einmal ernsthaft
erschüttert. Das war in jener
heiklen Phase, als Wladimir
Putin aus dem Amt des Pre-
miers zurück in jenes des Prä-
sidenten wechselte. Sie endete
mit drakonischen Haftstrafen
für Teilnehmer einer Groß -
demo im Mai 2012.
Sieben Jahre später fühlt sich
das Regime so stark heraus -
gefordert wie damals, wenn
man die Zahl der Festnahmen
und das angedrohte Strafmaß
zugrunde legt.
Was macht den Kreml so nervös? Es geht formal um eine
Nichtigkeit: um die Frage, wer für das Moskauer Stadtparla-
ment kandidieren darf. Dieses Parlament hat noch nicht ein-
mal auf dem Papier viel zu sagen. Bei der weit wichtigeren
Bürgermeisterwahl durfte 2013 Alexej Nawalny antreten, ein
Führer der radikalen Opposition. Warum dürfen heute weit
weniger bekannte Putin-Gegner nicht für weit unbedeuten-
dere Posten kandidieren?
Wer so fragt, verkennt die Veränderungen, die Russland seit-
her durchlaufen hat. Putins jetziges System ist am Ende. Damit
ist nicht gemeint, dass dieses System morgen verschwinden
wird. Aber sein Ende ist absehbar. 2024 muss Putin als Präsi-
dent abtreten, wenn er nicht erneut die Verfassung ändert. Wer
wird sein Nachfolger? Welche neue Konstruktion werden Putin
und sein engster Kreis wählen? Diese Fragen sorgen schon jetzt
für Unruhe. Nur dürfen sie nicht zur Sprache gebracht werden.
Es ist, als spielte Russlands politische Elite gerade »Reise nach
Jerusalem« – alle warten darauf, dass die Musik plötzlich auf-
hört, aber niemand lässt sich das Geringste anmerken.

In dieser Situation werden zwei Grundregeln des Putinis-
mus noch strenger befolgt als bisher. Erstens: Man lässt keine
fremden Spieler aufs Spielfeld. Das gilt nicht erst für die Par-
lamentswahl 2021, sondern schon für die Regionalwahlen im
September. Im Grunde ist jedes neue Gesicht in der Politik
für den Kreml ein unnötiges Risiko. Es darf keine Alternative
zu Putin geben. Deshalb gibt es ja das bizarre russische Wahl-
recht, mit dessen Hilfe illoyale Kandidaten schon vor der
Wahl ausgefiltert werden können.
Auf diese Weise wird sichergestellt, dass die Kandidaten
des Kreml schlimmstenfalls gegen die ebenfalls Kreml-loyale
parlamentarische Opposition verlieren. Solche Niederlagen
gab es bei den Regionalwahlen 2018. Die sogenannte außer-
systemische Opposition dage-
gen, die sich offen gegen Putin
stellt, ist in relevanter Zahl
überhaupt nur in den Moskau-
er Stadtbezirksparlamenten
vertreten, also auf der unters-
ten Ebene der Politik – und
auch das wohl nur, weil der
Kreml 2017 auf diese Ebene
nicht achtgab.
Aber diesmal hat sich die
Opposition bestens auf die
Wahl des Stadtparlaments vor-
bereitet. Sie hat nicht nur
Zehntausende Unterschriften
gesammelt, sie hat auch Zehn-
tausende Demonstranten mobi -
lisiert. Damit trat sofort die
zweite Grundregel des Sys-
tems in Kraft: keine Schwäche
zeigen gegenüber Druck von
der Straße. Zwar kann der
Kreml soziale und ökologische
Proteste in den Regionen nicht
mehr unterbinden, dazu sind
es zu viele, sind Armut und Unmut zu groß. Aber eine un -
genehmigte politische Kundgebung, auf der gut gestellte
Hauptstädter ganz altmodisch ihre Bürgerrechte einfordern,
bleibt ein Tabu.
Und so droht in Moskau in den kommenden Wochen ein
neuer Kreislauf von Repression und Protest, mit ungeneh-
migten Kundgebungen, Festnahmen und Gerichtsprozessen.
Profitieren werden die Chefs der Sicherheitsbehörden, die
dem Kreml ihre Unentbehrlichkeit beweisen wollen. Schaden
nehmen dagegen die ohnehin schon ausgehöhlten Institu -
tionen der Politik – das Stadtparlament und langfristig auch
das des Landes, auf das die Opposition zielt.
Gelitten hat auch das Ansehen des Moskauer Bürgermeis-
ters. Sergej Sobjanin gilt als möglicher Nachfolger Putins.
Hat die Eskalation womöglich auch den Zweck, Sobjanin zu
schwächen, bevor die Neuverteilung der Macht beginnt?
Auch darüber wird gemutmaßt. Das Jahr 2024 wirft seinen
langen Schatten voraus. Christian Esch
Twitter: @Moskwitsch

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Putins Angst


AnalyseDie Repressionen gegen Demonstranten in Moskau zeigen, wie
nervös der Kreml in die Zukunft blickt.

DER SPIEGEL Nr. 32 / 3. 8. 2019


Ausland

SERGEI ILNITSKY / NYT/ REDUX / LAIF /
Präsident Putin
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