Die Zeit - 01.08.2019

(Kiana) #1

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  1. August 2019 DIE ZEIT No 32


DIE ZEIT: Herr shatz, seit 2014 sind mehr als
18.000 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Wir
Journalisten schreiben von unglücken, Politiker
sprechen von einer tragödie. sie sind Anwalt. Wie
nennen sie das, was auf dem Mittelmeer passiert?
Omer Shatz: Ein Verbrechen. Jahrelang wurde uns
weisgemacht, es sei ein tragisches Ereignis, eine Art
Naturkatastrophe. Die Beweise, die ich mit mei-
nem Kollegen Juan Branco und mit meinen stu-
denten über drei Jahre hinweg gesammelt habe,
zeigen aber: Die toten sind fester Bestandteil des
Plans, die Mi gra tions strö me aus Afrika einzudäm-
men. Diese Politik wurde in den letzten fünf Jah-
ren vorsätzlich entworfen und umgesetzt. sie ist
keine tragödie: sie ist ein Verbrechen gegen die
Menschlichkeit.
ZEIT: Was genau meinen sie damit?
Shatz: Dass wir es mit einem systematischen An-
griff auf die Zivilbevölkerung zu tun haben. In
diesem Fall: auf Mi gran ten, die im Mittelmeer er-
trinken oder von der libyschen
Küstenwache zurück nach Libyen
gebracht werden. Viele landen in
Lagern, wo sie gefoltert, versklavt,
vergewaltigt werden – und oft erst
freikommen, wenn sie oder ihre
Familien geld zahlen.
ZEIT: sie haben deshalb beim In-
ternationalen strafgerichtshof in
Den Haag Klage gegen die Eu
eingereicht. Der strafgerichtshof
ermittelt nicht gegen staaten, nur
gegen Individuen. Wen wollen sie
zur Verantwortung ziehen? Jean-
Claude Juncker? Angela Merkel?
Shatz: Ja. spitzenpolitiker wie Jun-
cker, Merkel oder Emmanuel Ma-
cron, aber auch die vielen Helfer
auf den mittleren Ebenen der
Macht: die Bürokraten in Brüssel,
die Beamten in den Ministerien,
die Kapitäne der Frontex-schiffe.
und es gibt noch die Akteure in
Libyen. Die Küstenwächter zum
Beispiel oder die libysche Behörde,
die die Lager unterhält. gegen
einige ermittelt der Internationale
strafgerichtshof bereits.
ZEIT: Wenn der strafgerichtshof
schon ermittelt, wozu Ihre Klage?
Shatz: Weil die Ermittlungen sich
bislang auf libysche täter be-
schränken. Wir wollen, dass sie
ausgeweitet werden auf die Ver-
antwortlichen in der Eu.
ZEIT: glauben sie wirklich, dass
der Internationale strafgerichtshof,
der Diktatoren und Warlords ver-
urteilt, Ermittlungen gegen Mer kel
und Juncker einleitet?
Shatz: Mein Mitstreiter Juan Bran-
co hat am Internationalen straf-
gerichtshof gearbeitet, er weiß, wie
eine Anklageschrift aussehen muss,
damit sie ernst genommen wird.
Wir haben drei Jahre recherchiert,
haben unzählige zum teil geheime
Dokumente studiert, Experten der
Vereinten Nationen und renom-
mierte Völkerrechtsexperten kon-
sultiert. Es ist nicht so, dass hier
zwei durchgeknallte typen auf
einen Kreuzzug gegen Merkel und
Macron gehen. Wir haben eine
sehr solide juristische Ar gu men ta-
tion entwickelt, die auf starken
Beweisen fußt.
ZEIT: Was werfen sie Merkel und
den anderen konkret vor?
Shatz: Erstens: Mord durch unter-
lassene Hilfeleistung. Das betrifft
die Politik der Eu zwischen 2014
und 2015, nachdem die italieni-
sche Ret tungs mis sion Mare Nos-
trum eingestellt wurde. Zweitens:
das Outsourcen der seenotrettung
an die libysche Küsten wache und
die Rückführung der Mi gran ten
nach Libyen, wo sie Opfer schwerster Verbrechen
werden. Dieser zweite Punkt betrifft die aktuelle
Politik der Eu-Mitgliedsstaaten, die wir seit 2016
beobachten können. 2015 war die libysche Küs-
tenwache lediglich an 0,5 Prozent der Rettungs-
aktionen beteiligt. Heute sind es etwa 90 Prozent.
ZEIT: Die Eu lässt die Migranten nach Libyen
bringen. Die Verbrechen in den Lagern werden
aber nicht von Eu-Politikern verübt.
Shatz: Ohne die Migrationspolitik der Eu bräuch-
te es die Lager nicht. Die Akteure aus der Eu tre-
ten natürlich nicht direkt als täter auf. sie nutzen
die Libyer als Handlanger. Ein klassisches Muster
im internationalen strafrecht, das findet man
überall.
ZEIT: Wo noch zum Beispiel?
Shatz: Wissen sie, ein teil meiner Familie wurde
während des Holocausts getötet – von Litauern
und Polen, aber die Politik dahinter stammte von
den Deutschen. Oder nehmen sie die afrikani-
schen Warlords, die hatten ebenfalls ihre Vollstre-
cker. Meist sind es einfache soldaten und Milizio-
näre, kleine Leute. In unserem Fall zum Beispiel
die Offiziere der libyschen Küstenwache. Im Auf-
trag der Eu fangen sie Mi gran ten ab und bringen
sie nach Libyen zurück. Die Eu schaut dabei zu,
und zwar wortwörtlich. Es gibt ein Video vom
November 2017. Man sieht darauf, wie die Libyer
versuchen, ein schiff der Or ga ni sa tion sea-Watch
bei der Rettung von Mi gran ten zu stören. Dabei
sterben rund 20 Menschen, vor den Augen der
Eu-Vertreter, die ebenfalls vor Ort sind. Wie in
einem theaterstück stehen sie am Rande der sze-


