Die Zeit - 01.08.2019

(Kiana) #1
Kleine Fotos (v. o.): Frank Rumpenhorst/dpa;
Jacques Demarthon/AFP/Getty Images


  1. August 2019 No 32


Kampf um


das Wasser


In Deutschland ist
es heiß, und der
Regen bleibt aus.
Das führt zu streit
seite 17

D e r Wa h n s i n n


des Heilers


Ein Arzt will den
Krebs besiegen und
startet einen
Menschenversuch
seite 11

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Der Todesstoß


Wer ist der Mann
aus Eritrea, der ein
fremdes Kind vor
den Zug schubste?
seite 2

DIE ZEIT

Millionenstreit


In Frankreich hatte eine Frau einen
Lottoschein im Wert von 163 Mil‑
lionen Euro auf der straße gefun‑
den und wollte den gewinn regel‑
widrig selbst kassieren. Man ging
vor gericht und einigte sich auf
zwölf Millionen Finderlohn. Den
wollte das Finanzamt mit 4,3 Mil‑
lionen besteuern. Jetzt hat ein ge‑
richt entschieden, dass die summe
steuerfrei ist. Der streit beschäftigte
die Justiz seit 2011. Wahres glück
sieht anders aus. GRN.

PROMINENT IGNORIERT

4 190745 105507

32

D


ie Aktivistinnen von »Fridays
for Future« (FFF) sagen, der
Klimawandel könnte zur größ‑
ten Katastrophe in der ge‑
schichte der Menschheit wer‑
den. Darüber kann man strei‑
ten. Fest steht, dass es eine Katastrophe ist. und
fest steht auch, dass es sich um eine Krise ganz
neuer Art handelt.
so ist sie zwar menschengemacht, aber es gibt
keinen Feind, keinen Verursacher mit Namen
und Adresse – oder wenn doch, dann erblicken
wir ihn jeden Morgen im spiegel. Es gibt auch
keine unterdrückte soziale Klasse, die Opfer die‑
ser Entwicklung wäre – oder wenn doch, dann
sind es die Jungen, die von den Folgen der Erd‑
erhit zung ungleich stärker betroffen sein werden.
Dass der Planet in der Klimakrise steckt, ist
nicht einfach ein thema, das 13. Ministerium
sozusagen. Denn ein Planet ist nun mal Voraus‑
setzung für alles, auch für die Wirtschaft, die wir
so heiligen. Politik muss hier also mit etwas um‑
gehen, was sie bisher kaum kannte: Zwar können
alle Maßnahmen gegen die Klimakrise demokra‑
tisch verhandelt werden, nur mit der Natur selbst
lässt sich nicht schachern. Nicht verhandelbare
physikalische Realität – von so etwas bekommt
die Demokratie Pickel. Hilft aber nichts.

Die CDU-Vorsitzende nimmt Reißaus vor
einer gigantischen Aufgabe

Weil die Klimakrise ein Menschheitsproblem
eigener Art darstellt, fällt es Politik und Öffent‑
lichkeit so schwer, mit ihr umzugehen. Darum
kam, mit Blick auf Deutschland, der Anstoß zu
einer leidlich problemadäquaten Debatte nicht
aus dem politischen system – auch nicht von
den grünen. Der Druck, der jetzt spürbar ist,
entfaltete sich nicht in der medialen Öffentlich‑
keit. Die geht immer noch recht routiniert mit
der situation um, ganz so, als wären die Ein‑
haltung des 1,5‑grad‑Ziels und die steigerung
der Verteidigungsausgaben auf zwei Prozent des
Haushalts ähnlich relevante Ziele.
Nein, der Anstoß zum Klimarealismus ent‑
stand außerhalb des Establishments, bei den
Hunderttausenden Jugendlichen und einem
wütenden Influencer. und nun beharren diese
jungen Leute nicht mehr nur auf ihrem Recht zu
streiken, nein, sie fordern die gesamte gesell‑
schaft auf, ebenfalls zu streiken. und zwar am

20.september, weil dann in New York ein uN‑
Klimagipfel stattfindet. Wieder so eine fast letzte
Chance, während in Berlin das Klimakabinett
darüber entscheidet, ob Deutschland seine Ver‑
pflichtungen aus dem Pariser Klimaabkommen
doch noch einhält. und wenn ja: wie.
Nun könnte man einwenden, wozu streiken,
Politik und Öffentlichkeit sind aufgewacht, nie
zuvor gab es so viele Bekenntnisse zur Klimawen‑
de, die sache läuft. Doch die FFFler sind gebrann‑
te Kinder. Als sie das Licht der politischen Welt
erblickten, wurde bereits viel übers Klima geredet,
der Himmel füllte sich mit guten Worten – und
mit CO₂. Misstrauen ist also angezeigt.
Denn noch immer steht seitens der CDu


