Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1

schen zu umgarnen.« Charme sei dabei
das probateste Hilfsmittel gewesen, mit
seiner Hilfe habe man sich aus jeder brenz-
ligen Situation befreien können.
Einmal, mit 15 Jahren, sei er von seinem
Hausleiter in betrunkenem Zustand er-
wischt worden. Dieser habe ihn beiseite-
genommen und gemahnt: »Hör zu, Adam,
du kannst dich betrinken, aber lass dich
bitte nicht erwischen. Das hier ist Eton.«
Wichtige Teile des Systems, sagt Nicol-
son, seien damals Angst und Erniedrigung
gewesen – und seien es mitunter heute
noch. Schlechte Aufsätze werden bis heute
vor der gesamten Klasse von Lehrern zer-
rissen; am Ende eines jeden Schuljahrs
steht für alle sichtbar fest, wer
als Bester in die Ferien geht
und wer als Schlechtester.
Schüler würden Mitschüler
bisweilen »schrecklich schika-
nieren«, so Nicolson, die we-
niger Schlauen habe man zu
seiner Zeit als »docker«, Ha-
fenarbeiter, verhöhnt.
Das berüchtigte »fagging«,
bei dem sich ältere Schüler
jüngere als eine Art Hausskla-
ven hielten, hat sich in dieser
Form zwar überlebt. Aber
noch immer gibt es ein Kas-
tensystem, es lässt sich unter
anderem an der seit dem
Ende des 19. Jahrhunderts im-
mer gleichen Eton-Uniform
ablesen, einem schwarzen
Dreiteiler, der die Straßen des
Städtchens Eton oft wirken
lässt, als richte es einen Kon-
gress für den Bestatternach-
wuchs aus.
Die besten Sportler, die
besten Dichter, die besten
Denker dürfen ihre Uniform
etwa durch bestimmte Kra-
watten oder Fliegen ergänzen,
und die Crème de la Crème
hat silberne Knöpfe an der
Weste. Boris Johnson gehörte
zu jenen, die früh silberne Knöpfe trugen.
Während andere Internate die Uniform
längst abgeschafft haben, hält das tradi -
tionsbewusste Eton daran fest.
Das Internat, sagt Adam Nicolson,
»hat mich gelehrt, Angst vor dem Versa-
gen zu haben. Es hat mich gelehrt, das
Beste aus mir herauszuholen«. Dafür
habe er jedoch einen hohen Preis bezahlt:
»Es hat mich danach Jahre meines Lebens
gekostet, die Teile von mir wieder her-
vorzuholen, die vom Eton-System igno-
riert oder unterdrückt wurden.« Zu hoch
scheint der Preis nicht gewesen zu sein.
Er würde jederzeit wieder nach Eton
gehen, sagt der Schriftsteller, der seither
zwei Dutzend Bücher geschrieben hat
und mit Auszeichnungen überhäuft wur-


de. Seinen Nachwuchs hat er ebenfalls
auf das Internat geschickt.
Nicolson befindet sich damit in allerbes-
ter Gesellschaft. Seit Jahrhunderten ist es
für zahllose Angehörige der britischen
Oberschicht selbstverständlich, dass sie
ihre Kinder und Kindeskinder, in der Regel
im Alter von 13 Jahren, nach Eton oder
auf eine der anderen privaten Eliteschulen
schicken. Denn ein Platz dort garantiert
nicht nur eine exzellente Ausbildung in
einem luxuriösen Ambiente, gern mal mit
Golfplatz, Reithalle, Tonstudio, Theater
oder einer Anlage fürs Tontaubenschießen.
Vor allem kann, wer in solchen Verhält-
nissen ausgebildet wurde, danach für den

Rest seines Lebens auf ein einflussreiches
Netzwerk zurückgreifen, dessen einzelne
Teile jeden relevanten Bereich der briti-
schen Gesellschaft dominieren. Wie zu
Feudalzeiten vererben die Alumni der
wichtigsten Elite-Internate – neben Eton
sind das Charterhouse, Harrow, Mer-
chant’s Taylor, Rugby, St. Paul’s, Shrews -
bury, Westminister und Winchester – da-
mit Geld, Status und Einfluss.
Auch das hat seinen Preis: Seit dem Jahr
1980 haben sich die Jahresgebühren der
Privatinstitutionen im Schnitt verdreifacht,
2017 wurde in einzelnen Schulen erstmals
die 40 000-Pfund-Grenze durchbrochen.
An Orten wie Eton sind Kosten für die
Schuluniform, Reisen und viele andere
Extras nicht einmal mit eingerechnet.

Diese Schulen haben ihren ursprüng -
lichen Zweck damit ins Gegenteil verkehrt.
Es war der tiefgläubige Bauernsohn William
of Wykeham, der 1382 mit dem Winchester
College die erste Schule dieser Art gründete.
Sie sollte 70 Kinder aus armen Familien aus-
bilden und ihnen somit den sozialen Auf-
stieg ermöglichen. Dasselbe verfügte König
Heinrich VI., als er 1440 im Schatten von
Schloss Windsor das Eton College gründete.
Weil diese Internate damit die einzigen wa-
ren, in der wirklich jedes Kind des Reiches
eine Chance auf Bildung erhalten konnte,
wurden sie »Public Schools« genannt.
Ihr hervorragender Ruf lockte jedoch
mehr und mehr Reiche an, die ihre Kinder

dort unterbrachten und dafür zunächst
freiwillig Gebühren entrichteten. Und
schon sehr bald waren Wykehams Nach-
fahren dem Lockruf des Geldes erlegen.
Immer mal wieder aufkeimende Kritik
konterten die Leiter mit dem originellen
Argument, die Schüler seien ja nach wie
vor arm, »nur ihre Eltern sind reich«.
Den Namen »Public Schools« aber be -
hielten sie – dabei könnte nichts wider -
sinniger sein.
Unter wachsendem öffentlichen Druck
haben viele der rund 2500 britischen Pri-
vatschulen in den vergangenen Jahren
zwar die Zahl der Schüler erhöht, die dort
dank Stipendien, Ermäßigungen oder gar
kostenfrei untergebracht werden. Auch
versuchen die Einrichtungen, ihrem elitä-

82 DER SPIEGEL Nr. 32 / 3. 8. 2019

Ausland

DAVID LEVENSON / ALAMY STOCK PHOTO
Schüler bei Bootszeremonie in Eton: »Lass dich nicht erwischen«
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