Die Zeit - 01.08.2019

(Kiana) #1

28 WISSEN 1. August 2019 DIE ZEIT No 32


Mal genossen oder verschlungen, geliebt oder
gehasst hat, untersuchte er mit den Mitteln der
Wissenschaft. Duke ist Psychologie-Professor an
der Emory university in Atlanta. Er wollte wissen:
Was passiert da am Esstisch abends zwischen sechs
und acht mit Vätern, Müttern, Kindern?
»Wir haben uns bei Familien zum Abendessen
eingeladen und ein Aufnahmegerät mitgebracht«,
erzählt Duke. Doch statt mitzuessen, installierten
die Forscher ihr gerät und verschwanden dann
wieder, um das geschehen nicht zu stören. später
werteten sie die Aufnahmen aus, Wort für Wort,
tischgespräche von 40 Familien. »Es war ganz er-
staunlich, worüber die alles redeten«, berichtet der
Psychologe. »Ein Vater fragte doch tatsächlich:
›Wisst ihr noch, als Onkel Billy ermordet wurde?‹,
und gleich im nächsten satz ging es darum, wer die
Kinder zum Fußball fährt.«
Duke und seine Kollegen wollten auch wissen,
wie es um die seelenlage der Familien bestellt war.
sie ließen Väter, Mütter und Kinder psychologische
Fragebögen ausfüllen. und einen test aus 20 Fra-
gen, den sie eigens für diese studie entwickelt hat-
ten: Weißt du, wie deine Eltern sich kennengelernt
haben? Weißt du, wem du in der Familie am ähn-
lichsten bist? Kennst du einen Verwandten, dessen
gesicht »einfror«, weil er nicht genug lächelte? –
Das war im sommer 2001.
»Dann kam 9/11«, sagt Marshall Duke. Die
terroranschläge machten aus den Beobachtungen am
Esstisch ein Experiment. »Alle Familien waren dem-
selben stressfaktor zur selben Zeit ausgesetzt«,
schreiben die Forscher in ihrem studienbericht. »so
konnten wir ihre tatsächliche Resilienz und ihre
strategien zur Bewältigung untersuchen.« Das
Ergebnis fasst Duke in zwei sätzen zusammen: »Die
widerstandsfähigsten Kinder waren diejenigen, die
mehr über die geschichte ihrer Familie wussten. und
weitergegeben wird dieses Wissen, wenn die Familie
zusammenkommt, besonders am Esstisch.« sein
Fazit: gemeinsame Mahlzeiten helfen, große schocks
und kleine Alltagsprobleme besser zu verarbeiten –
weil sie Raum zum Erzählen schaffen.
»Das gemeinsame Essen nimmt allen den
stress, für ein gespräch verantwortlich zu sein«,
erklärt der Psychologe. und es bietet selbst ge-
sprächsstoff. Etwa 20 bis 30 Prozent der unterhal-
tungen bei tisch drehen sich um das, was auf dem
tisch steht. Ein Phänomen, das auch Diplomaten
kennen – und sich zunutze machen, indem sie
gästen mit dem Menü gleich noch ein paar An-
knüpfungspunkte für den small talk liefern –
etwa eine Reminiszenz ans Heimatland des gastes.
Bismarck ließ je nach Herkunft seiner gäste wahl-
weise straßburger Pastete, Ente nach Wiener Art
oder türkische Eisbombe servieren.
Der Psychologe Duke hat auch beobachtet,
dass Familien sich nie lange bei einem thema auf-
halten, sondern ständig hin und her wechseln. Das
gemeinsame Essen gibt ihnen so die gelegenheit,
vom Alltäglichen zum Außergewöhnlichen oder
gar schrecklichen zu springen – und wieder zu-
rück. »Erstaunlich, wie viel über negative Dinge
geredet wird«, sagt Duke, »und das ist besonders
wichtig für die Entwicklung von Resilienz. Denn
es zeigt Kindern: Es ging uns nicht immer gut,
aber wir haben uns erholt.« Was die Widerstands-
fähigkeit letztlich stärke, sei das »intergenerationelle
selbst«, meint Duke, »also das gefühl, mit Men-
schen anderer generationen verbunden zu sein«.

