Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1

Lord North steht da, der britische Premier,
der verbissen um seine amerikanischen
Kolonien kämpfte; der ehemalige Lord-
kanzler und Richter Earl Camden; und der
erste Duke of Wellington, Bezwinger von
Napoleon. Alle hier erzogen, um ganz
oben zu landen.
Eine dunkelbraune Tür führt von der
»Upper School« hinüber ins Zimmer des
Headmasters. Es gab lange eigentlich nur
zwei Gründe für Schüler, hier zu sein: Ent-
weder sie hatten eine Eton-Regel gebro-
chen und wurden vom Schulleiter mit einer
Birkenrute gezüchtigt. Oder sie gehörten
zur Elite der Elite und kamen in den Ge-
nuss von Extra-Unterricht. Die Namen der
Allerschlauesten sind an den Holz wänden
verewigt. Für das Jahr 1981 findet sich der
Eintrag »A. B. Johnson«, sein Name
schwebt in etwa in jenen Höhen wie
nebenan die Büsten der Geschichtshelden.
»Er war zweifellos ein sehr kluger Junge«,
sagt die Tourführerin, als eine Gruppe von
Chinesen den Namen fotografiert.


Es gibt fast niemanden, bei dem der
Teenager Boris Johnson damals keinen
bleibenden Eindruck hinterlassen hätte. In
Eton sei dieser »Yeti« genannt worden,
schrieb etwa sein ehemaliger Mitschüler
James Wood soeben in der »London Re-
view of Books«: »Der großspurige Auftritt,
das linkische Selbstvertrauen, die milchige
Blässe, das wilde Haar, die beunruhigende
Neigung zu einer unmittelbar bevorstehen-
den Selbstschädigung, die einem das Ge-
fühl vermittelte, der Junge sei gerade aus
einer psychiatrischen Einrichtung entlas-
sen worden: All das war damals schon da.«
Johnson war ein »King’s Scholar«, er
gehörte von Anfang an zu den akademisch
begabtesten Eton-Schülern. Zudem mach-
te sich der wuchtige Blondschopf schnell
einen Namen beim Rugby und beim Eton-
eigenen »Wall Game«, einem für Außen-
stehende kaum zu verstehenden Sport, bei
dem es darum geht, mit unerbittlicher
Willens- und Muskelkraft einen Ball, den
man einmal hat, nicht mehr herzugeben.

Der Weg zur Führungspersönlichkeit war
bereits angelegt, als Johnson mit 13 Jahren
aufs Internat kam. Den Rest erledigte
in den fünf Jahren, die folgten, das Eton-
System.
»Man hat uns dort immer das Gefühl ge-
geben, in jeder Hinsicht Elite zu sein, so-
zial, intellektuell, finanziell«, sagt Adam
Nicolson auf seinem von Zierpflanzen
überwucherten Landsitz in Sussex. Der
61-jährige Eton-Chronist (»About Eton«),
Enkel der Poetin Vita Sackville-West, be-
suchte das Internat in den 1970er-Jahren,
kurz bevor Johnson dort auftauchte. Er
hat zwiespältige Erinnerungen an diese
Zeit. Eton sei wie ein kleiner Stadtstaat
gewesen, bestehend aus Gruppen von
Schülern in miteinander konkurrierenden
Häusern, eine streng hierarchische »Als-
ob-Republik«, die sich als »Schule fürs
Regieren« verstanden habe, sagt Nicolson.
»Um in dieser Welt Bedeutung zu erlan-
gen, musstest du lernen, dir eine Wähler-
schaft zu sichern, zu netzwerken, Men-

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CHRISTOPHER FURLONG / GETTY IMAGES
Traditionsinternat Eton: Den ursprünglichen Zweck ins Gegenteil verkehrt
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