Die Zeit - 01.08.2019

(Kiana) #1

2 POLITIK 1. August 2019 DIE ZEIT No 32


W


enn ein Land ein schwe-
res Verbrechen verstehen
will und den Menschen,
der es beging, lernt es
dabei oft auch etwas über
sich selbst. Über seine
Ängste, seine Ressenti-
ments und über seine Widerstandskraft gegen allzu
einfache Erklärungen.
In dieser Woche reichten zwei tage, und die
Republik wusste nicht nur mehr über einen grausi-
gen Mord, sondern auch einiges über ihre innere
Verfasstheit.
Es geschah am Montag dieser Woche, kurz vor
zehn: Auf gleis 7 des Frankfurter Hauptbahnhofs
fuhr der ICE 529 aus Düsseldorf ein, Fahrtziel
München. Auf Abschnitt C des Bahnsteigs warte-
ten eine Mutter und ihr achtjähriger sohn aus dem
Hochtaunuskreis. sie wollten in den urlaub fah-
ren. Plötzlich stieß ein Fremder erst die Frau, dann
das Kind aufs gleis. Die Mutter konnte sich ret-
ten, der Junge wurde vom Zug erfasst und starb.
Eine weitere Frau, die von dem Fremden Richtung
gleis geschubst wurde, konnte sich retten. Danach
hielten Passanten den tatverdächtigen auf: einen
Mann, Habte A., 40 Jahre alt, dunkle Haut, Bür-
ger des staates Eritrea in Afrika.
Kaum waren die ersten Meldungen der Nach-
richtenagenturen eingetroffen, stellte die AfD ei-
nen Zusammenhang zwischen diesem Verbrechen
und der deutschen Einwanderungspolitik her. Die
AfD-Fraktionschefin Alice Weidel twitterte: »Laut
Polizei #Frankfurt hat ein 40-jähriger Afrikaner
den 8-Jährigen und seine Mutter auf die gleise ge-
stoßen. An Entsetzlichkeit ist diese tat nicht zu
überbieten – was muss noch passieren? schützt
endlich die Bürger unseres Landes – statt der gren-
zenlosen Willkommenskultur!«
Es hätte nun kommen können, wie es in den
vergangenen Jahren oft gekommen ist, wenn Er-
klärungen für ein kaum erklärliches Verbrechen
gesucht werden. Mahnwachen, Demonstrations-
züge, Krawall, Hetzjagden womöglich.
Doch am Dienstag dieser Woche, einen tag
nach der tat, ist vieles anders als erwartet.
Im Frankfurter Hauptbahnhof steht nicht weit
von gleis 7 ein Klavier, auf dem ein Mann Imagine
von John Lennon spielt. »Wegen der Rechten, die
das wieder ausschlachten«, sagt er. »Dabei hätte es
auch ein irrer Deutscher sein können.«
Frankfurt am Main hat einen Kopfbahnhof, die
Züge fahren hinein und umgekehrt wieder hinaus,
die Bahnsteige sind mit der Bahnhofshalle ver-
bunden wie Finger mit einer Hand. Dort, wo der
Bahnsteig zu gleis 7 beginnt, lösen sich am Diens-
tagmorgen immer wieder Passanten aus dem Pend-
lerstrom, legen Rosen nieder oder stellen Kerzen
auf. Da ist trauer zu sehen, aber kaum ein Ressen-
timent zu hören. Eine Frau um die 50, in Hotpants
und t-shirt, tätowierungen überall, starrt lange
auf die Blumen, dann wischt sie sich eine träne
aus dem Auge und geht. Es wird viel geschwiegen
und damit auch so einiges gesagt. Als gegen kurz


vor neun, 23 stunden nach der tat, erneut ein ICE
nach München einfährt, legt eine Mutter auf der
Wartebank den Arm um ihre dreijährige tochter.
Ein Mann sagt zu einem bezopften Mädchen:
»Komm mal her.« Dann schiebt er es sachte in die
Mitte des Bahnsteigs, fort von der gleiskante.
Womöglich wurden in Deutschland schon lange
nicht mehr so viele Kinder so innig an der Hand ge-
halten wie an diesem Dienstagmorgen in Frankfurt.
Zur selben Zeit wird im Polizeipräsidium der stadt
der tatverdächtige vernommen. Auch hier wider-
spricht vieles von dem, was die Ermittler nach drau-
ßen dringen lassen, den ersten Erwartungen. Habte
A. hat nie Asyl in Deutschland beantragt. Er lebt seit
2006 in der schweiz, im Kanton Zürich. Er hat Ar-
beit. Er ist Christ. Er hat drei Kinder.
um elf uhr teilt die sprecherin der Frankfurter
staatsanwaltschaft der Presse mit, der täter
schweige über sein Motiv, habe aber direkt nach
seiner Festnahme gesagt, er sei erst vor wenigen
tagen mit dem Zug über Basel nach Frankfurt ein-
gereist. Warum? unklar.
Ist Habte A. mit Racheplänen eingereist? Am