und ebendiese Verbindung entstehe durch das Er-
zählen von Familiengeschichten. »Deshalb ist ge-
meinsames Essen eine so wichtige Ressource.«
seit Marshall Duke die 40 Familien belauschte,
haben Forscher in Dutzenden studien untersucht,
wozu diese Ressource dient. Blickt man auf die
Ergebnisse, erscheint das Abendessen als Lösung
aller Erziehungsprobleme: Kinder aus Familien, die
häufig zusammen essen, haben weniger psychische
schwierigkeiten, schwänzen seltener die schule, be-
sitzen einen ausgefeilteren Wortschatz und bringen
bessere Leistungen. sie leiden weniger unter Mobbing,
nehmen seltener Drogen, trinken weniger Alkohol
und rauchen weniger. Die Eltern sind glücklicher in
ihrer Ehe. Es klingt beinahe, als mache das gemein-
same Essen die Familientherapeuten arbeitslos.
Doch bleibt ein Fragezeichen: Die studien
zeigen zwar einen Zusammenhang zwischen Fa-
milienmahlzeit und allerlei schönen Befunden,
sie können aber nicht klären, ob das gemeinsame
Essen tatsächlich die ursache für diese ist. Viel-
leicht essen einfach jene Familien, die ohnehin gut
für den Nachwuchs sorgen, häufiger zusammen?

um dem auf den grund zu gehen, haben die
beiden amerikanischen soziologinnen Kelly Musick
und Ann Meier die Daten von fast 18.000 Jugend-
lichen analysiert und Faktoren wie die Bindungs-
qualität in der Familie, das Einkommen oder die
stärke der elterlichen Kontrolle herausgerechnet.
Prompt schrumpften die Effekte des gemeinsamen

Abendessens. Doch selbst die beiden kritischen
Forscherinnen wischen die Bedeutung des gemein-
samen Essens nicht vom tisch, sie sagen: »Familien-
mahlzeiten bieten eine natürliche gelegenheit für
elterlichen Einfluss.«
Damit mehr Eltern diese gelegenheit nutzen,
hat die Psychologieprofessorin Anne Fishel an der
Harvard university das »Family Dinner Project«
gegründet. In den usA esse weniger als die Hälfte
der Familien täglich zusammen zu Abend, sagt sie.
Deshalb geben Fishel und ihre Kolleginnen Nach-
hilfe: sie versorgen Mütter und Väter mit Rezept-
vorschlägen und sogar mit tipps fürs tischgespräch
(»Fragen sie nicht ›Wie war’s in der schule?‹,
sondern zum Beispiel ›Was hast du heute gelernt,
von dem du denkst, dass ich es nicht weiß?‹«).
Auch in Deutschland sinkt der Anteil der Men-
schen, die mit anderen gemeinsam zu Abend essen,
insgesamt jedenfalls: 2008 waren es 64 Prozent,
2018 nur noch 59 Prozent. Doch in Familien liegt
er ziemlich konstant über 80 Prozent. Das ergab
eine umfrage des Allensbach-Instituts im Auftrag
von Nestlé. und die studie zeigte auch: Das ge-
meinsame Frühstück werde zwar unter der Woche
seltener – aber am Wochenende nachgeholt. Die
überwiegende Mehrheit der Befragten (77 Pro-
zent) gab an, dass ihnen das Essen im Kreis der
Familie wichtig sei.
und weil dieses Bedürfnis nicht nur Familien-
menschen umtreibt, ist in den vergangenen Jahren
das communal eating, das gemeinschaftliche Essen
im öffentlichen Raum, zunehmend populär ge-
worden. Restaurants bieten family style dining oder
shared plates an. »the store Kitchen« in Berlin
etwa bringt das Essen auf großen Platten und in
tiefen schüsseln für alle auf den tisch. Im Ham-
burger sterne-Restaurant »the table« wiederum
gibt es nur einen einzigen, geschwungenen tisch,
der zur geselligkeit animieren soll.
und auch supper clubs verbreiten sich hierzulande:
unbekannte verabreden sich in Privatwohnungen
oder anderen Locations, um in halb öffentlicher, halb
familiärer Atmosphäre gemeinsam zu essen. gleich-
gesinnte finden sich über Apps oder Websites wie
Foodfriends oder zusammenessen.de. glaubt man
einer weiteren Nestlé-studie, gehört solchen Projekten
die Zukunft: sie pro gnos ti ziert, dass »die Menschen
seltener zu Hause, sondern eher gemeinsam in großen
Küchen in der Nachbarschaft kochen werden, wozu
sie sich eigens verabreden.«
Dabei geht es um weit mehr als nur um Nah-
rungsaufnahme. Beim gemeinsamen speisen ver-
innerlichen wir auch die Regeln des Zusammen-
lebens. Kinder erlernen bei tisch nicht bloß kulina-
rischen geschmack, sondern auch gebräuche und
Normen – sozialen geschmack. »Anhand des Essens
verständigen wir uns über Werte«, sagt die sozio-
login Eva Barlösius von der universität Hannover,
die seit Jahrzehnten die gesellschaftliche Dimension
des Essens erforscht. Ihr Resümee: »Das meiste, was
Menschen an sozialen Vorstellungen und umgangs-
formen haben, ist mit Mahlzeiten verbunden und
wird durch sie weitergegeben.«
Es geht um Fragen der gerechtigkeit (wie viel
lässt man dem anderen übrig, darf man von frem-
den tellern stibitzen?), es geht um Hierarchie (wer
nimmt sich zuerst, wer führt das Wort?) und um
Respekt (lässt man den anderen ausreden, hört
man ihm zu, geht man auf ihn ein?). und die
soziale Dimension des Essens entfaltet sich nicht
erst, wenn alle vor dem teller sitzen: Wer bringt
die Mahlzeit auf den tisch, wer kauft ein, wer

