Die Zeit - 01.08.2019

(Kiana) #1
von ZEIT -Autorenkö nnenSieauch hören,donnerstags 7. 20 Uhr.

Filmkritiken


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36 FEUILLETON 1. August 2019 DIE ZEIT No 32


Waldbrandheiß


Feuer ist das Leitmotiv im
neuen Album des Produzenten
Flying Lotus aus Kalifornien

D


er Himmel ist schwarz, schwere Rauch­
wolken verhüllen das Firmament, am
Horizont zeigt sich schon der rötliche
schimmer eines näher kommenden
Brands. »Die Welt steht in Flammen, lauft um euer
Leben«, sagt der alte Wolf zu den jungen Wölflein,
denen er an diesem Abend aus einem Märchenbuch
vorliest. Doch die jungen Wölflein halten auch das
für ein Märchen, und man ahnt, dass sie am Ende
der geschichte verbrennen.
Fire Is Coming heißt dieses stück des kaliforni­
schen Produzenten Flying Lotus. Im dazugehörigen
Video sieht man eine Familie von wolfsartig ver­
kleideten Kindern am Vorabend der Apokalypse; dem
Märchenonkelwolf leiht der große alte Apokalyptiker
David Lynch seine stimme. unter der Erzählung
mulmen murrende Bässe; grob angesägte geigen­
saiten und ein präpariertes Klavier drehen sich in
einem Loop, schließlich übernimmt ein rhythmisches
scheppern die Führung ins Nichts – bis es plötzlich
glitzernden sternenstaub regnet. Im folgenden stück
stiftet ein sphärisches streichorchestergeräusch
schöne Erlösungshoffnung; ein rasender Fusion­
Jazz­Bass schlägt Kapriolen über Breakbeats, und
Außerirdische beschießen sich mit piependen Laser­
waffen, die in den siebzigerjahren des letzten Jahr­
hunderts entworfen wurden.
Feuer ist ein Leitmotiv auf Flamagra, dem neuen
Album von Flying Lotus; auch geht es um die Klän­
ge verblichener Zukunftsvisionen, um Erinnerung
an die Hoffnungen von einst und um den Blick in
die ungewissheit dessen, was kommt. Das Feuer
dient als symbol des untergangs und der gefährdeten
Zivilisation. Es kann aber auch für Reinigung und
Wiedergeburt stehen – wie in dem Lied Land of
Honey, dem die R­’n’­B­sängerin solange Knowles
ihre stimme leiht. Oder für interessanten sex, wie in
dem stück Burning Down the House, in dem der
große Funk­Meister george Clinton als gastsänger
erotisch beschwingt hechelt und gurrt, unterstützt
von einem quiekenden und hustenden Chor gesangs­
begabten gemüses.
Flying Lotus heißt eigentlich steven Ellison
und wurde 1983 in Los Angeles geboren. seine
großtante ist Alice Coltrane gewesen, die Meis­
terin des spirituellen Free Jazz der siebzigerjahre.
Von ihr hat er wohl den Hang zur Improvisation
und zu kosmischen Visionen geerbt. Als Kind
lernte er Jazz­Klavier, später reüssierte Ellison als
Hip­Hop­ und Industrial­techno­DJ; auf seinem
2012 erschienenen Album Until the Quiet Comes
wandte er sich der Kombination von analogen und
elektronischen Instrumenten zu, von samples,
Field­Recordings und gesang.
Dabei inszenierte er sich zunächst noch als
omnipotenter Meister eines digitalen Maximalis­
mus, als Virtuose neuen typs – nämlich im ge­

brauch der neuesten Produktionssoftware wie etwa
von Ableton, die zum endlosen Übereinander­
schichten von Rhythmen und sounds verführt. Auf
Flamagra sind die grimmige Hektik und Düsternis
des digitalen Exzesses einer sonderbaren Mischung
aus Nervosität und Entspanntheit gewichen. Immer
noch hastet Ellison in seinen oft kaum zweiminü­
tigen stücken zwischen den Ideen und Inspira­
tionen hin und her, zwischen den verschiedensten
stilen, Beats und temperaturen. Doch liegt über
allem zugleich die stimmung einer unangestreng­
ten gelassenheit, eines Laufenlassens jenseits der
kompletten künstlerischen Kontrolle: Der gute
geist der Jazz­Improvisation hat die Musik von
Flying Lotus von ihren Verspannungen befreit.
Flamagra ist unter dem Eindruck der kaliforni­
schen Waldbrände in den letzten Jahren entstan­
den; bei dem bislang letzten im November 2018
wurde auch der Ashram in den santa Monica
Mountains zerstört, in dem Alice Coltrane ihre
letzten Lebensjahrzehnte als Heilerin und Musike­
rin verbrachte. Er habe seine Musik in ein Licht
tauchen wollen, in dem die Bedrohung durch die
Flammen und ihre Verheißung gleichermaßen zu
spüren sind, erklärt Ellison. Man könnte auch
sagen: Über seiner Musik liegt nun das Licht der
geschichte, des unaufhörlichen Werdens und Ver­
gehens. Es ist eine Musik, die noch in ihren win­
zigsten Wendungen und Kombinationen jenes be­
wahren will, woraus sie erwuchs, und die zugleich
unbeirrt nach den Klängen des noch nicht gehör­
ten, noch zu Erfindenden sucht. JENS BALZER

