Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1

es in diesem frühen Entwicklungs -
stadium noch nicht. Es wächst deshalb
ein Mischwesen heran, das aus Zellen
teils des einen, teils des anderen Or-
ganismus besteht.
Wen das empört, dem sei gesagt,
dass Ähnliches auch beim Menschen
vorkommt – auf ganz natürliche
Weise. Immer wieder wurden Fälle
von Zwillingsschwangerschaften be-
schrieben, bei denen es zum Aus-
tausch von Stammzellen gekommen
ist. Ein Leben lang tragen solche
Menschen die Zellen ihres Geschwis-
ters mit sich herum, ohne je davon
zu erfahren – es sei denn, sie ma-
chen einen Gentest, bei dem sich
herausstellt, dass ein Teil von ihnen
gar nicht zu ihnen gehört.
Nun handelt es sich hier um einen
Mix aus Mensch und Mensch. Wie
aber sieht es aus mit der Mensch-
Tier-Vermischung? Ist auch die tech-
nisch möglich? Durchaus, und sie ge-
schieht keineswegs selten. In gewis-
sem Sinn lässt sich sogar ein Mensch,
dessen Herzklappenfehler die Chi-
rurgen mit einer Schweineklappe
korrigiert haben, als Mischwesen aus
Mensch und Schwein betrachten.
Grundlegender wäre die biolo -
gische Vermischung, wenn die Ärzte
Herzkranken gleich ganze Schweine-
organe implantierten. Das ist bisher nicht
möglich, schon weil das Immunsystem all-
zu heftig dagegen rebellieren würde. Aber
die Forscher arbeiten daran, und sie sind
zuversichtlich, dass solche Xenotransplan-
tationen schon bald klappen könnten. Was
bei einer solchen Operation dann entsteht,
wird vermutlich nicht »Chimäre« genannt
werden – aber es wäre eine solche.
Bei der Xenotransplantation ginge es,
falls sie denn Wirklichkeit werden sollte,
um die Einführung tierischen Gewebes
in den menschlichen Organismus. Das Un -
behagen im Fall von Nakauchis Experi-
menten gilt dem umgekehrten Fall: dem
Menschen im Tier. Gerade diese Chimären -
variante ist in den Laboren besonders oft
anzutreffen.
So können Forscher bei Bedarf zum Bei-
spiel Mäuse mit vermenschlichten Lebern
bestellen. Die eigenen Organe der Maus
wurden zerstört und der dabei entstehen-
de Freiraum sodann mit menschlichen Le-
berzellen bepflanzt. Diese wachsen zu ei-
nem weitgehend funktionstüchtigen Or-
gan heran. Wissenschaftler sehen in diesen
Kreaturen höchst nützliche Modelltiere
für die Stoffwechselforschung.
Noch häufiger kommen Mäuse vor, de-
ren blutbildendes System durch ein solches
des Menschen ausgetauscht wurde. Mit an-
deren Worten: In ihren Adern schwimmen
menschliche Blutzellen. »Eine Vielzahl
deutscher Unikliniken arbeitet mit solchen


Tieren«, sagt der Ulmer Stammzellfor-
scher Hartmut Geiger. Auch er selbst ver-
wendet sie für seine Leukämiestudien.
Selbst vor dem Gehirn, dem ethisch hei-
kelsten Körperteil, machen die Forscher
nicht Halt: Schon im Jahr 2005 berichtete
derSPIEGEL(18/2005) von Experimenten
Göttinger Forscher, die menschliche
Stammzellen ins Denkorgan von Affen ge-
spritzt hatten. Sie hatten das Potenzial,
sich dort in voll funktionstüchtige mensch-
liche Nervenzellen weiterzuentwickeln.
Inzwischen sind ähnliche Versuche in
den Laboren weltweit üblich. »Wir haben
gerade erst eine Arbeit über chimäre
Gehirne veröffentlicht«, sagt der Bonner
Stammzellforscher Oliver Brüstle.
Sogar ganze Organoide, bestehend aus
rund einer Million miteinander vernetzter
menschlicher Neurone, wurden bereits in
Rattenhirne eingebaut. Sie wuchsen dort
an und knüpften Kontakte zum umliegen-
den tierischen Gewebe. In einem anderen
Fall wuchsen menschliche Gliazellen im
Gehirn neugeborener Mäuse heran. Die
entstandenen Chimären besaßen ein auf-
fällig gesteigertes Gedächtnis.
Wenn all diese Experimente zum Alltag
in den Laboren gehören, ohne öffentliches
Aufsehen zu erregen, warum geht dann
Angst angesichts von Nakauchis Tieren
um? Dem Japaner ist es bereits gelungen,