kocht, wer verdient das geld? »Am Esstisch werden
gesellschaftliche themen immer wieder neu ver-
handelt«, sagt Barlösius. »Das ist ein schatz, den
die gesellschaft hüten muss.«
Das gilt nicht nur am heimischen Abendbrot-
tisch, sondern auch an den Banketttafeln der
Mächtigen. Als Bundespräsident Frank-Walter
steinmeier 2018 den türkischen Präsidenten Recep
tayyip Erdoğan zum staatsbankett empfing, waren
die Beziehungen zwischen Deutschland und der
türkei äußerst angespannt, vor allem wegen der
Verhaftung kritischer Journalisten. gerade deshalb
waren beim Bankett nicht nur Politiker und Wirt-
schaftsvertreter ins schloss Bellevue geladen, son-
dern auch zahlreiche Journalisten. »Jede gästeliste
ist Politik«, sagt Konrad von Arz, der Protokollchef
des Auswärtigen Amts. »Die Banketttafel ist eine
Pro jek tions flä che, über die wir unsere Werte trans-
portieren: eine offene gesellschaft, Meinungs- und
Religionsfreiheit.«
und weil zwar jeder andere Vorlieben hat, aber
alle Menschen essen müssen, eignet sich das Mahl
so vortrefflich, einander näher zu kommen – selbst
dann, wenn es keine gemeinsame sprache gibt. Als
im Herbst 2015 Hunderttausende syrer, Afghanen
und Iraker nach Deutschland flohen, fanden viele
von ihnen deutsche Freunde – beim Essen. Von
München bis Hamburg, von Aachen bis Jena
gründeten sich gruppen, die zum gemeinsamen
Kochen einluden, einige gibt es bis heute. Der Ver-
ein »Über den tellerrand« etwa führt in mehr als
30 städten Menschen mit und ohne Flucht-
geschichte an einen tisch. Jeder bringt ein Rezept
mit, und über Weißwurst und Falafel begegnet
man einander als ebenbürtige gastgeber.