Ta n t e M a r t l


selbstlos, aber selbständig: Über ein Frauenleben der Nachkriegsgeneration in der pfälzischen Provinz.
Ein Vorabdruck VON URSULA MÄRZ

I


n ihrer ersten Lebenswoche, genau von
Montag bis Montag, galt meine tante
auf dem Papier als Person, vielmehr als
säugling, männlichen geschlechts. sie­
ben tage lang war ihr Vater nicht bereit,
sich mit der tatsache abzufinden, dass
auch dieses Kind ein Mädchen gewor­
den war. Zu seinem Verdruss das dritte. sieben
tage lang klammerte er sich an die wahnwitzige
Il lu sion, der Natur durch schieres Beharren doch
noch ein Chromosomenwunder abringen zu
können. In den Verwaltungsakten des standes­
amtes gab es den Jungen ja schon, er hieß Martin.
Als sich mein großvater am Montagmorgen
beim standesbeamten einfand und dieser ihn
nach dem geschlecht des neuen Erdenbürgers
fragte, nickte er einfach. Er sprach das Wort
»Junge« nicht aus. Er wartete, bis dem ver­
unsicherten Beamten, der die spitze des Füll­
federhalters bereits aufs Formular gesetzt hatte,
nichts anderes übrig blieb, als die Frage zu kon­
kretisieren, »Isch e Bub?«, und er nur nicken
musste. Im strengen sinn gelogen, so beteuerte er
noch nach Jahrzehnten, hatte er also nicht. Er
hatte es lediglich verpasst, einer Variante der
Wahrheit zu widersprechen, die ihm amtlicher­
seits nahegelegt wurde.
Mir wurde erst sehr spät bewusst, dass meine
tante immer damit rechnen musste, als die Frau
Lehrerin betuschelt zu werden, die vom Vater
zum Bub erzwungen werden sollte; die un­
verheiratete mit der falschen geburtsurkunde.
...

sie war eine materiell unabhängige, interessierte
und gebildete Frau, die leidenschaftlich gern ver­
reiste, mit kribbelnder Vorfreude ihre touren in
Mittelmeerländer, ins gebirge und sogar ans
Nordkap plante. Aber sie verbrachte ihr gesamtes
Leben in ihrem Elternhaus, in dem sie an einem
Junisonntag 1925 geboren worden war. Zwei
schwestern heirateten, bauten ihre eigenen Fa­
mi lien auf, sparten auf ihre eigenen Häuser, die
dritte nicht.
...

Die geschichte meiner tante lässt sich in zwei
Versionen erzählen, die beide, je nach Betrach­
tungsweise, zutreffen. In der einen ist sie die
unsichtbare, von der auf vielen Familienfotos
nur ein Haarbüschel oder ein Arm zu sehen sind,
weil sie sich, kurz bevor der Fotograf auf den
Auslöser drückte, schnell hinter den anderen ver­
steckt hatte; die immer Hintangestellte, die am
Rockzipfel der Eltern hängt, sich selbst gering
schätzt und beim Betreten eines Restaurants au­
tomatisch den tisch in der hintersten Ecke an­

