Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1
haben einen frischen Blick auf die Dinge.
Das ist enorm wichtig. Die sagen einfach:
So, da muss jetzt was passieren. Die
Kinder und Jugendlichen haben auch ka-
piert, dass sie wirklich etwas bewegen
können. Gleichzeitig sagen sie: Ihr Er-
wachsenen müsst das Problem lösen –
und damit haben sie recht. Dürfen wir ih-
nen ins Gesicht schauen und sagen: »Nein,
wir machen da jetzt nicht mit, das ist uns
zu aufwendig«?
SPIEGEL:Sollte der 16-jährigen »Fridays
for Future«-Gründerin Greta Thunberg
der Friedensnobelpreis verliehen werden?
Gabrysch:Den haben schon einige be-
kommen, die ihn weniger verdient haben.
Greta Thunberg ist erstaunlich, sie spricht
glasklar und sagt, wie es wirklich ist.
Sie nimmt da einfach keinerlei falsche
Rücksichten. Wissenschaftler haben ihre
Botschaften oft so formuliert, dass die
Menschen die Gefahr nicht voll erfasst
haben. Aber mit der Klimakrise ist es wie
in der Medizin: Man muss erst mal die
Dramatik der Diagnose verstanden ha-
ben, um sich auf eine schwierige Therapie
einzulassen. Dank Greta Thunberg ver-
stehen jetzt immer mehr Menschen die
Dringlichkeit des Problems – und dass
wir es gemeinsam lösen können.
Interview: Marco Evers
Mail: [email protected]

Mobilisierung aller Kräfte der Gesell-
schaft, um diese Krise zu meistern. Die
ökologischen Grenzen unseres Planeten
sind nicht verhandelbar. Unser Wirt-
schaftssystem, unser Verhalten – das ist
veränderbar.
SPIEGEL:Theoretisch. Aber auch prak-
tisch?
Gabrysch:Warum sollten wir das nicht
können? Unsere Gesundheit und unsere
Sicherheit sind in Gefahr, die unserer Kin-
der und Enkel genauso. Es liegt in unserer
Hand, einen anderen Umgang miteinan-
der und mit der Natur zu finden.
SPIEGEL:Können Sie Forscherin und
gleichzeitig Aktivistin sein?
Gabrysch:Mit Aktivismus hat das nichts
zu tun. Als Ärztin und Epidemiologin bin
ich verantwortlich dafür, die Gesundheit
der Bevölkerung zu schützen. Wenn ich
sehe, dass diese in Gefahr ist, dann muss
ich den Mund aufmachen. Da kann ich
mich nicht im Elfenbeinturm verschanzen.
Es kommt jetzt darauf an, dass noch viel
mehr Menschen ihre Stimme erheben und
gemeinsam anpacken.
SPIEGEL:Wie viel kann die »Fridays for
Future«-Bewegung ausrichten?
Gabrysch: Im März war ich auf der
Demo in Berlin, und das war für mich das
inspirierendste Erlebnis seit Jahren. Ich
war überrascht, wie gut viele dieser jun-
gen Menschen informiert sind. Und die

SPIEGEL:Können wir den Klimawandel
denn noch abwenden?
Gabrysch:Nein, er ist ja schon da. Es geht
darum, ihn rasch zu begrenzen und das
Überschreiten von Kipppunkten zu ver-
meiden. Aber wir haben vielleicht gerade
noch Zeit, das Blatt zu wenden und das
Schlimmste zu verhindern. Wir können es
schaffen – wenn wir den Ausstoß von
Treibhausgasen schnell deutlich senken
und der Natur wieder mehr Raum geben.
Die Menschen müssen verstehen, wie
ernst und wie dringend die Lage ist, aber
sie sollten dabei nicht in Verzweiflung ver-
sinken, sondern ins Handeln kommen. Je-
der kann in seinem Leben etwas ändern,
aber auch helfen, politischen Druck auf-
zubauen. Ohne den geht es nicht.
SPIEGEL:Ihr Optimismus in Ehren, aber
bisher fehlt doch jeder Hinweis auf eine
echte Wende zum Besseren. Die weltwei-
ten CO
²
-Emissionen nehmen zu, statt zu
sinken.
Gabrysch:Das stimmt. Es war aber bisher
auch keine Priorität. Die Frage ist: Wo
liegt unsere Priorität? Wo stecken wir un-
sere Energie, unsere Kreativität und unser
Geld rein? Menschen haben schon so viel
hinbekommen. Wir haben die Sklaverei
abgeschafft. Wir sind auf dem Mond ge-
landet. 1989 haben friedliche Demons-
tranten in der DDR das System zu Fall ge-
bracht. Heute brauchen wir eine massive


ANTHONY ANEX / EPA-EFE / REX / SHUTTERSTOCK

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Schweizer Lac des Brenets im September 2018 nach Monaten der Dürre: »Riesenherausforderung und Riesenchance«
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