  1. Juli, genau eine Woche vor seiner tat, hatte in
    Wächtersbach, ebenfalls in Hessen, ein Deutscher
    aus höchstwahrscheinlich rassistischen Motiven
    einen Mann aus Eritrea niedergeschossen und sich
    später das Leben genommen.
    Ist Habte A. ein Nachahmungstäter? Im nord-
    rhein-westfälischen Voerde hatte am 21. Juli ein
    28-Jähriger eine junge Mutter vor einen Zug ge-
    stoßen und damit getötet.
    Oder ist Habte A. psychisch krank?
    Auch auf diese Fragen finden sich noch am
    selben tag Antworten. Einige werden in Zürich
    gegeben, von der Kantonspolizei: Habte A. war
    vermutlich auf der Flucht vor den schweizer Be-
    hörden, seit dem 25. Juli landesweit zur Fahndung
    ausgeschrieben, wegen Verdachts auf häusliche
    gewalt. An jenem Donnerstag – vier tage vor dem
    Verbrechen von Frankfurt – erhielt die Polizei ei-
    nen Anruf. Eine Frau meldete familiäre Probleme,
    blieb am telefon allerdings vage. Als die Beamten
    an jenem brütend heißen Nachmittag in der ge-
    meinde Wädenswil am Zürichsee eintreffen, fin-
    den sie in einem Mehrfamilienhaus drei in der
    Wohnung eingeschlossene Kinder und zwei Frau-
    en. Nach Polizeiangaben hatte Habte A. seine
    Nachbarin mit einem Messer bedroht und sie
    dann zusammen mit seiner Ehefrau und den drei
    gemeinsamen Kindern weggesperrt.


R


echerchen der ZEIT zufolge muss
Habte A. bis zum vergangenen Don-
nerstag das gewesen sein, was man gern
einen Vorzeigemigranten nennt: Er hat
schnell Deutsch gelernt, gearbeitet, ge-
heiratet, mit seiner Frau drei Kinder bekommen,
hat sich in der christlich-orthodoxen glaubensge-
meinschaft engagiert.
Vor zwei Jahren wurde Habte A. für den Jahres-
bericht des schweizerischen Arbeiterhilfswerks
(sAH) interviewt. Die Kommunikationschefin der

Organisation, Laetitia Hardegger, sagt, sie habe
sich für Habte A. als gesprächspartner entschie-
den, weil er »gute Leistung bringt«. Das ist nicht
selbstverständlich. Die etwa 36.000 in der
schweiz lebenden Eritreer gelten auf dem Arbeits-
markt als schwer vermittelbar, viele von ihnen
stammen aus einem »bildungsfernen Milieu«, wie
es auf Beamtendeutsch heißt. Im Kanton Zürich
bezogen im Jahr 2014 rund 80 Prozent der
Eritreer sozialhilfe.
Nicht aber Habte A. Als er das Interview gab,
hatte er zwar gerade seinen Job als schlosser in ei-
nem kleinen Betrieb verloren, dies aber nach im-
merhin sechs Jahren fester Anstellung. Habte A.
konnte gute Arbeitszeugnisse vorweisen, sprach
längst fließend Deutsch und besaß eine soge-
nannte Niederlassungsbewilligung, einen C-Aus-