steuert, von dem sie glaubt, er sei nicht für »bes­
sere Leut« reserviert.
In der anderen Version ist meine tante eine
eigenständige, ihren schwestern in vieler Hin­
sicht weit überlegene Frau. sie war die Einzige in
der Familie, die einen Führerschein machte,
schon in den Fünfzigerjahren. Weder meine
Mutter noch Bärbl hatten die geringste Ahnung,
was mit Wörtern wie gangschaltung, getriebe
oder Ölwechsel gemeint ist. Über Autos wussten
sie nur, dass man auf dem Beifahrersitz Platz
nehmen und sich vom Ehemann herumfahren
lassen kann. Weder meine Mutter noch Bärbl be­
traten je ein geldinstitut. sie füllten in ihrem
ganzen Leben keinen Überweisungsschein aus,
vom umgang mit einer ec­Karte ganz zu schwei­
gen. Hätte man ihnen einen Versicherungsantrag
vorgelegt, wären sie über ihr geburtsdatum und
ihre Postadresse nicht hinausgekommen.
All dies erledigte Martl allein. Die Erwachsen­
heit, die heute als Voraussetzung eines emanzipier­
ten Frauenlebens gilt, besaß sie, die be rufstätige
Junggesellin aus einer pfälzischen Kleinstadt,
schon zu einer Zeit, als viele deutsche Hausfrauen
nicht einmal ein eigenes Konto hatten.
Das Verhältnis meiner Mutter zu Politik und
Politikern war sentimental. An Ade nau er miss­
fiel ihr die Fistelstimme, an Brandt die weiche
Kontur der Physiognomie, an Wehner die
schreierei. Helmut schmidt hielt sie für einen
verkappten Diktator. Auf diesen Verdacht brach­
te sie seine hanseatische Zackigkeit. Von der
Liebesromanze zwischen Petra Kelly und gert
Bastian war meine Mutter so beeindruckt, dass
sie zum Entsetzen meines Vaters einmal die grü­
nen wählte. Bärbl ging erst gar nicht zu Wahlen.
Das machte ihr Mann. Martl war die Einzige,
von der ich sagen würde, sie besaß einen poli­
tisch denkenden Kopf. sie wählte christdemo­
kratisch aus Überzeugung.
...

Wenn es um Literatur ging, war tante Martl kein
bisschen prüde. An den skandalösen Passagen der
Blechtrommel von günter grass hatte sie nichts
auszusetzen: »Wem des net gefällt, muss die Fin­
ger weglasse von alle geschichte aus dem alte
Rom.« Meine Mutter sah der Fernsehübertragung
des Ingeborg­Bachmann­Literaturwettbewer bes,
in dessen Jury ich 2003 berufen worden war, mit
widersprüchlichen Empfindungen entgegen, de­
ren Aufbauschung mich noch nervöser machte,
als ich ohnehin schon war. Mal war sie erfüllt von
stolz, eine tochter zu haben, die vermutlich als
Nächstes nach Hollywood eingeladen würde.
Mal quälte sie sich mit Horrorszenen, wie ich
mich im Fernsehen polternd aufführte und die

Familie blamierte. »Mach uns bitte keine schan­
de«, trug sie mir in seltsam offiziellem ton auf.
Zu einer sachlichen Betrachtung meiner berufli­
chen Angelegenheiten war allein Martl fähig.
»Behalt die Nerve«, sagte sie, »und lass disch von
nix und niemand be irre. Das ist zu schaffe.«
Bevor ich zwei schriftsteller als Kandidaten
vorschlug, schickte ich tante Martl deren texte.
Ich wollte wissen, was sie davon hielt. Eine Wo­
che später holte ich aus meinem Briefkasten
einen umschlag, in dem sich die Erzählungen
befanden, beide akribisch durchkorrigiert. tante
Martl hatte mit Bleistift fehlende Kommata ein­
gefügt, falsche Konjunktive mit einem Frage­
zeichen versehen und an den Rand Bemerkungen
wie »besser wörtlich zitieren« oder »zu abstrakt«
geschrieben. sie besaß genügend selbstbewusst­
sein, ihr sprachgefühl mit dem professioneller
Verlagslektoren zu messen. sich gegen den Wil­
len ihrer schwestern einen Hund ins Haus zu
holen, das wagte Martl nicht.
In der Mittagspause des ersten Wett be werbs­
tages lag ich zitternd auf meinem Hotelbett, in
einem grad erschöpft, wie ich es niemals erwar­
tet hätte. Wenn es so weiterginge, rechnete ich
mir aus, würde ich am nächsten und erst recht
am übernächsten tag als psychiatriereifes Wrack
in der Jury des Ingeborg­Bachmann­Preises ho­
cken, eine Blamage für die Familie, wenn auch in
anderer Weise als von meiner Mutter vorhergese­
hen. Da klingelte neben dem Bett das telefon.
»ursi, du machst die sach gut. Das ist anstren­
gend, isch sehs dir an. Aber du hast vernünftisch
Argumente. so, das wars.«
Am nächsten tag war der von mir vorgeschla­
gene schriftsteller Feridun Zaimoglu mit seiner
Lesung an der Reihe, dessen text meine tante ja
kannte, jedoch nicht seine Erscheinung. Er trug
einen dünnen Oberlippenbart und breite Kote­
letten, mehrere dicke silberketten um den Hals
und an den Fingern voluminöse silberringe, zwei
davon mit totenköpfen. In der Mittagspause
klingelte wieder das telefon. »ursi!«, rief tante
Martl. »Dei Räuberheld war dran. Isch hab die
Auche zugemacht und bloß zugehört. Isch wett
mit dir, der kriescht de erste oder zweite Preis.«
Er bekam den zweiten.
...