  • jener Partei, auf die es vor allem ankommt –
    hinter jedem Bekenntnis zur Klimawende min‑
    destens ein Aber, meist mehrere. und warum
    eine Verfechterin des agrarindustriellen Raub‑
    baus an Natur und Klima wie Bundeslandwirt‑
    schaftsministerin Julia Klöckner plötzlich eine
    180 ‑grad‑Wende hinlegen sollte, erschließt sich
    nicht. Währenddessen flieht die CDu‑Vorsit‑
    zende Annegret Kramp‑Karrenbauer ins kon‑
    ventionelle Verteidigungsministerium, nimmt
    also Reißaus vor ihrer gigantischen Aufgabe: der
    Partei der Mitte, des Maßes und des Minimal‑
    konsenses eine Art Revolution abzuverlangen,
    eine fundamentale Wende. und die sPD? Lenkt
    sich wieder mit ihrem Vorsitzenden‑spiel ab,
    diesmal in der Disco‑Fassung.
    Es stimmt, die öffentliche Debatte über das
    Klima hat an Volumen zugenommen, allerdings
    wird ausufernd über Nebenfragen diskutiert: ob
    Klimaschützer selbst konsequent leben, ob sie
    angreifbar sind. Darin liegt die Hoffnung, durch
    Widerlegung der Klimaschützer den Handlungs‑
    druck zu lindern. Das ist leider nicht der Fall.
    Aber das soziale. Aber die AfD. Aber die Wirt‑
    schaft. Aber die fliegenden Klimaschützer – die
    Abers sind der schutzwall gegen eine Verände‑
    rung, die rhetorisch so bereitwillig begrüßt wird.
    Ob da ein streik das Mittel der Wahl ist, sei da‑
    hingestellt, doch eines ist klar: Die schlacht um
    eine realistische 1,5‑grad‑Politik ist nicht ge‑
    schlagen, sie hat noch nicht einmal begonnen.
    Entscheidend ist nicht, ob ökonomische und so‑
    ziale Aspekte miteinbezogen werden sollen, na‑
    türlich sollen sie das. Entscheidend ist, was vor
    der Klammer steht: die 1,5 grad oder das Aber.


Die Ja-aber-Sager


umweltaktivisten rufen zum generalstreik auf. sie müssen vor
allem unschlüssige Politiker zum Handeln bewegen VON BERND ULRICH

http://www.zeit.de/audio

KLIMASTREIK

Vom Familientisch bis zum staatsbankett –


warum das gemeinsame Essen für die Menschen so wertvoll ist WISSEN


Fest des Essens



  1. JAHRgANg C 7451 C


N


o


32


B


oris Johnson ist am Ziel. Er hat
erreicht, worauf er hart hingear‑
beitet hat: Er ist Premierminister
großbritanniens – und Europas
politischer sprengmeister. Er war
bereit, sein Land zu spalten, in Pro‑
Europäer und Anti‑Europäer. und er war bereit,
die Briten zu belügen. Jetzt ist Johnson der Ver‑
handlungspartner der Eu bei den Brexit‑gesprä‑
chen. Was er in der Heimat geschafft hat, versucht
er nun auch international hinzubekommen: die
spaltung Europas. Dem müssen sich die Regie‑
rungen der europäischen staaten widersetzen.
Johnson will das Abkommen, das seine Vor‑
gängerin theresa May mit der Eu ausgehandelt
hat, nicht anerkennen. Er hat aber auch keine
Idee vorgetragen, wie er die Probleme rund um
den verfahrenen Brexit lösen könnte. Der Eu‑
Ausstieg ist für ihn bloß eine nützliche Neben‑
bühne der Innenpolitik. Durch seine antieuro‑
päischen Inszenierungen sichert er sich die un‑
terstützung der Hardliner im Land. Er setzt da‑
bei auf harte sprüche und symbole. schon vor
seiner Wahl hatte er kräftige töne angeschlagen:
Am 31. Oktober werde großbritannien unter
seiner Führung die Eu verlassen, »do or die« –
komme, was wolle.

