Die Zeit - 01.08.2019

(Kiana) #1

  1. August 2019 DIE ZEIT No 32


D


iese Reise beginnt, wie die
allermeisten, im Kopf. Lange
bevor gerhard schröders
fünfte Ehefrau soyeon Kim
auf dem roten teppich in
Bayreuth vor Aufregung stol-
pert und lange bevor Peter
sellars in seiner salzburger Festspielrede eine »neue
Zivilisation« fordert, ein Ende der »imperialen
Ära«, starre ich auf die Wetter-App in meinem
Handy. Bayreuth, 33 grad, heißt es da. Das geht ja
noch. Aus 33 grad aber macht die Pro gno se rasch
34, 35, 36 grad. gemessen werden am 25. Juli
schließlich 37 grad im schatten und 45 grad in
der sonne, die Festspiele finden trotzdem statt.
Auf meinem kurzen Fußmarsch zum grünen
Hügel versuche ich, die Wärmestrahlung von 1974
Wagnerianern auszurechnen, so viele Besucher
fasst der Zuschauerraum. Oben angekommen,
habe ich das gefühl, mir haute jemand mit einem
Hammer auf den Kopf.
solange er Kanzler war, ist gerhard schröder nie
nach Bayreuth gefahren. Kunst als staatsaktion, das
lag ihm nicht. und dann noch Wagner.
Eine Klimaanlage, versichert Katharina Wagner
auf der Pressekonferenz, werde es in Bayreuth auch
künftig nicht geben, Klimawandel hin oder her. Das
Haus ist aus Holz gebaut, dieses würde austrocknen,
die einzigartige Akustik wäre gefährdet. Kunstfron
also oder Kunstflucht, lautet die Alternative dieses
sommers, aushalten oder wegbleiben. und doch ge-
hört meine Reise zu Wagners Tannhäuser nach Bay-
reuth, zu Händels Agrippina nach München und zu
Mozarts Idomeneo und Cherubinis Médée nach salz-
burg zu den eindringlichsten der vergangenen Jahre.
Weil wirklich etwas auf dem spiel steht. Anders als
der junge Anarchist Richard Wagner, der frei sein
wollte, »frei im Wollen, frei
im thun, frei im geniessen!«,
haben wir mit unseren Frei-
heiten so zerstörerisch gewütet
und wüten weiter, ökologisch,
so zial, dass wir längst dem Frei-
heitsbegriff selbst misstrauen.
und am schönen, guten,
Wahren zweifeln. Oder mora-
lisch werden.
so viel »draußen« jedenfalls



  • und das fängt in Bayreuth an

  • gab es in der Oper selten. Das
    genre rüttelt an seinen Ketten,
    als wollte es hinaus auf die
    Marktplätze und Kirchenstu-
    fen, auf denen es einst geboren
    wurde. Das sit-in, das der
    Tannhäuser- Regisseur tobias
    Kratzer in der ersten Pause rund
    um den teich am Fuß des Fest-
    spielhügels veranstaltet, ist da-
    für ein gutes Beispiel. Die far-
    bige Dragqueen Le gateau
    Chocolat und der kleinwüchsi-
    ge schauspieler Manni Lauden-
    bach im Blechtrommel- Outfit
    von Oskar Matzerath (beide
    gehören zu Venus’ Entourage)
    machen hier Party, lassen
    Luftballons steigen und ein
    schlauchboot schwimmen und
    entern alsbald – so beginnt der
    zweite Akt – mit einer Leiter
    das Festspielhaus. Dort wird,
    wen wundert’s, Tannhäuser und
    der Sängerkrieg auf Wartburg
    gegeben. Erfrischung
    benötigt? Wo sich die Hochkultur nicht zu den Pau-
    senclowns bequemt, den Freaks und Freigeistern, sagt
    Kratzer, rücken die eben den heiligen Hallen zu Leibe.
    Per Video-Livestream, zeitgleich zum hyperkon-
    ventionell dahinschlurfenden Wartburg-geschehen
    auf der Bühne, sieht man das queere Häuflein nun
    durch die Katakomben ziehen: die blonde Venus,
    sündhaft schön und in glitzerleggins, Le gateau
    Chocolat, High Heels, knatschgelber tüll, und der
    Kleene mit seiner trommel. tannhäuser suchen sie,
    ihren Kumpel, der die blöde Idee hatte, in sein bür-
    gerliches sängerleben zurückzukehren. Witzig und
    kackfrech, wie die drei an der berühmten Dirigenten-
    galerie vorbeiflanieren: hier ein klimpernder Augen-
    aufschlag des travestiekünstlers vor Christian thiele-
    manns Konterfei, dort ein drohender Zeigefinger in
    Richtung James Le vine. Es wird viel gelacht an diesem
    Abend in der Bayreuther gluthitze, auch unter
    Niveau, etwa wenn zu tannhäusers gefürchteten
    »Erbarm dich mein!«-Rufen Ende des zweiten Akts
    (drei hohe As hin ter ein an der!) die Festspielleiterin
    persönlich im Bild erscheint und 110 wählt. Die
    Polizei hat freilich nicht viel zu tun, längst schließt
    tannhäuser seine schrillen Freunde wieder in die
    Arme. Le gateau Chocolat deckt die Harfe des
    sängerwettstreits mit einer Regenbogenfahne zu,
    dann ist der olle Ritter-spuk um die gunst Elisabeths
    von thüringen vorbei, und das ach so wilde, unge-
    zügelte off stage- trei ben kann neu Fahrt aufnehmen.
    Für die Männerfantasie, die Wagner hier auf
    tannhäuser ablädt, interessiert sich die Inszenierung
    nicht. Kratzer und sein team – Rainer sellmaier für
    Bühne und Kostüme, Manuel Braun für die hinrei-
    ßenden Videos – scheren sich nicht um Hure (Venus)
    oder Heilige (Elisabeth), sinnenrausch oder Liebe,
    sondern konfrontieren zwei seinsauffassungen mit-
    ein an der: auf der ästhetischen Ebene das Klischee der
    Werktreue mit dem jüngeren Bayreuther Regie theater


