Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1

G


anz vorn im Eton-Museum haben
sie auf mintgrünem Grund eine
Wall of Fame errichtet. Die Prin-
zen William und Harry sind dort
zu sehen, der James-Bond-Erfinder Ian
Fleming, der Erzbischof von Canterbury,
die Schauspieler Damian Lewis und Hugh
»Dr. House« Laurie. Dazu hochdekorierte
Soldaten, Olympioniken, Journalisten,
Abenteurer. Und natürlich Politiker: Da-
vid Cameron hängt da, Jacob Rees-Mogg,
der Ältere, vor einem Porträt von Jacob
Rees-Mogg, dem Jüngeren. Ganz oben
rechts grinst schließlich noch ein junger
blonder Mann ziemlich auf-
reizend in die Kamera. Das
ist Boris Johnson, er wird
als früherer Bürgermeister
von London und Ex-Au-
ßenminister vorgestellt.
Sie sind hier im Eton Col-
lege noch nicht ganz auf der
Höhe der Zeit.
Aber stolz sind sie sehr
auf ihre »Old Etonians«.
Diese, steht da ganz vorn
im Museum, »findet man
auf die eine oder andere
Weise in jeder nationalen
Bewegung, auf jeder Veran-
staltung, auf jeder Seite«.
Manche Menschen sagen:
Genau das ist das Problem.
In Großbritannien wird
gerade wieder viel gespro-
chen und geschrieben über
Eton. Aber wenn davon die
Rede ist in Tischrunden
und Kolumnen, ist natür-
lich nicht das Berkshire-
Dörfchen westlich von London gemeint,
das praktisch um die Ecke von Windsor
Castle beginnt und im Wesentlichen aus
einer langen, mit zahllosen Union Jacks
geschmückten Straße besteht.
Gemeint ist, was am Ende dieser Straße
liegt: ein gewaltiger, burgartiger, für die
Öffentlichkeit kaum zugänglicher Gebäu-
dekomplex aus rotem Backstein, fast zwei
Quadratkilometer groß und umschlossen
von der Themse und dem Jubilee River.
Das ist Eton College, mythische Kader-
schmiede des Empire, erste Adresse für
Kinder der steinreichen Elite, mit seinen
rund 1300 Schülern eines der berühmtes-
ten und ältesten Internate der Welt – und
Ausbildungsstätte von seit Neuestem ins-


gesamt 20 Premierministern des Vereinig-
ten Königreichs. Das hat noch keine ande-
re Schule geschafft. Man hat diese Männer,
so nennt man es hier, in Eton »produziert«.
Mit Boris Johnson regiert nun also er-
neut ein Old Etonian das Land. Und es
entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie,
dass dieser Mann seine größte und viel-
leicht einzige Aufgabe – den Brexit – unter
anderem von einem anderen Old Etonian
eingebrockt bekommen hat. Es war sein
Vorvorgänger David Cameron, der die Bri-
ten 2016 ohne Not in ein Referendum über
die EU-Mitgliedschaft trieb. Nimmt man

noch Tony Blair dazu, großgezogen im ex-
quisiten schottischen Fettes College, dann
wird das Schicksal des Königreichs seit
mehr als 20 Jahren im Wesentlichen von
elitären Internatsschülern bestimmt.
Kann das Zufall sein?
Eine Recherche in Privatschulen und
unter deren ehemaligen Schülern führt ge -
radewegs hinein in eine exklusive, von
archaischen Regeln und unerhörtem Reich-
tum geformte Welt, die es so tatsächlich
nur noch in Großbritannien gibt. Es ist
eine Welt, in der Erfolg, egal wie, über
allem schwebt. Eine Welt, die gemessen
an ihrer Größe so viele Staatsmänner, ver-
meintliche Kriegshelden, Nobelpreisträger,
Goldmedaillen- und Oscargewinner wie

keine andere hervorgebracht hat. Und die
wie kaum eine andere Ungleichheit und
Ungerechtigkeit befördert, vertieft und ze-
mentiert hat. Sie steht »für fast alles, was
in der britischen Gesellschaft falsch läuft«.
Boris Johnsons Schwester Rachel hat das
gesagt – und wie viele andere gefordert,
das Privatschulsystem zu zerschlagen.
Aber nichts spricht dafür, dass ihr Bru-
der das ähnlich sehen wird. Boris Johnson
hat mehr privat erzogene Politiker in sein
Kabinett berufen als viele britische Pre-
miers vor ihm. Fast zwei Drittel seiner Mi-
nister gehören zu jenen sieben Prozent der
Bevölkerung, deren Welt-
sicht in gebührenfinanzier-
ten Schulen geformt wurde.
Diese Regierung reprä-
sentiert damit eben gerade
nicht »das moderne Groß-
britannien« (Johnson), son-
dern ein archaisches Sys-
tem, das seinen Angehöri-
gen bis heute mit großem
Selbstverständnis beibringt,
dass sie zu Höherem, Grö-
ßerem, Besserem berufen
sind als der Rest. Ein Sys-
tem, das Machterhalt und
Machtausübung lehrt, in
dem aber nicht notwendi-
gerweise der Beste, son-
dern der Schlaueste ganz
nach oben kommt. Und das
in seinem Eifer, eine herr-
schende Elite zu erzeugen,
bis heute nicht wenige
Kinderseelen nachhaltig be-
schädigt hat. In den Köpfen
vieler wird dieses System
von keiner Schule formvollendeter reprä-
sentiert als vom reinen Jungeninternat
Eton College.
Dort stehen an einem Freitag Ende Juli
rund 25 Touristen aus aller Welt in der
»Upper School«. Es ist ein Klassenzim-
mer – oder besser: ein Klassensaal aus
dem 18. Jahrhundert, dessen hölzerne Aus-
kleidung übersät ist mit den eingeritzten
Namen früherer Schüler. Bis zu 70 von
ihnen wurden hier zuweilen gleichzeitig
unterrichtet, und wenn die heutigen Pen-
näler dort Platz nehmen, sind sie nie weit
entfernt von der Macht.
Von ganz oben im Saal blicken etliche
Büsten jener Männer auf sie herab, die
England einst zum Weltreich machten.

80 DER SPIEGEL Nr. 32 / 3. 8. 2019

Ausland

Kinder an der Macht


GroßbritannienBoris Johnson ist der 20. Premier, der auf dem Eton College erzogen wurde. Es steht


für ein System, in dem die Elite unter sich bleibt und das sich zu einem echten Problem auswächst.


RICHARD SHYMANSKY
»Eton Wall Game«-Spieler Johnson (M.), Mitschüler 1982
Unerbittliche Willenskraft
Free download pdf