* Im Nakauchi Lab 2010.

in Mäusen gut ausgebildete Bauch-
speicheldrüsen aus Rattenzellen he-
ranreifen zu lassen. In ähnlicher Wei-
se hofft er, irgendwann Schweine mit
Menschen-Pankreas züchten zu kön-
nen. Daraus ließen sich dann Insulin
produzierende Insel zellen gewinnen,
die das Leid von Millionen Diabetes-
kranken weltweit lindern könnten.
Nakauchi will so Chimären er-
schaffen, die sich in zweierlei Hin-
sicht von den oben genannten un-
terscheiden. Zum einen setzt er
beim Embryo an, also in einem ex-
trem frühen Entwicklungsstadium.
Auf diese Weise wachsen der
Schweinekörper und sein mensch -
liches Organ zu einem gemeinsa-
men, harmonisch miteinander ver-
bundenen Organismus heran.
Es ist schwer vorherzusagen, ob
im Zuge dieses Reifeprozesses ein-
zelne der zunächst noch undifferen-
zierten menschlichen Zellen einen
anderen Entwicklungspfad einschla-
gen. Auf diese Weise könnten sie
womöglich auch den Weg bis ins
Gehirn finden, wo sie sich dann als
Nerven zellen im heranwachsenden
Schweinehirn verschalten würden.
Was aber, wenn solche mensch -
lichen Irrläufer die Kognition des
Tiers modifizierten?
Diese Vorstellung bereitet Ethikern die
größten Sorgen. Deshalb hat Nakauchi viel
Aufwand getrieben, um die Bedenken zu
zerstreuen. Mit genetischen Schaltern ver-
sucht er, den Entwicklungsweg hin zu Ner-
venzellen zu blockieren.
Der zweite Unterschied zu anderen
Labor chimären besteht im Ziel, das Na ka -
uchi verfolgt. Er will nicht Modelltiere für
die Forschung erschaffen, sondern lebende
Organspender, die dann zum Wohle von
Kranken geopfert werden. In den Augen
von Ethikern ist die Heilung von Men-
schen ein hoch zu bewertendes Ziel. Trotz-
dem fühlt sich manch einer unwohl bei der
Vorstellung von Schweinen, die in Ställen
dahinvegetieren zu dem einzigen Zweck,
ihre Organe ernten zu können.
»Eine wichtige Rolle spielt hier der
Yuck-Faktor«, sagt die Medizinethikerin
Alena Buyx vom Deutschen Ethikrat. So
nennen Wissenschaftler das Schaudern,
das viele angesichts unheimlich erschei-
nender Neue rungen aus den Biolaboren
erfasst. »Es handelt sich um eine emo -
tionale Reak tion«, erklärt Buyx. »Der
Yuck-Faktor taugt nicht als ethisches Ar-
gument, trotzdem dürfen wir ihn nicht
ignorieren.«
Denn selbst segensreiche Fortschritte
der Biotechnologie werden scheitern,
wenn sie von den Menschen nicht auch als
solche betrachtet werden. Johann Grolle

DER SPIEGEL Nr. 32 / 3. 8. 2019 97


Wissenschaft

Versuchstiere Ratte, Ratte-Maus-Chimäre, Maus*
»Klarer ethischer Megaverstoß«?

NAKAUCHI LAB AT THE UNIVERSITY OF TOKYO
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