Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1

sich. Er sagt, er habe seine Lebensgefähr-
tin dabei schon mal verletzt. Auch deshalb
schläft Harzer meist allein.
Seine ersten beiden Ehen sind wegen
der PTBS zerbrochen. Er hat einen zwölf-
jährigen Sohn, den er kaum sieht. Auch
die beiden erwachsenen Söhne trifft er
selten. »Es ist schwierig mit mir«, sagt
Harzer.
Laut seinen Ärzten leidet er an einer
»komplexen PTBS«. Damit einhergehe,
definiert die Deutschsprachige Gesell-
schaft für Psychotraumatologie, ein »viel-
fältiges Beschwerdebild« durch voran -
gegangene »lang anhaltende Traumatisie-
rungen«.
Den Therapeuten hat Harzer die Ge-
schichte von dem Siebenjährigen in Afgha-
nistan erzählt, der mit einem Schnellfeuer -
gewehr auf ihn zugelaufen sei. »Ich musste
ihn erschießen«, sagt Harzer. Dass der Jun-
ge das Gewehr nur abgeben wollte, habe
er erst im Nachhinein erfahren. Ob es sich
tatsächlich so zugetragen hat, lässt sich
heute nicht mehr überprüfen.
Psychiater definieren ein Trauma damit,
dass ein Mensch mit tatsächlichem oder
drohendem Tod, schwerer Verletzung
oder sexuellem Missbrauch konfrontiert
war – sei es als eigenes Erlebnis oder das
eines nahestehenden Menschen.
Harzer war auch, so erzählt er, Bord-
schütze in einem Hubschrauber, der bei
der »Operation Libelle« am 14. März 1997
half, Menschen aus der deutschen Bot-
schaft in der albanischen Hauptstadt Tira-
na herauszuholen.
»Unser Heli wurde vom Boden aus an-
gegriffen«, erzählt Harzer. »Wenn dann
der Befehl ›Schießen!‹ über deinen Kopf-
hörer kommt, hältst du auf alles drauf, was
sich bewegt.« Er wisse nicht, wie viele Le-
ben er mit dem Maschinengewehr an die-
sem Tag ausgelöscht habe.
Jörg Beckers, 42, hat eine sanfte Stim-
me. Kerzengerade sitzt er an einer Hotel-
bar am Berliner Alexanderplatz, super-
pünktlich, wie er es beim Bund gelernt hat.
In seiner Welt retten Regeln und Zuverläs-
sigkeit Leben.
»Bei mir kam die PTBS schleichend«,
sagt Beckers. »Ich wollte es nicht wahr -
haben.« Als er sich aber über die Jahre
immer mehr in sich zurückzog, unausge-
glichener und reizbarer wurde, habe seine
Frau Anke irgendwann gesagt: »Tu was,
oder ich gehe.«
Beckers hielt vor anderen Soldaten Vor-
träge über seine Erkrankung gehalten.
Aufklärung ist wichtig in einer Truppe, die
zur Härte erziehen will, in der schon in
der Grundausbildung Losungen wie »Klag
nicht, kämpfe!« ausgegeben werden. Und:
»keine Einzelschicksale«. Heute engagiert
er sich als Fallmanager beim Bund Deut-
scher Einsatzveteranen und berät Be -
troffene.


Beckers steckt noch mittendrin in der
Behandlung. »PTBS wird immer ein Teil
meines Lebens sein. Aber die Krankheit
soll nicht über mich bestimmen, sondern
ich über die Krankheit«, sagt er; es hört
sich an, als spräche sein Therapeut.
Beckers kann nicht über alles berichten,
was ihn traumatisiert hat. Er ist Geheim-
nisträger, in der Aufklärung tätig. So viel
darf er erzählen: Er war zu einer Zeit in
Afghanistan, in der es viele Gefechte und
Anschläge gab. Sein Auftrag bei der Bun-
deswehr war es, Informationen zu sam-
meln, um eine Gefahr für »die eigenen Sol-
daten frühestmöglich zu erkennen«.
Trotzdem kam es im Februar 2011 in
einem Außenposten in der Provinz Bagh -
lan zu einem Anschlag, bei dem ein Af-
ghane drei deutsche Soldaten erschoss.
Der Fall ist belegt, ging durch die Presse.
»Das ließ mich nicht mehr los«, sagt Be-
cker. »Es hat sich in meine Seele einge-
brannt. Ich mache mir bis heute Vorwürfe,
ich frage mich, ob ich das Geschehnis
nicht hätte verhindern können.«
Beckers’ Krankenakte ist dick. Darin fin-
det sich auch eine sogenannte Erlebnis-
landkarte, in der er sein Leben als Grafik

