Die Zeit - 01.08.2019

(Kiana) #1

  1. August 2019 DIE ZEIT No 32 POLITIK 3


Er ist da,


wo es wehtut


Er ist überall


und nirgends


I


st Michael Kretschmer, sachsens CDu-
Ministerpräsident, ein Politiker von gestern?
Man könnte das manchmal glauben. Das liegt
an seinem etwas hölzernen Konservatismus
und an manchen provokanten sätzen. Wenn
Kretschmer, wie neulich, die grünen mit der AfD
vergleicht, weil in der Klimadebatte beide Parteien
»nicht kompromissfähig« seien, dann hört sich das
erst einmal wunderlich an, irgendwie überkommen.
Es ist aber ein Missverständnis, Kretschmer für
einen von gestern zu halten. Er ist vielmehr ein typ
Politiker, der drei Dinge ausprobiert, die bislang in
Deutschland niemand so konsequent versucht hat. Er
will, erstens, nicht weglaufen vor den Wütenden, son-
dern sich zu ihnen hinbewegen. Er will sich, zweitens,
den Frust nicht nur anhören, sondern Politik daraus
ableiten. Er will, drittens, den Ausgleich suchen zwi-
schen allen Positionen: links und rechts, oben und
unten, öko-aktivistisch und öko-reserviert. Die Wette,
die Kretschmer eingegangen ist, lautet: Man kann den
bösen Populismus mit einem guten Populismus
bekämpfen. Man müsse nur reden, reden, reden.
Zum Beispiel neulich, an einem schwülwarmen
Dienstagabend, in einem saal der Leipziger uni, bei
einem seiner »sachsengespräche«, die Kretschmer
allenthalben abhält: Da steht er vor Bürgern, die
wütend oder unzufrieden sind. Kretschmer ist ein
hagerer Mann von 44 Jahren mit rotem schopf, die
Krawatte hängt schief von seinem Hals. Er sieht
abgekämpft aus, wie oft. Das liegt am gewaltigen
Pensum, das er bewältigt, seit er jeden tag dasselbe
tut. Er reist durchs frustrierte sachsen, von einer
Bürgerversammlung zur nächsten. Er will dieses
Land, von dem viele glauben, es sei schon an die
AfD verloren, unbedingt befrieden.
Berühmt geworden sind seine sachsengespräche
nach den Ausschreitungen von Chemnitz. Dort
stand er vor einem Jahr brüllenden Massen gegen-
über. Er schaffte es, die Lage zu beruhigen. Er gibt,
auch hier in Leipzig, den Ermutiger der Abgehäng-
ten: »Dass man den Kopf runternimmt und nichts
sagen zu dürfen glaubt – diese Zeiten sind vorbei!«
Er fügt hinzu: »Wir müssen als sachsen oder als Ost-
deutsche unsere Meinung, unsere Position anständig
im ton, aber auch klar in der sache formulieren.«
seine Politik sei der Versuch, verschiedene sicht-
weisen miteinander zu klären. »Möglichst so, dass
am Ende alle noch leben.« Am Ende des Abends sa-
gen die Leute, die man fragt – auch jene, die ihn
nicht wählen wollen –: gut, wie er das macht.
Kretschmer tut all das, weil er selbst schon mal an
der AfD gescheitert ist: Zur Bundestagswahl 2017 ver-
lor er sein Direktmandat in seiner Heimatstadt görlitz
an den Kandidaten dieser Partei. Er flog aus dem Par-
lament, nach 15 Jahren. Dass er kurz danach trotzdem
Ministerpräsident wurde, dass er damit seine politische
Karriere retten konnte – auch das lag am Vormarsch
der AfD: Deren Wahlerfolg in sachsen spülte Kretsch-
mers Vorgänger stanislaw tillich aus dem Amt. Aus
der Wut der Wähler folgerte der Neue: Die Leute
wollen streiten, also streiten wir!
Kretschmer glaubt, dass die AfD stark geworden
ist, weil Politiker und Medien zu schwach im Zuhören
gewesen sind. sein Ziel ist es deshalb, den Leuten in
sachsen zu zeigen: Wenn ihr mir etwas anvertraut,
dann wird das zum thema in ganz Deutschland. so
übernimmt er eine Rolle, von der bislang die AfD
dachte, sie gehöre ihr exklusiv. Der unterschied zwi-
schen Kretschmer und der AfD ist, dass er die grenzen
des Anstands wahrt, dass er die parlamentarische De-
mokratie achtet und dass er kein Extremist ist. Allen-
falls ein Extremist der Mitte.
Man kann das ganz gut an einem seiner größeren
Aufreger der jüngeren Zeit zeigen, an der sache mit
Wladimir Putin. Anfang Juni hat sich Kretschmer
mit dem russischen Präsidenten getroffen, und nicht
nur das: Er ließ sich auch mit ihm fotografieren, lud
ihn nach Dresden ein und forderte, dass die sinn-
haftigkeit der sanktionen gegen Russland überdacht
werden müsse. In allen überregionalen Medien
wurde Kretschmer geprügelt dafür, aber die Zu-
schriften der sachsen – so erzählen es Mitarbeiter
aus der staatskanzlei – waren eindeutig: massenhafte
Zustimmung. Kretschmer bestärkte das in seiner
Überzeugung, dass es einen abgekoppelten, einen
zweigeteilten Diskurs in Deutschland gebe: Die
Meinungsmacher auf der einen seite. Die Leute, die
auch eine Meinung haben, welche aber keinen inte-
ressiere, auf der anderen. Für die will er da sein.
Wo für ihn die Mitte liegt, tariert er immer neu
aus: Beim thema Klimawandel sieht er sich genau
zwischen grünen und AfD. Während seines Auftritts
in Leipzig ruft er aus: »Die einen zerren, den Klima-
wandel gibt es nicht.« Die anderen dagegen, sagt
Kretschmer, die würden am liebsten schon morgen
die Republik umkrempeln. »Ich muss das ein bissel
zusammenhalten.« Aus demselben grund lautet
Kretschmers Position in der Migrationsdebatte: Asyl-
recht hochhalten, aber die Kriminalität durch Asyl-
bewerber anklagen. Oder, im Fall Russlands: nicht
bedingungslos aufseiten Putins stehen, aber auch nicht
auf der seite der Russland-Verächter.
Natürlich kann man das kritisieren. Darf es denn
sein, dass ein Ministerpräsident sich vor allem als Ver-
mittler versteht, als Lautsprecher und Erklärer von