Es geht um mehr als ein paar lästige
Grenzkontrollen: Es geht um den Frieden

Dabei knüpft Johnson gespräche an Bedingun‑
gen, die nicht einzuhalten sind. so wolle er erst
in Brüssel verhandeln, wenn die Eu sich bei der
irischen grenze flexibler zeige. Es geht um mehr
als ein paar lästige grenzkontrollen: Es geht um
den Frieden in Nordirland. Denn nach einem
Eu‑Austritt großbritanniens würde Irland in
der Eu bleiben, Nordirland jedoch zum Ver‑
einigten Königreich gehören. Es gäbe dann eine
Eu‑Außengrenze auf der irischen Insel. Weil
aber im Friedensabkommen von 1998 eine ge‑
sicherte grenze zwischen beiden teilen Irlands
ausgeschlossen wurde, garantiert die Eu den
Iren, dass sie keine grenzstationen errichten
wird. Im Brexit‑Abkommen steht, dass sich
großbritannien dafür übergangsweise den
Handelsregeln der Eu beugt. Für Boris Johnson
ist dies unannehmbar.
Doch die Europäische union kann sich in
dieser Frage nicht bewegen. Das müsste Johnson
eigentlich wissen. Die Eu ist ein Friedens projekt.

Die union darf keiner Politik zustimmen, die zu
neuem terror in ihrem Mitgliedsstaat Irland
führen kann.
Wirtschaftlich hängt Nordirland von der Re‑
publik Irland ab. Eine Entfremdung könnte in
Nordirland weniger Wohlstand nach sich ziehen.
Denkbar ist außerdem, dass dann die Idee einer
irischen Wiedervereinigung unter Nordirlands
Bürgern populärer wird. Ein harter Brexit wäre
damit auch eine gefahr für die Einheit groß‑
britanniens. Auch in schottland droht das
Brexit‑Chaos die Nationalisten zu stärken. Boris
Johnson hat versprochen, großbritannien zu
einen, aber er könnte als derjenige Regierungschef
in die geschichte eingehen, der großbritannien
in Klein‑Britannien verwandelt hat.
Ob er daran durch die Abgeordneten im bri‑
tischen Parlament oder durch die Bürger bei
Neuwahlen gehindert wird, liegt in der Hand
der Briten. Die unterhändler der Eu können
darauf aber nicht vertrauen. Für sie stellt sich die
Frage, wie sie jetzt mit Johnson umgehen sollen.
Wenn er nicht bereit ist, auf die Eu zuzugehen,
dann darf sie sich nicht von ihm erpressen lassen


  • und muss um des Friedens in Irland und um
    ihrer Einheit willen hart bleiben.
    Diese Härte hätte aber auch für die Eu einen
    Preis. Zum einen verlöre Europa einen verlässli‑
    chen Bündnispartner. Zum anderen bedeuteten
    künftige grenzkontrollen zwischen Europa und
    großbritannien, dass die Einfuhr europäischer
    Waren nach großbritannien mit Zöllen belastet
    und somit weniger konkurrenzfähig würde. Das
    wäre eine große gefahr für Arbeitsplätze und
    Wohlstand in Resteuropa.
    Die Eu »can go whistle«, hat Johnson einmal
    gesagt: Die Eu kann mich mal. Die Versuchung
    ist groß zu sagen: Du uns auch! Die stärke der
    Eu und ihrer Bürokraten ist es aber seit je, dass
    ihr Apparat politische Konflikte in förmlichen
    Verfahren verfriedfertigt und persönlichen streit
    in Verordnungen ausnüchtert. Die Verhandler
    der Eu sollten diese stärke nicht aufgeben und
    darauf verweisen, dass es einen scheidungs‑
    vertrag gibt, auf den man sich geeinigt hat. Boris
    Johnson, der die Eu für seinen politischen
    Egoismus missbraucht, wird sich vor den Briten
    verantworten müssen. Am Ende werden seine
    Bürger darüber entscheiden, ob sie ihre Einheit
    wirklich Johnsons starrsinn opfern wollen.


Vorsicht, Spaltpilz


Boris Johnson will die Eu erpressen und droht mit einem harten
Ausstieg. Europa sollte sich ihm widersetzen VON INGO MALCHER

BREXIT

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Titelfoto (Ausschnitt): Peter Frank Edwards/laif (Abendessen in den Obstgärten der Kiyokawa Farm in Parkdale, Oregon)
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