Die Zeit - 01.08.2019

(Kiana) #1

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1. August 2019 DIE ZEIT No 32 WISSEN


ine der schärfsten Waffen der Diplomatie ist das
Ochsenbäckchen. Das zeigt sich, als im Juli 2017 die
mächtigsten Männer und Frauen der Welt im kleinen
saal der Hamburger Elbphilharmonie zusammen-
sitzen: Angela Merkel und Donald trump, Wladimir
Putin, shinzo Abe, Xi Jinping. Draußen steigen
Rauchsäulen auf, ziehen vermummte Randalierer
durch die straßen, zerschlagen scheiben, plündern
supermärkte. Der g20-gipfel und seine gegner
erschüttern die stadt. Auch in der Elbphilharmonie
ist die stimmung angespannt.
Die Verhandlungen über die Konflikte im
Mittleren Osten und in Nordkorea, den globalen
Handelskrieg und die Klimakrise waren äußerst
zäh verlaufen. Vor allem us-Präsident trump hatte
sich unversöhnlich gezeigt. Zudem hatten gipfel-
gegner der kanadischen Delegation die Reifen zer-
stochen, trumps gattin Melania hatte der Krawalle
wegen stundenlang im gästehaus festgesessen,
und Eu-Kommissionspräsident Jean-Claude
Juncker war wegen straßenblockaden zu spät ge-
kommen. Nun konnte nur noch eins die stim-
mung retten: das Abendessen. »Da durfte nichts,
aber auch gar nichts schiefgehen«, erinnert sich
Konrad von Arz.
Von Arz, ein zuvorkommender Herr im dunklen
Anzug, ist Protokollchef des Auswärtigen Amts.
ursprünglich sei für g20 ein klassisches Arbeits-
essen geplant gewesen, erzählt er, mit abgespeck-
tem Menü und üppiger Agenda. Angela Merkel
aber, die gastgeberin, habe angesichts der verfahre-
nen situation das Arbeitsessen in ein social Dinner
verwandeln lassen, einen eher geselligen Abend mit
erlesenen speisen. statt tagesordnungspunkten
und Arbeitspapieren wurden Ochsenbäckchen und
Rinderfilets serviert. statt simultandolmetschern
standen Kellner bereit. und der Plan ging auf. »Die
stimmung löste sich«, berichtet von Arz. »Den
gästen schmeckte das Essen, einige verlangten
sogar Nachschlag.« Auch Donald trump habe sich
entspannt mit den anderen staats- und Regierungs-
chefs unterhalten – und am Ende sogar in der
Küche vorbeigeschaut. Am tag darauf bedankte
er sich bei Merkel. »Wunderschön« sei der gipfel
gewesen, twitterte der us-Präsident.
»Das gemeinsame Mahl rührt an unsere ur-
bedürfnisse nach schutz und Verpflegung. Es
gehört zu den grundmaßnahmen der Vertrauens-
bildung«, erklärt von Arz. und ob man wolle oder
nicht: »Ist das Essen gut, lassen sie sich davon
beeinflussen. Das ist tiefenpsychologie.«
seit je lösen Menschen Konflikte beim Essen.
Das gemeinsame Mahl vermag, was ein gespräch
allein oft nicht erreicht: Vertrauen schaffen,
Frieden stiften. schon die Keltenfürsten luden zu
gelagen, verteilten Fleisch und Wein, um sich die
untertanen gewogen zu machen. Renaissance-
Herrscher regelten ihre Erbfolge bei üppigen
Hochzeitsbanketten. Reichskanzler Otto von Bis-
marck überzeugte politische gegner nicht nur mit
Argumenten, sondern auch mit erlesenen speisen,
seezungenfilets und trüffelragout – und mit be-
rauschenden getränken. sein bester Botschafter,
soll Bismarck gesagt haben, sei der deutsche Wein.
Heute ergründen Historiker und soziologen,
Kulturwissenschaftler und Psychologen die Kraft des
gemeinsamen Essens. sie werten Menüfolgen aus und
erforschen deren Einfluss auf die Diplomatie, unter-
ziehen Esser psychologischen tests und belauschen
Familien am Abendbrottisch. Die Ergebnisse der
Forscher zeigen, wie wichtig diese uralte Kultur-
technik ist – und wie bewahrenswert. »Wenn wir
nicht zusammen essen, geht uns sicherheit verloren
und geborgenheit«, sagt der Psychologe Marshall
Duke. »gemeinsames Essen ist das Rückgrat des
menschlichen Miteinanders.«
Marshall Duke ist gerade nicht leicht zu erreichen.
Er hat sein Handy verlegt, sehr aufregend alles. »Mein
Enkel heiratet übermorgen!«, ruft er ins telefon, als
man ihn endlich doch am Apparat hat. Bei der Feier
wird er eine wichtige Rolle spielen: »Ich bin der
Älteste in der Familie, deshalb werde ich das Brot für
alle schneiden, das ist ein jüdischer Brauch. Dann
beginnt das Essen.« Duke wird einiges zu tun haben:
250 gäste sind geladen.
Der großvater, der sich so auf das große Fest-
mahl freut, hat das alltäglichste aller Familienrituale
erforscht: das Abendessen. Was jeder schon tausend

TITELTHEMA:^ GEMEINSAM ESSEN


Fortsetzung auf s. 28

Zu


Tisch!


Nichts verbindet Menschen so
wie das gemeinsame Essen.
Das macht es zur geheimwaffe
in heiklen situationen –
für Eltern genauso wie für staatschefs
VON HARRO ALBRECHT, STEFANIE KARA
UND CATERINA LOBENSTEIN

Beim gemeinsamen Mahl werden nicht bloß Leckereien verschlungen,
sondern auch die Regeln des Zusammenlebens verinnerlicht

Foto: Silvio Knezevic für DIE ZEIT (Composing); Illustration: Christina Grob für DIE ZEIT

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