dargestellt hat, mit Balken für Erlebnisse,
die in den Plus- oder in den Minusbereich
ragen. Seit Februar 2011 zeigen viele Bal-
ken nach unten. Das Ganze ist akkurat auf-
gezeichnet, es gleicht einer Schulaufgabe
in Mathematik.
Was das Diagramm über Beckers sagt:
Er nimmt es ganz genau. Fehler sind nicht
vorgesehen. Und wenn sie doch passieren,
kann er nicht aufhören, damit zu hadern.
Beckers’ Ärztin, Franziska Langner
vom Bundeswehrkrankenhaus Berlin, sagt,
dass er seine Sache gut mache: »Wir haben
jetzt vielleicht die Hälfte der Therapie
durch, und die Behandlung wirkt.«
Die Behandlung heißt in diesem Fall
EMDR, für Eye Movement Desensitiza -
tion and Reprocessing. Sie wurde in den
USA entwickelt. Dabei fixiert der Patient
beispielsweise eine Lichtquelle, einen Fin-
ger oder Gegenstand, der sich hin- und
herbewegt. Währenddessen holt der The-
rapeut das traumatische Erlebnis aus der
Erinnerung hoch, fragt nach den Gefühlen
bei der Konfrontation. Man kann es sich
vorstellen wie bei einer Festplatte: Eine
Datei wird geöffnet, betrachtet, modifi-
ziert und neu abgespeichert.
Der Psychiater Karl-Heinz Biesold, in-
zwischen im Ruhestand, hat EMDR fast

zwei Jahrzehnte lang am Bundeswehr-
krankenhaus Hamburg angewandt. Er
sagt: »Zuerst dachte ich, die Amis spinnen.
Aber dann sah ich die Erfolge bei den
Patienten.«
Auch Peter Zimmermann, Arzt und Lei-
ter des Psychotraumazentrums am Bun-
deswehrkrankenhaus Berlin, hält die Me-
thode für »wirksam und sehr gut er-
forscht«. Man müsse aber Geduld haben,
die Behandlungserfolge seien erst mittel-
bis langfristig zu sehen. Und: »Bei einem
Teil der Patienten gibt es eine Chronifizie-
rung der Krankheit.«
Die Bundeswehr ist in einem Dilemma:
Sie muss über PTBS aufklären, die ver-
sehrten Soldaten gut versorgen – und
trotzdem attraktiv bleiben als Arbeitgeber
für junge Männer und Frauen. Was gar
nicht so einfach ist in Deutschland. Laut
dem letztjährigen Sicherheitsreport des In-
stituts für Demoskopie Allensbach und
des Centrums für Strategie und höhere
Führung genießt die Bundeswehr im eige-
nen Land immer weniger Rückhalt. »Nur
28 Prozent halten die Truppe für einsatz-
fähig und gut ausgerüstet«, heißt es.
In einer Studie an Bundeswehrsoldaten
mit einer PTBS-Dia gnose wurde 2015
die Wirksamkeit von EMDR als trauma -
therapeutisches Verfahren mit einer Kon-
trollgruppe verglichen. Dabei stellte sich
EMDR als effektivere Behandlungsform
für die Ver min derung von Symptomen
einer PTBS oder Depression nach erlitte-
nen Traumata heraus.
Kontrollierte Studien, die 2015 auch
von der Deutschsprachigen Gesellschaft
für Psychotraumatologie mit einem For-
schungspreis ausgezeichnet wurden, zeig-
ten deutliche Hinweise auf eine Wirksam-
keit. Viele Studien aus den USA kommen
zu ähnlichen Resultaten.
Jörg Beckers reist zwei- bis dreimal im
Jahr für mehrere Wochen von Gerolstein
in der Eifel, da wohnt er, nach Berlin zum
Bundeswehrkrankenhaus und muss dann
zweimal in der Woche zur EMDR-Thera-
pie. Das Zimmer, in dem er behandelt
wird: grüner Boden, viele Pflanzen, die
Ärztin gut gelaunt. Beckers ist ernst. Er
kennt das schon, für ihn bedeutet der Ter-
min seelische Schwerstarbeit. »Bleiben Sie
dran!«, sagt Franziska Langner, als Be-
ckers seine Emotionen beschreiben soll
und ins Stocken gerät. »Folgen Sie mit den
Augen dem Licht.«
Er fühle sich »angespannt im ganzen
Körper« – und wieder schuldig wegen sei-
ner getöteten Kameraden. Immer wieder
gehen Beckers und die Ärztin seine Gefüh-
le und Gedanken durch, immer wieder
schauen sie darauf, was ihm so zusetzt. Am
Ende sagt Beckers, dass es in Ordnung sei,
Schwächen und Schuldgefühle zu haben.
Dass er ein guter Soldat sein könne, wenn
er seine Emotionen auslebe und aushalte.

94 DER SPIEGEL Nr. 32 / 3. 8. 2019

Wissenschaft

»Zuerst dachte ich, die
Amis spinnen. Aber
dann sah ich die Erfolge
bei den Patienten.«
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