(die Zitate reichen vom schlingensief-Hasen bis zu
diversen Castorfiana) und der sogenannten Autoren-
regie; und auf der gesellschaftlichen Ebene Macht
und Elend des Establishments mit dem Potenzial der,
nun ja, Jungen, Kreativen. Die sache geht übel aus:
tannhäuser, der zum Vorspiel mit Venus so fröhlich
durch den thüringer Märchenwald düst, wünscht
sich am Ende nichts sehnlicher, als dies mit Elisabeth
getan zu haben (tenöre sind eben doch schlicht von
gemüt). Da hat sie sich bereits die Pulsadern aufge-
schnitten, und auch Venus kann in einer letzten Ak-
tion à la Pussy Riot nicht verhindern, dass Oskar in
der gosse landet und Le gateau Chocolat sich kaufen
lässt – sie macht jetzt uhren-Reklame. Das queere
Projekt: gescheitert. Keine Erlösung, nirgends. Nur
ein bisschen Boulevard.
Eine Aufführung voller Ironie und makellosem
Handwerk, stets liebevoll, nie hämisch. Wollte man
tobias Kratzer etwas vorhalten, dann dass er die
Dichotomien, die er zeigt, nur halbherzig dekon-
struiert. Von Opas Mottenkiste hat man sich auf dem
grünen Hügel vor Jahrzehnten verabschiedet, und
wo, bitte schön, treten noch säuberlich Aussteiger
gegen Aufsteiger an, Kommunarden gegen spieß-
bürger? 2019 kennt die spaltung der gesellschaft
weitaus verwirrendere Formen und Fronten. Kratzer
ist Wagners utopie auf der spur, wenn er tann-
häuser im dritten Akt als Argumentationshilfe einen
Klavierauszug in die Hand drückt (den von Tann-
häuser). Vielleicht steht ja doch etwas in den Noten,
das schluss macht mit »drinnen« und »draußen« und
jedes binäre Denken überwinden hilft. Vielleicht aber
auch nicht, schon der junge Wagner war ein Filou.
so, und warum ist hier so gar nicht von der Musik
die Rede? Weil sie, und das ist in Bayreuth natürlich
ein skandal, kaum eine Rolle spielt. Die sänger ma-
chen ihre sache gut bis hervorragend (stephen gould

als unverwüstlicher tannhäuser,
Elena Zhidkova als agile, anfangs
leicht nervöse Venus, Lise David-
sen als stimmgewaltige Elisa-
beth), kämpfen allesamt jedoch
mit dem text – und mit den
Defiziten des Dirigenten. Der
heißt Waleri gergijew, wurde als
star engagiert und verhält sich
exakt so: viel weg, wenig Proben.
Das rächt sich. Die Einfallslosig-
keit, die der 66-Jährige bei sei-
nem Debüt in Bayreuth an den
tag legt, ist eklatant und bestür-
zend, selbst mit der Akustik (die
für Tannhäuser nicht ideal ist)
scheint er sich nur en passant
befasst zu haben, kurzum: Es
scheppert, es poltert, es macht
keinen spaß. Für so wenig Em-
pathie und seele wird der Putin-
Intimus kräftig ausgebuht. Wei-
tere sommer, heißt es, wolle
gergijew in Bayreuth ohnehin
nicht dirigieren. Einer reicht.
Vier stunden verbringe ich
am nächsten tag im Ferienstau
auf der A 9 gen süden, zwischenzeitlich zeigt das
thermometer 39,5 grad, in München liegt es
knapp darunter. Das Prinzregententheater, Münchens
Wagner-Festspielhaus in Klein-Kopie seit 1901, oh
Wunder, scheint nicht ganz aus Holz gebaut zu sein
und ist klimatisiert, sogar recht heftig. Prompt kramt
eine Zuschauerin in der Warteschlange zum WC ein
Paar strümpfe aus der tasche – »koid is«.
Ich glühe langsam aus, mein Kreislauf aber macht
trotzdem schlapp, weswegen ich zur Pause gehe (was
jedes urteil über den Abend verbietet). Beim Duschen
entdecke ich zwei blaue Flecke auf meiner Wirbel-