nerie: ein französisches Marineschiff, ein portugie-
sischer Helikopter, ein italienisches schiff. Keiner
hilft bei der Rettung. sie schauen tatenlos zu, wie
die Menschen ertrinken.
ZEIT: Wie erklären sie sich das?
Shatz: Es gibt ein gerichtsurteil aus dem Jahr
2012, das zu kennen in diesem Zusammenhang
wichtig ist. Dafür müsste ich ein wenig ausholen.
ZEIT: Bitte.
Shatz: 2012 sprach der Europäische gerichtshof
für Menschenrechte das sogenannte Hirsi-urteil.
Es ging darin um eine gruppe von somaliern und
Eritreern, die im Jahr 2009, also noch zu gaddafis
Zeiten, von Libyen nach Italien fliehen wollten.
sie wurden von der italienischen Küstenwache ge-
rettet, aber zurück nach Libyen gebracht. Einige
von ihnen haben daraufhin gegen Italien geklagt –
mit Erfolg. Das urteil hat zwei Dinge klar gestellt.
Erstens: Wer im Mittelmeer Menschen rettet, darf
sie nicht einfach irgendwo absetzen, sondern nur

in einem sicheren Land. Zweitens: Libyen ist kein
sicheres Land. Das Hirsi-urteil galt als bahnbre-
chend und sollte die Rechte der Mi gran ten im
Mittelmeer stärken, aber es hatte fatale Folgen. Es
war einer der gründe, warum die Eu sich auf
lange sicht von der seenotrettung zurückzog.
ZEIT: Die Eu hat doch die libysche Küstenwache
aufgebaut, damit sie die Menschen rettet.
Shatz: Ja. Eine Küstenwache, die so unprofessio-
nell ist, dass sie lange nicht mal in der Lage war,
auf hoher see einen Fisch zu fangen – und die in
ihren Reihen Kriminelle hat, die vom Menschen-
schmuggel profitieren. Wir haben die Aussage
eines Zeugen, der von der libyschen Küstenwache
abgefangen wurde. Bei seinem zweiten Versuch,
über das Mittelmeer zu fliehen, schaffte er es nach
sizilien. Er sagt, die libyschen Küstenwächter, die
ihn beim ersten Mal aufgegriffen haben, seien die-
selben Leute gewesen, die ihn später auf das
schlepperboot nach Europa setzten. Die Küsten-
wache ist in den Menschenschmuggel involviert.
und die Eu bildet diese Küstenwache aus, schickt
geld, schiffe, Ausrüstung, für Hunderte Millio-
nen Euro – unser aller steuergeld.
ZEIT: Falls der strafgerichtshof in Den Haag die
Ermittlungen überhaupt einleitet: Was genau hät-
ten sie gegen Europas Politiker denn tatsächlich in
der Hand?
Shatz: Im Fall von Angela Merkel können wir zum
Beispiel zeigen, dass sie über die Zustände in Li-
byen sehr genau Bescheid wusste. 2017 erhielt sie
eine Nachricht vom deutschen Botschafter in
Niger. Er schrieb, es gebe in Libyen Lager, in de-