gemeinsames speisen stiftet Vertrauen, wer
sein Essen mit anderen teilt, versichert zugleich:
schau her, ich vergifte dich nicht. um das notfalls
beweisen zu können, hat man im Außenministe-
rium zu Berlin eine Kühltruhe aufgestellt, in der
bei besonders wichtigen staatsbanketten von jedem
gang kleine Proben eingelagert werden. sollte ein-
mal einem staatsgast nach dem Essen übel werden,
sollte womöglich jemand sterben, kann die Bundes-
regierung auf die Proben verweisen und diploma-
tische Krisen entschärfen.
Essen schafft zudem eine Atmosphäre, in der
sich auch haarige themen leichter verdauen lassen.
Das liegt zum teil schlicht an den Prozessen, die
es im Körper auslöst: Die Nahrungsaufnahme
bremst – über viele Zwischenstationen – den
Boten stoff Orexin. Der lässt uns Hunger verspüren
und ist nach dem Essen nicht mehr nötig. Er sorgt
aber auch für Wachheit. Wird seine Ausschüttung
gehemmt, führt das zu wohliger Entspannung
und einer gewissen Friedfertigkeit – eben dazu,
dass Putin und trump gelassener miteinander
plaudern.
Doch speisen können nicht nur für Harmonie
sorgen, sondern im Idealfall sogar für glücks-
gefühle. Besonders Leibgerichte bringen das neuro-
nale Belohnungssystem in schwung und heben die
Laune. Deshalb rufen die Protokollbeamten des
Auswärtigen Amts vor jedem staatsbesuch im
Ausland an: Welche Vorlieben hat der gast? Einer,
der den geschmack der staatsgäste besonders
traf, war der Leibkoch von Helmut Kohl. Als er
Boris Jelzin einen Blut- und Leberwurststrudel
vorsetzte, war dieser so begeistert, dass er nach
dem Rezept verlangte.
Eine Mahlzeit an sich kann also schon ent-
spannt und glücklich machen. Aber wie wirkt das
gemeinsame speisen mit anderen auf die Psyche?
Werner sommer wartet am tisch im »Bella
Italia«, Berlin-Adlershof. Halb eins, Zeit zum
Mittagessen. Doch das »Bella Italia« ist nicht nur
ein Nachbarschaftslokal mit aprikosenfarbenen
tischdecken, gelben Rosen und Eros-Ramazzotti-
Klängen, es ist auch ein Labor. Hier hat sommer
erforscht, was geschieht, wenn Menschen gemein-
sam zu Mittag essen. sommer ist Psychologe an
der Humboldt-universität. Er bestellt Lasagne
und rät: »Falls sie nachher noch konzentriert einen
text redigieren wollen – machen sie das besser
morgen.«
sommer ist grundlagenforscher, eigentlich
untersucht er kognitive Konflikte, gesichts-
erkennung, sprachverarbeitung, solche sachen.
Doch dann besuchte er mit Kollegen erstmals im
Leben ein Luxusrestaurant. »Es war ein überwäl-
tigendes Erlebnis!« sein Interesse für die Wir-
kung des Essens auf die Psyche war geweckt.
sommer wollte wissen: Wie beeinflusst ein ge-
meinsames Mittagessen stimmung und kognitive
Leistungsfähigkeit, verglichen mit der einsamen
stulle im Büro?
Nacheinander schickte er 16 Frauen ins »Bella
Italia«, jede durfte einen tischgenossen ihrer Wahl
mitbringen. Die beiden bestellten, plauderten,
aßen miteinander. Danach sollten die Probandin-
nen im uni-Labor einige tests absolvieren, unter
anderem jenen, der ihre kognitive Kontrolle maß,
also die Fähigkeit, konzentriert Aufgaben zu erle-
digen. Zum Vergleich setzte sommer 16 anderen
Frauen die gleichen speisen in gleicher Menge
vor – sie mussten jedoch allein essen, in einem
kleinen uni-Büro.

TITELTHEMA: GEMEINSAM ESSEN


Zu Tisch! Fortsetzung von s. 27

D


G


as gemeinsame


Mahl gehört


zu den Grund-


maßnahmen


der Vertrauens-


bildung


Konrad von Arz, Protokollchef des
Auswärtigen Amts

emeinsames


Essen ist das


Rückgrat des


menschlichen


Miteinanders


Marshall Duke, Psychologe

Zur Feier der Schöpfergöttin Nüwa
verspeisen Dorfbewohner
in der chinesischen Provinz Hebei
einen Berg Nudeln

An einer improvisierten Sabbat-Tafel
trösten sich Familien in Tel Aviv. Die
Stadtverwaltung hatte ihre Häuser
abgerissen, um Luxuswohnungen zu bauen

Das Foto von Jianhui Liao hat in der Kategorie »Food« den Travel Photographer of the Year Award gewonnen. Foto (Ausschnitt): Jianhui Liao/tpoty.com Foto (Ausschnitt): Shiraz Grinbaum/ActiveStills

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