säule. Die habe ich immer, wenn ich in Bayreuth war,
das gestühl ist für weniger Beleibte einfach zu hart.
und die Leihkissen wärmen. Im Prinzregententheater
ließ August Everding die Lehnen der Klappsitze mit
Leder überziehen, kühl, weich und weise.
Bei Agrippina bewegt sich alles im Einklang von
Musik (Ivor Bolton) und Regie (Barrie Kosky): der

metallene Container, der eine Art Baukasten der
Macht symbolisiert; das Maß an slapstick, das den
sängern abverlangt wird, um das Intrigen-Dickicht
der Handlung zu lichten (es geht um die römische
Kaiserin Agrippina, die ihren sohn Nero auf den
Cäsaren-thron putscht); und die Erdanziehungs-
kraft, die diese Händel-Partitur entfaltet, mit langen
Rezitativen, struppigen Arien und düsteren Farben,
vieles recht kurzatmig komponiert und aus anderen
stücken entliehen. Warum das ganze im ersten teil
trotzdem nicht recht zündet? Zu viel »drinnen« viel-
leicht und zu wenig »draußen«. Wobei sich nicht mit

jeder Oper die geschichte von der selbstläuterung
des genres erzählen lässt. Muss auch nicht.
samstag, stau am Irschenberg, Blockabfertigung
am tauerntunnel. Ich nehme die B 304, die mich
nach zweieinhalb stunden am ersten Kreisel hinter
Freilassing Richtung salzburg-stadtmitte ausspuckt.
30 grad, es hat sich abgekühlt. Abends in der Felsen-

reitschule steht der Dirigent teodor Currentzis am
Pult und schwitzt, bis ihm sein Hemd am Leib klebt.
Ab und zu trinkt er in großen schlucken Wasser.
Mozart ist anstrengend. und Currentzis ringt um
seine Lesart des Idomeneo. Das Freiburger Barock-
orchester, das im stehen spielt, bringt einen Rucksack
mit, aus tradition und einer über 30-jährigen Er-
fahrung als Alte-Musik-Klangkörper. Mal schnürt
Currentzis den sack auf, mal zu, und solches geben
und Nehmen macht seltsamerweise, dass die Musik
rhetorisch wie klanglich weniger radikal neu gelesen
wirkt, als man das erwartet hätte. Erwartungen kön-

nen allerdings trügen, und warum sollte ausgerechnet
ein zum Revoluzzer des Betriebs (v)erklärter Musiker
seinem Ruf eigentlich immer gerecht werden?
Das Hammerklavier ist großartig, das in der
kühnen salzburger strichfassung präludierend
nahezu alle seccorezitative überflüssig macht. und
in den gewittermusiken, ja, da kracht der Donner
und heult die Windmaschine. Auch das Leise ist
oft unerhört leise und kaum mehr Musik als tönend
sich selbst bewegende Materie, in den Chören vor
allem. Wenn der musicAeterna-Chor aus Perm im
zweiten Akt zu »Placido è il mar« anhebt, in x-
fachem Pianissimo und irrwitziger Homogenität,
wie aus dem Nichts, dann schwebt man innerlich
selbst über den Wassern. Dann ist, so viel Pathos
darf sein, alles möglich und alles gut. Wie übrigens
auch nach Elettras großer Rache-Arie am schluss.
Alle liegen sich in den Armen, die Kreter, die
griechen, die götter, die Menschen, alte wie neue
Könige, beschwören Aufklärung und Humanismus
und »nie wieder Krieg!« – und dann schleudert
einem diese Frau ihr zerfetztes Herz entgegen, ihren
ganzen glühenden Hass (»Oh smania! Oh furie!«).
unglaublich, wie Nicole Chevalier das macht: mit
Fingern wie aus dem Fegefeuer, mit Füßen, vor
denen sich im nächsten Augenblick die Pforten der
Hölle öffnen. und mit einem sopran, der in jedem
Affekt seele hat. Dass Peter sellars, der Regisseur,
Elettras Leiche auf offener Bühne liegen lässt, be-
rührt und entschädigt für allzu viel toleranz-
tümelei, an die ohnehin niemand glaubt.
sellars freilich treibt noch einen anderen Keil ins
geschehen. Über weite strecken sieht dieses aus wie
ein Re make seines sensationserfolgs mit Mozarts La
clemenza di Tito vor zwei Jahren, nur dass die szene
(george tsypin) jetzt voller Plastikmüll ist, hochästhe-
tische Designerobjekte, aber große und viele und aus
Plastik. Idomeneo erzählt von
einer Natur in Aufruhr, bei
Mozart kann am Ende nur
ein Deus ex Machina den
Konflikt lösen, die Menschen
retten und das Meer be-
frieden. Bei sellars ist es ein
Kunstgriff: Indem er die
große Ballettmusik ans Finale
setzt und eine tänzerin und
einen tänzer aus Hawaii und
Kiribati auftreten lässt (beide
von den steigenden Meeres-
spiegeln existenziell bedroht),
endet der Abend in einem
flammenden Appell für ein
sofortiges globales umdenken
in sachen Klimapolitik.
Hat sellars etwa Richard
Wagner gelesen (»Die holde
Kunst, sie werde jetzt zur
tat!«)? Darf Oper das, sich so
weit nach »draußen« lehnen,
so unverhohlen Partei ergrei-
fen? sie darf, nein: sie muss


