Die Zeit - 01.08.2019

(Kiana) #1

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Wenn im August in Harlem die Straßen vor Hitze zu bren-
nen scheinen, kommt es vor, dass die Polizei die Hydranten
aufschließt, damit die Kinder sich unter dem spritzenden
Wasser abkühlen können. Erlaubt ist das natürlich nicht.
Die Berliner Fotografen Louise Amelie und Aljaž Fuis aber
haben es selbst beobachtet, in dem Jahr, in dem sie im New
Yorker Bezirk nördlich des Central Park wohnten und ar-
beiteten und teils ganze Tage auf den Straßen dort ver-
brachten. In dieser Zeit entstanden die Bilder für ihr Buch
Sole Harlem: ein visueller Spaziergang durch die Streets und
Avenues des Viertels, auf die im Sommer praktisch das ge-
samte häusliche Leben verlegt wird. New Yorker Wohnun-
gen sind klein, auch in Harlem, wo seit einigen Jahren die
Mieten genauso brutal steigen wie in anderen Teilen der
Stadt. Also gehen die Anwohner auf die Straße. Dort wird
Basketball gespielt und mit Wasserpistolen gespritzt, Herren
in großen Anzügen rauchen Zigarre und spielen Domino,
Jugendliche grillen auf dem Bürgersteig.
Im Zuge der Great Migration zogen Anfang des 20. Jahr-
hunderts viele Afroamerikaner aus den Südstaaten nach
New York und ließen sich in dem einst von niederländischen
Siedlern gegründeten Viertel nieder. In den Zwanzigerjahren
entwickelte sich Harlem zum Zentrum afroamerikanischer
Künstler, Intellektueller und Jazzmusiker. Duke Ellington
und Louis Armstrong traten im berühmten Cotton Club
auf, der allerdings wie viele andere Konzerthäuser und
Nachtclubs damals nur weißes Publikum zuließ. Später
lebten in dem Viertel zukünftige Stars des R ’n’ B und Hip-
Hop, darunter Alicia Keys, Tupac Shakur und Q-Tip.
»Viele Menschen, auch in den USA, kennen Harlem aus
den Nachrichten nur als sozialen Brennpunkt«, sagen die
Fotografen Louise Amelie und Aljaž Fuis. »Und viele Bil-
der aus Harlem sind schwarz-weiß und zeigen verarmte
Afroamerikaner.« Dabei seien es gerade die Farben, die das
Viertel so lebhaft machten: die Ockertöne der Backstein-
häuser, das Rot-Weiß-Blau der puerto-ricanischen Flagge
im lateinamerikanisch geprägten Osten, die knalligen Klei-
der, die viele Menschen hier gerne und stolz tragen. Har-
lem ist seit Jahrzehnten ein Zufluchtsort für Menschen auf


der Suche nach Freiheit und nach sich selbst. »Harlem«,
sagt Louise Amelie, »steht zugleich für ethnische Unterdrü-
ckung und soziale Gleichberechtigung.« In den Bildern der
Serie von ihr und Aljaž Fuis kommt diese Widersprüch-
lichkeit stark zum Ausdruck. Da ist der Hund, der hinter
einem vergitterten Fenster auf dem Sims liegt, die Frau,
die im Waschsalon an den silbernen Maschinen lehnt, der
blaue Himmel, fotografiert durch einen Maschendraht-
zaun – Bilder, die von einem für New York untypischen
Gefühl von Langsamkeit erzählen, als sei die Zeit in der
Sommerhitze einfach stehen geblieben. Da sind aber auch
die Kinder, die in Badehose auf der Straße spielen, die
Mädchen, die in der Abendsonne auf einem Hausdach
sitzen, die Frau im pinkfarbenen Leoparden-BH und der
Herr im braunen Sakko mit rosa Einstecktuch; da sind die
Jungs, die mit ihren Fahrrädern einen Wheelie machen, da
ist das Mädchen, das an der U-Bahn-Station 145th Street
die Beine ausstreckt wie eine Ballerina vor dem Auftritt –
Bilder, die den Eindruck hinterlassen, in diesem Viertel
könne man jeder sein und alles werden. Und dann sind da
auch Szenen, die von Beklemmung erzählen: die vier wei-
ßen Polizisten vor der geschlossenen Apotheke, die Ame-
rikaflagge an dem Bus, mit der man im Trump-Zeitalter
eher Abschottung als Patriotismus verbindet, die Sozial-
wohnungstürme, die riesigen Baustellenkrater, auf denen
Luxuswohnungen entstehen sollen, die sich kaum einer der
alten Anwohner wird leisten können.
Louise Amelie und Aljaž Fuis zog es auf der Suche nach
einer Unterkunft in New York zufällig nach Harlem. Sie
blieben, weil ihnen die Menschen warmherzig und ernst-
haft interessiert am sozialen Austausch vorkamen. Viele
ihrer Bekanntschaften aus dem Viertel sind in Sole Harlem
abgebildet, und einige werden auch zitiert. »Das Wort, das
mir zu Harlem einfällt, ist hallo«, sagt eine von ihnen. »Je-
der kann hier seinen Platz finden. Dein Platz ist vielleicht
nicht mein Platz, aber du wirst in Harlem einen Platz fin-
den, an dem du dich wohlfühlst.« Und wenn dieser Platz,
an einem heißen Tag im August, nur das Fleckchen Erde
unter der Wasserfontäne eines Hydranten ist.

Vo n CLAIRE BEERMANN

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