nen täglich vergewaltigt und gefoltert werde. Er
verglich diese Lager mit den Kon zen tra tions-
lagern der Nationalsozialisten. Er hat tatsächlich
diesen Begriff benutzt: Kon zen tra tions lager.
Drei tage später hat Merkel die Erklärung von
Malta unterzeichnet – jenes Flüchtlingsabkom-
men zwischen der Eu und Libyen, das unter
anderem die Rückführung der Mi gran ten nach
Libyen regelt.
ZEIT: Die deutsche Regierung hat auf Ihre Vor-
würfe reagiert. sie sagt, Deutschland habe 300
Menschen aus den libyschen Lagern befreit und
ausgeflogen.
Shatz: Das stimmt. Aber was ist mit den anderen
rund 40.000 Menschen, die allein zwischen 2016
und 2018 auf dem Mittelmeer abgefangen und in
die Lager gebracht wurden?
ZEIT: Die deutsche Regierung sagt auch, sie wolle
helfen, die Bedingungen in den libyschen Lagern
zu verbessern.

Shatz: Wenn man es mit Kon zen tra tions lagern zu
tun hat, dann verbessert man dort nicht die Bedin-
gungen – man schließt sie. Wir führen in der Eu
einen orwellschen Diskurs. seit ein paar Wochen,
seit im Zuge der Kämpfe in Libyen ein Lager bei
tripolis bombardiert wurde und mehr als 40 Men-
schen starben, plädiert die Eu offiziell dafür, in-
haftierte Mi gran ten aus Libyen zu evakuieren.
gleichzeitig fängt die libysche Küstenwache wei-
terhin Mi gran ten ab und bringt sie in die Lager –
im Auftrag der Eu. Die Lager sind eine tödliche
Maschine, und die Eu versorgt diese Maschine
mit immer neuen Menschen.
ZEIT: Viele Europäer glauben, die Menschen
müssten nach Libyen gebracht werden, damit an-
dere nicht ermutigt werden, die gefährliche Fahrt
übers Meer anzutreten.
Shatz: Das ist das Pullfaktor-Argument. Es hält
sich hartnäckig, obwohl die Fakten dagegenspre-
chen. Aber selbst wenn es den Pullfaktor gäbe,
würde ich dafür plädieren, Menschen aus der
libyschen Kriegszone zu befreien. selbst wenn es
terroristen wären, die vor der libyschen Küste er-
trinken, wäre ich dafür, sie zu retten – und sie dann
einzusperren.
ZEIT: Was sagen sie zu dem Argument, die Men-
schen in den schlauchbooten seien Wirtschafts-
migranten, die sich freiwillig auf den Weg mach-
ten – und deshalb keine Hilfe erwarten könnten?
Shatz: Natürlich können wir, wenn wir gemütlich
beim Cocktail sitzen, auch dieses Argument dis-
kutieren. Aber wir sollten dabei eines nicht ver-
gessen: Viele Menschen sind als Wirtschaftsmi-