  • und nichts daran ist wohl-
    feil. Weil es nicht mehr ge-
    nügt, sein eigenes kleines
    Kunsterleben nach Hause zu
    tragen und sich daraus seine
    kleine Welt zu zimmern. Weil
    die Fichten im thüringer
    Wald, durch den tannhäuser,
    Venus, Oskar und Le gateau
    Chocolat brettern, zum ster-
    ben verurteilt sind. und weil
    sellars so viele Festspielreden halten kann, wie er
    will: Die Viertelstunde, in der Brittne Mahealani
    Fuimaono und Arikitau tentau, den beiden tän-
    zern, die Felsenreitschule gehört, brennt sich ein.
    Damit könnten alle Festivals im grunde zu
    Ende sein. Passenderweise kommt Regen auf, in
    dicken grauen schnüren fällt er vom Himmel,
    einen Nachmittag, eine Nacht, einen Vormittag
    lang. 16, 17 grad, welche Labsal!
    und ein Postskriptum:
    Dienstagabend hat im großen salzburger
    Festspielhaus noch Cherubinis Médée Premiere,
    erneut geht es um Mythos und Macht, göttli-
    ches und Menschliches. Ein Mann, Jason, be-
    trügt seine Frau, Medea, sie trennen sich, er hei-
    ratet neu, Medea kommt zurück und bringt erst
    ihre Rivalin um, dann ihre beiden Kinder. Medea
    (mit leuchtender Intensität: Elena stikhina) ist
    die Fremde. sie hat nur ihre Rache und ihre
    unerbittlichkeit.
    simon stone, der Regisseur, erzählt diese ge-
    schichte in so wasserdicht heutigen Bildern – im
    Puff, im Hotel, am Flughafen, an einer tank-
    stelle –, dass es einen vor Wohlvertrautheit
    gruselt. Mailboxnachrichten sind zu hören, und
    perfekt gedrehte Videos zeigen, wie glücklich
    (und banal) das Leben früher war und was im
    Off geschieht. Dass diese Passagen ohne gesang und
    Musik, also ohne »Oper«, bewegender sind als der
    ganze Cherubini mit seiner strengen, etwas hölzer-
    nen Dramatik, zielt sicher mehr auf Öffnung und
    Erklärung als auf eine Kritik am stück.
    Der grat ist hier definitiv schmaler als bei
    Mozart oder Wagner. und sie steht ja auch immer
    mit auf dem spiel, die Frage, wie lange wir von den
    Ressourcen unserer alten Partituren noch werden
    zehren können, ohne Raubbau zu treiben.
    Der sommer 2019 hat darauf nachhaltige
    Antworten gegeben.


FEUILLETON 35


So viel draußen war nie


Die Oper mischt sich ein in die Klimawandelwelt: Eine sommerfestspielreise nach Bayreuth zu Wagners »tannhäuser«, nach München
zu Händels »Agrippina« und nach salzburg zu Mozarts »Idomeneo« und zu Cherubinis »Médée« VON CHRISTINE LEMKE-MATWEY

Manni Laudenbach im
Oskar- Matzerath- Outfit im
»Tannhäuser« in Bayreuth

Mittig Paula Murrihy als
Idamantes, rechts daneben
Ying Fang als Ilia, kniend
Nicole Chevalier als Elettra
in Mozarts »Idomeneo«

Fotos: Anne Kirchbach; Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele; Wilfried Hösl

Szene aus Barrie Koskys
Inszenierung von
Händels Oper »Agrippina«
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