weis. Dadurch wird ihm bescheinigt, dass er die
schweizerischen Integrationskriterien erfüllt, dass
er zum Beispiel keine schulden hat und die Rechts-
ordnung kennt. Das Arbeiterhilfswerk konnte ihm
dann auch eine neue stelle vermitteln, in der Ka-
rosseriewerkstatt der Zürcher Verkehrsbetriebe, wo
straßenbahnen gewartet werden.
An der schweiz gefalle ihm »fast alles«, sagte A.
in dem Interview. seine damalige gesprächspart-
nerin erinnert sich an einen »ruhigen, sympathi-
schen, bedachten« Menschen. Auf den Fotos sieht
man einen freundlich lächelnden Mann mit grüb-
chen in den Wangen und sich allmählich lichten-
dem Haar. »Es wäre schön, wenn ich in 25 Jahren
noch hier bin«, sagt er.
Auf einer Facebook-seite, die höchstwahr-
scheinlich dem tatverdächtigen gehört, postete er
im Jahr 2015 das Foto von einem sommerlichen
treffen mit Freunden in Wädenswil, einer der Män-
ner hält eine Bierflasche in der Hand. Monate zuvor
hatte Habte A. ein Bild von einem weihnachtlichen
Krippenspiel gepostet, dazu den text: »I celebrate
the birth of Jesus.« Ich feiere Jesu geburt. und
doch, etwas stimmte wohl nicht. Im Januar dieses
Jahres wurde er krankgeschrieben. Laut Kantons-
polizei war er in psychiatrischer Behandlung.
Einen tag nach der tat ist der mutmaßliche
Mörder also viel mehr als nur »ein Afrikaner«. und
die sache nicht mehr so einfach.

In Frankfurt, am Hauptbahnhof, ist inzwischen
ein Mann namens tinsaeberhan ghebreselasie
eingetroffen, den viele seiner Freunde wegen seines
komplizierten Namens nur »Mister t« nennen.
Ehrfurchtsvoll nähern sich junge Eritreer mit Base-
ball-Kappen und reichen dem 60-Jährigen die
Hand. ghebreselasie, rundlich, kahler Kopf, sitzt
in der Filiale einer Bäckereikette, die am tag nach
dem Mord wie ein treffpunkt der Afrikaner im
Bahnhofsviertel wirkt. Immer wieder kommen
und gehen Männer und Frauen – und niemand
vergisst den Handschlag für ghebreselasie, der um
die Ecke einen Laden für Beauty-Produkte und
speisen aus Afrika betreibt und gleichzeitig Vor-
stand der orthodoxen eritreischen gemeinde ist.
»Das war der zweite schock innerhalb weniger
tage, nachdem wir das Attentat von Wächtersbach
erlebt hatten«, sagt er, zögert, zeigt aus dem Fenster
der Filiale und sagt: »Das da ist übrigens der
schwager des jungen Mannes, der in Wächters-
bach angeschossen wurde.«
Der Patron kennt sie alle. umso mehr wundert
er sich, dass er den Namen des tatverdächtigen
von gleis 7 nie gehört hat. »Die eritreische Welt
ist klein«, sagt ghebreselasie. »Am Wochenende
waren allerdings in Frankfurt zwei Hochzeiten,
dazu noch ein paar andere Feste, zum Beispiel das
von Menschen, die in Asmara groß geworden
sind.« Möglich, dass Habte A. auf einem der Feste
war. Er soll in Asmara, der Hauptstadt seiner Hei-
mat Eritrea, geboren worden sein. so sagt es das
Facebook-Profil, das ihm möglicherweise zuzu-
rechnen ist. Asmara ist eine Christen-Hochburg,
die über Jahrzehnte von italienischen Besatzern
geprägt wurde.
Man kann nicht über Auslands-Eritreer berich-
ten, ohne auf die Verhältnisse in ihrer Heimat ein-
zugehen. In puncto Pressefreiheit rangiert einzig
Nordkorea noch hinter Eritrea, religiöse Minder-
heiten werden verfolgt, Männer müssen regelrech-
te Frondienste für das Regime ableisten, jahrelang.
Wegen solcher gründe liegt die Anerkennungs-
quote für Neuanträge auf Asyl für Eritreer in
Deutschland bei 87 Prozent.
Der gemeindevorstand ghebreselasie sagt, er
werde seine gemeinde sehr bald »in einem Brief
sachlich informieren, was passiert ist, damit nie-
mand auf falsche social-Media-Posts hereinfällt.
Vor allem ist wichtig, dass wir uns mit der Mutter
solidarisieren, die ihr Kind verloren hat.«
Es ist 15 uhr am Dienstag dieser Woche, 29
stunden nach der tat, als sich Innenminister Horst
seehofer in Berlin an die Öffentlichkeit wendet.
Am Montag hat der Csu-Politiker entschieden,
seinen urlaub abzubrechen, blass und mit verstei-
nerter Miene spricht er nun in seinem Ministeri-
um den Angehörigen des getöteten Jungen im
Namen der Bundesregierung seine Anteilnahme
aus. Der kaltblütige Mord, sagt seehofer, mache
fassungslos und treffe »mitten ins Herz«.
Der Minister hat den Chef der Bundespolizei
und den Präsidenten des BKA mitgebracht. Ob-
wohl die Kriminalitätszahlen zurückgingen, neh-

