Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1

dien, ja sogar der Brexit-Frontmann Boris
Johnson nicht gerechnet hatten.
Nick Duffell wundert das nicht. »Elite-
Internate bringen konsequent Menschen
hervor, die kompetenter wirken, als sie
sind«, sagt der 70-jährige Psychothera-
peut. Duffell ist an einem trüben Mitt-
woch in London auf dem Weg ins briti-
sche Unterhaus, um an einem Forum zur
Abschaffung der Privatschulen teilzu -
nehmen. Vorher aber nimmt er sich kurz
Zeit, um bei einem Cappuccino über sein
Lebensthema zu sprechen, das ihn seit
25 Jahren beschäftigt. Es handelt
von »Internats-Überlebenden« –
er ist selbst einer.
Ein System, das Kinder über
viele Monate von ihren Eltern
fernhalte und das es so nur in
Großbritannien gebe, habe bei vie-
len seiner Patienten bleibende
Schäden angerichtet, sagt Duffell.
Man müsse sich Orte wie Eton so
vorstellen: Es gehe darum, »Eltern
zu marginalisieren, Kinder unter
einem Dach zusammenzubringen,
sie von sexuellen Kontakten fern-
zuhalten, sie durch ein straffes
Lern- und Sportprogramm zu
schleusen, das kaum Freizeit lässt,
und so ein Produkt zu erzeugen,
das einen quasi eingebauten An-
spruch hat, etwas Besseres zu
sein«. Wer daraus hervorgehe, sei
in der Regel selbst bewusst, elo-
quent und charismatisch. Aber ei-
nes hätten die Betroffenen eben
oft nicht: die Fähigkeit, mit ihren
eigenen Gefühlen und denen an-
derer umzugehen.
Britische Internatsschüler, sagt
Duffell, müssten früh ihre Familie
und ihr Zuhause verlassen und
in einem auf Konkurrenzkampf
und Schikane basierenden Umfeld
überleben. Das führe oft dazu,
dass sie das Kind in sich weg -
sperrten und in Windeseile zu
»Pseu do-Erwachsenen« würden.
Daher wirkten viele von ihnen so
»jungenhaft«. De facto werde Groß-
britannien derzeit von Kindern in
Männerkörpern regiert, für die Politik nicht
mehr als ein faszinierendes Spiel sei.
»Wounded Leaders«, verwundete An führer,
hat Duffell eines seiner Bücher genannt.
Es ist ein bestechender Gedanke. Und
wenn man sich umschaut in der Riege
der politischen Alphatiere, fällt ja tatsäch-
lich ein gewisser Hang zur Infantilität
auf. Boris Johnson und sein verwuscheltes
Haar, Jacob Rees-Mogg, der sich bis heute
gern mit seiner Nanny ablichten lässt,
David Cameron, der nach seiner brutalen
Brexit-Niederlage 2016 summend das
Schlachtfeld verließ, oder Nigel Farage,
noch so ein Eliteschüler, der stets wie


eine fleischgewordene »Simpsons«-Figur
wirkt.
Nick Duffell ist für seine These von Tei-
len des britischen Establishments harsch
gerügt worden, als er sie vor Jahren erst-
mals äußerte. Inzwischen aber sprechen
auch viele andere von einem »Internats -
syndrom«. Es gibt erschütternde Berichte
über Psychoterror, drakonische Strafen
und sexuellen Missbrauch. Vor ein paar
Jahren taten sich Psychologen, Ärzte und
Akademiker zu einer Aktionsgruppe zu-
sammen, um die privaten Eliteanstalten

aufzurufen, wenigstens keine kleinen Kin-
der mehr aufzunehmen: Das sei schädlich
für deren Psyche und Ausdruck eines ver-
alteten Klassen systems. Der Ruf wurde ge-
hört – und postwendend beiseitegewischt.
Dabei dürfte zumindest eines unstrittig
sein: Das britische Internatssystem ist
nicht dazu angetan, den Betroffenen ein
realistisches Bild davon zu vermitteln, wie
die weit überwiegende Mehrheit der
Menschen im Land lebt. Die Jahre im
Bildungsluxus sind vielmehr dazu geeig-
net, die Kluft zwischen einer kleinen

* Nach einem »Wall Game«-Spiel.

selbst ernannten Elite und dem großen
Rest immer weiter zu vertiefen. Natürlich
gibt es Gegenbeispiele wie den britischen
Nachkriegspremier Clement Attlee, der
als Vater des Wohlfahrtssystems gilt, oder
aktuell den Tory-Abgeordneten Rory
Stewart, der mit seiner bescheidenen, aus-
gleichenden Art das Gegenteil von Boris
Johnson verkörpert.
Für viele andere der herrschenden poli-
tischen Elite aber gilt, was Robert Verkaik
schreibt: »Diese Schüler verlassen die
Schule mit aufgepumpten Egos, einem
unerschütterlichen Glauben in ihre
eigenen Fähigkeiten und einer
Sehnsucht nach Erfolg. Aber dieses
System zur Selbst-Auswahl unserer
Führer könnte einer Nation erheb-
lich schaden, die versucht, mit
einem bescheideneren Platz in der
Welt zurechtzukommen.«
Selbst unter Konservativen
wächst das Unbehagen daran, dass
die Tory-Partei zusehends die Bo-
denhaftung verliert. Die konserva-
tive Abgeordnete Nadine Dorries
beschrieb Ex-Premier David Ca -
meron und seinen ebenfalls privat
erzogenen Schatzkanzler George
Osborne 2012, nach Jahren bruta-
ler Sparpolitik, als »zwei arrogante
Jungs, die den Preis von Milch
nicht kennen, keine Gewissens -
bisse zeigen und kein leidenschaft-
liches Interesse am Leben von
anderen. Das ist ihr wirkliches
Verbrechen«.
Dorries hätte auch ihren Partei-
freund Johnson meinen können,
der damals Bürgermeister von
London war und der sich erst
jüngst unfähig zeigte, die Höhe
des britischen Mindestlohns kor-
rekt zu benennen, stattdessen
aber Steuersenkungen für die
obersten zehn Prozent der Gesell-
schaft in Aussicht stellte. Selbst
der linken Anwandlungen unver-
dächtige »Economist« urteilte:
»Großbritannien wird von einer
selbst bezogenen Clique regiert,
die Gruppenzugehörigkeit über
Kompetenz stellt und Selbstvertrauen
über Sachverstand.«
Es wird diese wohlhabende und bestens
vernetzte Clique sein, die in den kommen-
den Monaten den Brexit stemmen will
und die vermutlich deshalb keinerlei
Angst vor einem vertragslosen Bruch mit
der EU hat, weil sie ganz sicher nicht den
Preis dafür zahlen müsste. Die Mitglieder
dieser Clique wissen, dass sie fein raus
sein werden, das war schon immer so.
Sie haben es nicht anders gelernt.
Jörg Schindler
Mail: [email protected]

84 DER SPIEGEL Nr. 32 / 3. 8. 2019

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Internatsschüler Prinz Harry 2002*:»Nur die Eltern sind reich«
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