Hätte es sie, die doch so gern verreiste, nicht gelockt,
für eine Weile ins Ausland zu gehen? »Ach du lieber
Himmel!«, fuhr sie empört auf, als ich das thema
einmal zaghaft anschnitt. »Was hätt isch denn da
gesollt?« Es klang, als wolle ich sie zur Rede stellen,
weil sie es verabsäumt hatte, ihre geliebte Pfalz gegen
sibirien einzutauschen, wo Menschen wie sie mei­
ner Ansicht nach hingehörten.

Wie ich nun erfuhr, hatte tante Martl nach
dem tod ihrer Eltern 1975 jedoch tatsächlich
erwogen, sich als Lehrerin an einer schule in
der schweiz oder in Österreich zu bewerben.
Es war bei der Idee geblieben. sie ahnte, dass
sie der schuld, die sie in den Augen ihrer
schwestern auf sich geladen hätte, indem sie
das Elternhaus im stich ließ, nicht gewachsen
gewesen wäre. Das gewicht des schuldgefühls,
das sie seit je in sich trug, wog so schwer, dass
jedes weitere gramm sie in die Knie gezwun­
gen hätte.
...

In ihrem testament vermachte mir tante Martl
ihren gesamten schmuck, unter anderem ein
Armband in einer Art Zopfmuster. Erst ein Jahr
nach ihrem tod ging ich zu einem Juwelier, um
es von einem Profi begutachten zu lassen. Ich
holte es aus meiner Handtasche und legte es auf
den Verkaufstresen. »Ohhh«, sagte der Juwelier,
nachdem er einen Blick darauf geworfen hatte.
Er steckte sich eine kleine Lupe vor sein rechtes
Auge, nahm das Armband in die Hand, drehte es
hin und her. »Ein wunderschönes stück. Auch
der Verschluss, so wird heute kaum mehr ge­
arbeitet. Wo haben sie das denn her?« Ich hätte
es, erklärte ich, von meiner tante geerbt. Er
schaute über mich hinweg, als sähe er hinter mir
die Frau, deren distinguiertem geschmack die
Wahl des Armbands zu verdanken war.
Für einen kurzen Moment schlüpfte meine Fan­
tasie in das Bild, das er sich von der früheren Be­
sitzerin des Armbands zu machen schien. Zweifellos
hätte es ihn erstaunt, zu erfahren, genau diese Dame
habe in gastwirtschaften den ungünstigsten Platz
aufgesucht. Wie unter einem sekundenschnellen
Blitzlicht erkannte ich den Entwurf einer Person,
strahlender, raumgreifender, gelöster als meine
tante, die sich in ihr verborgen gehalten hatte, so
wie sie ihr schönstes schmuckstück in einem Bank­
schließfach versteckte.
Wann hatte sie es überhaupt je getragen? Für
welchen Anlass könnte sie zur stadtsparkasse ge­
gangen sein, sich mit einem ge heim code Zu­
gang zum tresorraum verschafft haben, um das
Armband aus ihrem schließfach zu nehmen und
ein paar tage später wieder zurückzubringen?
Mir fällt kein solcher außerordentlicher Anlass
ein. Auf Reisen nahm meine tante das Armband
sicherlich nicht mit.
Hatte sie es im schließfach mit der Aussicht
darauf verwahrt, dass ich sie eines tages so sähe,
wie dieser Juwelier sie sah?

ursula März’ Roman »tante Martl« erscheint
am 5. August im Piper Verlag

»Flamagra« ist das bisher siebte Album des
US-Amerikaners Flying Lotus

Die Autorin und
ihre Patentante
im Jahr 1966
in festlicher
Kleidung bei der
Kommunion

Fotos (Ausschnitte, v.l.): Renata Raksha; privat

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