me das sicherheitsgefühl der Bevölkerung »nicht
gerade zu«, sagt seehofer, man müsse deshalb ei-
nen »weiteren Horizont schlagen« zwischen vielen
Vorfällen der vergangenen Zeit. Diese taten hän-
gen zwar nicht zusammen, aber sie untergraben
das sicherheitsgefühl in summe eben doch: Der
Mord am hessischen CDu-Politiker Walter Lüb-
cke, der Angriff von Jugendlichen auf eine bayeri-
sche Polizeiwache, die Randale in einem Düssel-
dorfer schwimmbad, der Mordanschlag von
Wächtersbach, der Bahnhofsmord von Voerde.
Auffällig: seehofer spricht nicht ausschließlich
über gewalt durch Migranten, sondern von einer
»Werte-Erosion«. Er kündigt ein spitzengespräch
mit Kollegen aus dem Verkehrsministerium an, um
zu beraten, wie man die 5600 Bahnhöfe in Deutsch-
land sicherer machen könne. Er plädiert für mehr
Polizeipräsenz. Auch über technische Maßnahmen
wie Absperrungen und mehr Videoüberwachung
müsse nachgedacht werden. Anders, als zuvor zu
vermuten war, hält sich die politische Empörungs-
spirale in grenzen. Vermutlich nicht nur, weil in
der Hauptstadt gerade sommerpause ist.

A


m Nachmittag erlässt die dienstha-
bende Haftrichterin am Amtsgericht
Frankfurt Haftbefehl, und Habte A.
wird in die Justizvollzugsanstalt I ge-
bracht. Vor dem rosarot gestrichenen
Haus im schweizerischen Wädenswil, in dem bis
vor Kurzem auch Habte A. wohnte, warten am
Dienstagabend zwei Fernsehreporter. Aber nichts
rührt sich. Die Läden an den meisten Fenstern sind
zugeklappt, im garten nebenan blüht Kapuziner-
kresse. Überall Wiesen und Weizenfelder rings um
die kleine Wohnsiedlung. Ein traktor fährt vorü-
ber, danach herrscht wieder stille.
Am Hauptbahnhof in Frankfurt wird deut-
lich, dass in den wenigen stunden seit der unge-
heuerlichen tat etwas geschieht, womit anfangs
niemand rechnete. Abgesehen von einer Veran-
staltung am Dienstagabend, zu der rund 50 rechte
Demonstranten erscheinen, bleibt es meistens
ruhig. Die Menschen wenden ihre Aufmerksam-
keit wieder dem Opfer zu. Einem Jungen, der sich
bis zum 29. Juli 2019 um kurz vor neun auf einen
urlaub mit seiner Mutter freute. Einem Kind von
acht Jahren.
Das ist das Alter, in dem ein Junge sein Herz an
einen Fußballklub verliert, vom ersten Handy
träumt oder Experte für Marvel-superhelden wird,
fast alles, nur nicht Argument und Instrument in
einer politischen Auseinandersetzung.
Dort, wo auf dem Frankfurter Hauptbahnhof der
Bahnsteig zu gleis 7 führt, scheint dieses Mal etwas
unwahrscheinliches gelungen zu sein. Je näher man
dem tatort selbst kommt, desto ruhiger und beson-
nener geht es zu. trauer und Zivilisiertheit.
Zwischen Rosen und Lilien liegen Plüschtiere,
spielzeugautos, eine Packung M&M’s und immer
wieder grüße mitfühlender Menschen an ein
Kind, das sie nicht kannten. »Ruhe in Frieden,
kleiner Mann.«

Der Todesstoß


Ein Familienvater aus Eritrea schubst in Frankfurt eine Mutter mit ihrem Jungen vor einen Zug. Wer ist dieser Mann?
VON BARBARA ACHERMANN, TINA HILDEBRANDT, FREDERIK JÖTTEN UND HENNING SUSSEBACH

Frankfurter Hauptbahnhof: Am Schauplatz
der barbarischen Tat triumphiert die Zivilisiertheit

Gleis 7: Evakuierung
des ICE 529

Fotos: Patrick Scheiber/imago; Jürgen Mahnke/Bild (u.)
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