Bürgermeinungen? Hat er nicht ebenso den Job, eine
Vision anzubieten, eine eigene Haltung für seine Klien-
tel zu entwickeln wie, sagen wir, Robert Habeck für die
seine? Aber Kretschmer steht vor anderen Herausfor-
derungen als der grünen-Chef. Jener vertritt im Dis-
kurs all die, die sich moralisch sowieso in der Vorhand
wähnen. Die brauchen keinen, der sie an Debatten
anhängt, die geben die Debattenthemen ja vor.
Kretschmer muss eine gespaltene gesellschaft kitten.
um die Frustrierten zu erreichen, schadet er beinahe
wissentlich der eigenen Partei. Er räumt linke Positio-
nen und überlässt sie den grünen oder der sPD (mit
der er in sachsen regiert). Kretschmer findet das wohl
okay, wenn er dafür Wähler von der AfD gewinnen
kann. In seinen Bürgerdialogen ruft er dazu auf, zu

wählen, was das spektrum hergibt – wenn es nur nicht
die Rechtspopulisten sind. und gegen Rechtsextremis-
mus kämpft er vehement: Kein sächsischer CDu-Re-
gierungschef hätte früher je eine Anti-Nazi-Demo
angeführt. Kretschmer tut es. Das kommt an: Mit
Daniel günther und Volker Bouffier gehört er zu den
beliebtesten Ministerpräsidenten der union.
geht seine Wette auf, wird die CDu am 1. sep-
tember der überraschende gewinner sein. Ein Wahl-
erfolg in sachsen wäre auch der Wahlerfolg der CDu
in Berlin, ein kleines Wunder für Annegret Kramp-
Karrenbauer. sie hat Konservative wie Kretschmer
lange gestärkt. Bislang wächst die AfD in sachsen, sie
liegt in den umfragen knapp hinter der CDu, die
Lage ist ernst. Aber keiner sollte sich zu sicher sein,
dass sie ohne Kretschmer nicht möglicherweise noch
ernster wäre. MARTIN MACHOWECZ