granten nach Libyen gekommen. Aber wenn sie es
aus Libyen herausschaffen, sind sie keine Wirt-
schafts migranten mehr. sie sind Überlebende.
Liby en ist ein Kriegsgebiet, in dem gefoltert, ver-
gewaltigt und getötet wird. Was wir ebenfalls nicht
vergessen sollten: Es ist keine humanitäre geste,
Menschen zu retten. Es ist unsere Pflicht. Es geht
hier nicht um die politische Frage, ob wir schutz-
bedürftige Menschen aufnehmen wollen. Es geht
um juristische Pflichten.
ZEIT: Auch diese Pflichten sind mittlerweile poli-
tisch umstritten.
Shatz: Ja, es zwingt auch niemand die Eu, sich
Verträgen zu unterwerfen, die das Leben von Men-
schen schützen. Historisch betrachtet ist es eine
relativ neue Idee, nicht nur staatsbürger, sondern
Menschen per se zu schützen. Diese Idee wurde
zwar in Europa erfunden, aber natürlich können
die Europäer aus der genfer Flücht lings kon ven-
tion, die einst als Konsequenz aus dem Holocaust
entstand, ohne großen Aufwand
wieder austreten. Am Ende geht es
um die Frage, wer wir sein wollen.
Wollen wir die Menschenrechte
schützen oder nicht?
ZEIT: sie sind nicht der Erste, der
die Mi gra tions po li tik der Eu ver-
urteilt. Amnesty International hat
das getan, Ärzte ohne grenzen, die
Vereinten Nationen, der Papst.
Warum sollte ausgerechnet Ihre
Klage etwas verändern?
Shatz: Organisationen wie Amnes-
ty International sehen das, was in
Libyen und auf dem Mittelmeer
passiert, durch die Brille von Men-
schenrechtlern. Wir schauen es
uns aus der Perspektive des inter-
nationalen strafrechts an. Wir sa-
gen: Was hier passiert, sind nicht
nur Menschenrechtsverletzungen,
es sind Verbrechen. Das ist ein
großer unterschied.
ZEIT: Der strafgerichtshof in Den
Haag ist nicht dafür bekannt,
gegen westliche Verdächtige vor-
zugehen.
Shatz: Ja. Als die Chefanklägerin
des gerichtshofs mögliche Kriegs-
verbrechen der us-Armee in Af-
ghanistan untersuchen wollte, be-
kam sie dafür keine Zustimmung
von den Richtern. Die usA hatten
Druck auf das gericht ausgeübt.
In unserem Fall stammen dagegen
alle Verdächtigen aus der Eu, und
deren Mitgliedsstaaten haben das
statut des gerichtshofs unter-
zeichnet. Deshalb kann die Chef-
anklägerin hier einfach ermitteln,
sie muss die Richter nicht um Er-
laubnis fragen. Was helfen könnte,
ist die tatsache, dass die Verbre-
chen, um die es geht, nicht wie
üblich in der Vergangenheit liegen.
sie dauern an – auch wenn wir es
oft gar nicht mehr merken. Vor
wenigen Wochen erst sind vor tu-
nesien rund 80 Menschen ertrun-
ken – und kaum jemand hat darü-
ber berichtet.
ZEIT: Warum stumpfen wir so
leicht ab?
Shatz: Wir gewöhnen uns daran.
Wir sagen nicht: Wie konnte das
passieren? sondern: Es ist eine tra-
gödie, und die akzeptieren wir
irgendwann. Es ist menschlich,
unmenschlich zu sein. Ich komme
aus Israel, unsere gesellschaft be-
steht aus Flüchtlingen. Aber in
Israel heißen schutzbedürftige
Menschen nicht Flüchtlinge oder
Asylbewerber, auch nicht Mi gran-
ten. sie heißen infiltrators, Ein-
dringlinge. und tatsächlich for-
dert ein Flüchtling ja die souverä-
nität des aufnehmenden staates
auf eine geradezu bedrohliche Weise heraus. Er
muss erst ankommen – oder: eindringen –, bevor
er das Recht hat, um Asyl zu bitten. Der Andere,
der Fremde wird zur gefahr, weil er in die ge-
meinschaft eindringt.
ZEIT: Wäre es besser, wenn die Entscheidung, ob
jemand in Europa bleiben darf, schon vor seiner
Ankunft fällt?
Shatz: Natürlich. Die Asylpolitik der Eu ist ge-
scheitert, wir brauchen eine neue. Diese Politik
fußt bislang auf dem Prinzip der individuellen
Verfolgung und ist geprägt von der Zeit des Kalten
Krieges, als man vor allem politische Dissidenten
im sinn hatte. In den letzten Jahren aber wurden
viele Menschen nicht individuell verfolgt, sondern
als Kollektiv, etwa weil sie vor einem Bürgerkrieg
oder einer Naturkatastrophe fliehen mussten. Des-
halb sprechen viele Experten nicht mehr von
Flüchtlingen im engen sinne der genfer Flücht-
lings kon ven tion, sondern von persons in need of
international pro tec tion, von schutzbedürftigen.
Die Mi gran ten, die die Eu nach Libyen zurück-
schickt, zählen dazu.
ZEIT: Wenn der Internationale strafgerichtshof
die Ermittlungen nicht einleitet, war Ihre Arbeit
dann umsonst?
Shatz: Am Ende wird nicht nur der strafgerichts-
hof über diese Verbrechen richten, sondern auch
die geschichte. und ich glaube nach wie vor da-
ran, dass viele Menschen das Bedürfnis haben,
nachts gut zu schlafen.

Das Interview führte Caterina Lobenstein

Der israelische Anwalt


Omer shatz hat Angela


Merkel und andere


Eu-Verantwortliche vor


dem strafgerichtshof


in Den Haag verklagt.


sein Vorwurf: sie tragen


schwere schuld am


Elend der Flüchtlinge


auf dem Mittelmeer


»Diese Politik ist


ein Verbrechen«


In der Nacht auf den 22. Dezember
2016 wurden 112 Migranten auf dem
stürmischen Mittelmeer gerettet

Foto: Kevin McElvaney; Twitter (u.)

RECHT & UNRECHT


Omer Shatz (39) ist Anwalt und lehrt
an der Yale University und an der
Universität Sciences Po in Paris.
Sein Mitstreiter Juan Branco (29)
ist einer der Anwälte des
WikiLeaks-Gründers Julian Assange
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