http://www.zeit.de/audio

D


ass die Dinge ihm langsam entglei-
ten, wurde deutlich, als Michael
Kretschmer sich Ende Mai kurz nach
der Europawahl äußerte. In sachsen
war die AfD soeben zum zweiten Mal
nach der Bundestagswahl 2017 stärkste Kraft gewor-
den. sie konnte zwar kaum zulegen, aber auch nicht
zurückgedrängt werden. stattdessen gelangen den
grünen, die im Osten bisher keine große Rolle spiel-
ten, in einigen städten und Kommunen erstaunliche
Erfolge. und was tat der Ministerpräsident? Er gab
die AfD und die grünen fortan als Hauptgegner im
kommenden Landtagswahlkampf aus. Denn: »Die
einen tun so, als würde Deutschland morgen wegen
des Klimawandels untergehen, die anderen be-

schwören den untergang des Abendlandes.« Er stell-
te die beiden Parteien damit auf eine stufe.
Da konnte jemand nicht aus seiner Haut. In diesem
satz zeigte sich Kretschmer als ein Mann, der durch
und durch in der sächsischen CDu sozialisiert wurde.
Die Christdemokraten regieren hier seit 30 Jahren, von
2005 bis 2017 war Kretschmer ihr generalsekretär, sie
sind in dem wohlhabendsten der ostdeutschen Länder
eine Art staatspartei. Jahrzehntelang konnte man es
sich leisten, nach allen seiten auszuteilen.
Aber die Zeiten haben sich geändert. Die sach-
sen wollen sich keiner staatspartei mehr unterord-
nen. sie scheren, gelinde gesagt, aus, nach rechts wie
nach links. Lässt sich da mit Arroganz ein Neu-
anfang herbeiführen?
Als Michael Kretschmer vor knapp zwei Jahren
das Amt des sächsischen Ministerpräsidenten von
einem heillos überforderten stanislaw tillich über-
nahm, schrieben einige, dass dieser Job der schwie-

rigste im ganzen Land sei. Da konnte man zustim-
mend nicken, denn tatsächlich kommt es einer fast
unmöglichen Aufgabe gleich, die AfD ausgerechnet
hier zu schlagen, in ihrem Kernland. sachsen ist zu
einem synonym für den Rechtsruck in teilen der
ostdeutschen gesellschaft geworden, für ihre tief
sitzende Demokratieskepsis. und die ganze Repu-
blik schaut nach sachsen, die meisten Menschen
glauben, sie wüssten besser als die Politiker mit die-
ser besonderen Lage umzugehen.
Eine schonfrist gab es für Kretschmer daher nie.
Dass er sich der neuen Aufgabe stellte, dafür muss man
ihm Respekt zollen. Das geben auch seine politischen
gegner in Dresden zu.
Kretschmer scheint zu glauben, die Wütenden
seien jene, die bislang zu wenig zu Wort kamen.
Also redet und hört er den Bürgern in seinen soge-
nannten sachsengesprächen zu wie kein Minister-
präsident vor ihm. Ein Mann der großen Worte ist
der Ministerpräsident nicht, vielmehr ein freund-
licher, in ruhigen Momenten sympathischer, bei-
nahe zurückhaltend wirkender Mann, dem jedes
Pathos und jede Überhöhung fremd ist. Doch leider
formt er aus den Widersprüchen der sächsischen
Realität einfache Wahrheiten.
Ein teil der Bevölkerung hegt ja wirklich tief
sitzendes Misstrauen gegen politische Institutionen,
kultiviert Alltagsrassismus und Wessi-Hass, will
nicht mehr glauben, was in der Zeitung steht. Als
Antwort proklamiert Kretschmer immer und immer
wieder den starken staat und dessen gewaltmono-
pol; er ließ ein neues, verschärftes Polizeigesetz ver-
abschieden. Kretschmer ist offenbar der Ansicht,
den rechtsextremen Einstellungen mancher sachsen
mit gutem Zureden beikommen zu können. Er
scheint das als konservative Politik zu verstehen.
Aber ein gegenmodell lässt sich auf diese Weise
nicht formulieren. Mittlerweile sieht es so aus, als
verlöre er sich in all dem gehörten und gesagten
selbst, er wirkt überfordert. Es ist jedenfalls nie rich-
tig klar geworden, welche neuen Lehren, Einsichten
und Wahrheiten er in diesen landauf, landab geführ-
ten Bürgerdialogen gewonnen hat. Zumindest hat
er sie nie formuliert.
Mehr noch, je länger man ihm dabei zusieht,
desto größer werden die Zweifel. Kretschmer will
einfach keine strategie, kein durchgreifendes Kon-
zept einfallen. Oft wirkt er wie ein getriebener. Im-
mer fahriger agiere er, sagen manche, die mit ihm im
Landtag zusammenarbeiten. Immer einsamer werde
es um ihn, berichten sie. Die AfD holt auf, Woche
für Woche, in manchen umfragen hat sie die CDu
schon überholt.
Ahnt Kretschmer bereits, dass ihm das, was er
sich vorgenommen hat, nicht gelingen wird? und
sagt er deshalb mal dieses, mal jenes, eröffnet er des-
wegen immer neue Konflikte in einem an Konflik-
ten wahrlich nicht armen Bundesland?
Er teilt fortlaufend aus, gegen AfD, Linke und
grüne, fast so, als sei er noch immer generalsekretär
einer wahlkämpfenden Partei und nicht Minister-
präsident. Dann forderte er überraschenderweise ein
Ende der sanktionen gegen Russland, was ihm zwar
sympathien aus sachsen, aber auch Widerspruch
aus dem Rest der Republik eingebracht hat. War ein
Foto mit Wladimir Putin das wert?
Durch sachsens CDu und vielleicht auch durch
Michael Kretschmer selbst geht jener Riss, der auch
durch die ostdeutsche gesellschaft verläuft. Kretsch-
mer scheint zu ahnen, dass er an der spaltung des
Landes in jene, die sich den demokratischen Werten
verpflichtet fühlen, und jene, denen diese mittler-
weile egal geworden sind, wenn schon nicht bewusst,
aber doch unbewusst mitgearbeitet hat.
Die konservative Erzählung über die ostdeutsche
Nachwende-Realität betonte die Erfolge, allen Wid-
rigkeiten zum trotz. Die Rückschläge und Nieder-
lagen indes verschwieg man: dass die Angleichung
der Lebensverhältnisse in Ost und West noch immer
nicht Wirklichkeit ist; dass Hunderttausende junge
und gut ausgebildete Bürger den Freistaat seit 1990
verlassen haben; dass die Zivilgesellschaft durch
diese Abwanderung geschwächt wurde. Kretschmer
freilich redet am liebsten davon, was alles geschafft
wurde, obwohl seit 2015, seit der Flüchtlingskrise,
seit Pegida und AfD die Probleme so offen zutage
treten wie nie zuvor. Das zu thematisieren, über-
lässt er zum Beispiel der sächsischen Integrations-
ministerin Petra Köpping von der sPD, seinem
Koalitionspartner.
Der politische Raum sachsen ist zerklüftet, wund
und aufgerieben. Viele Bürger sind es leid, vom Rest
des Landes pauschal als Nazis abgestempelt zu wer-
den, obwohl sie sich zu einer offenen, liberalen ge-
sellschaft bekennen. Doch sPD und Linkspartei
sind im Moment zu schwach, um einen Wandel,
den man sich als einen gesellschaftlichen Versöh-
nungs- und Heilungsprozess vorstellen muss, einlei-
ten zu können. Die grünen wachsen, und dennoch,
man kann es nicht anders sagen: Das schicksal sach-
sens liegt auf den schultern von Michael Kretsch-
mer. Es sieht aber nicht so aus, als würde er es tragen
können. JANA HENSEL

http://www.zeit.de/audio

Michael Kretschmer
(CDU) will Sachsen
wieder einen

In Sachsen wird am 1. September gewählt. CDU und Af D liefern sich ein Duell. Der Ministerpräsident,


der sich mit Putin fotografieren ließ, ist umstritten. Zwei Ansichten zu Michael Kretschmer


Foto (Ausschnitt): Thomas Victor/Agentur Focus
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