Die Zeit - 01.08.2019

(Kiana) #1

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ZEIT GESCHICHTE beschreibt den Aufstieg des deutschen


Kolonialimperiums, das um 1900 das drittgrößte der Welt war,


und seine Folgen. Denn das Erbe des Kolonialismus lastet noch


immer auf den ehemaligen Kolonien – und es beschäftigt uns


bis heute.


DER KOLONIALISMUS UND SEINE NACHWIRKUNGEN


DIE DEUTSCHEN


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  1. August 2019 DIE ZEIT No 32


Wie schwierig die Aufgabe für die neue Europa-
Chefin ist, zeigte sich in den letzten Wochen
drastisch an einem Vorfall in Venedig. Das
Folgende geschah: ganz unten beim Canal
grande bohrt sich noch eine schiffsnase un-
schön in die Fassade von santa Maria della
salute, die Passagiere in ihren Boxen horchen
auf, was der Lärm bedeutet, während der Ka-
pitän bereits auf dem Weg zu seinem Mailän-
der Anwalt ist, da lassen sich ein paar Hundert
Meter weiter oberhalb zwei nichts ahnende
Berliner trekkis auf den stufen der Rialto-
brücke nieder. Auf einem kleinen gaskocher
brühten sie sich einen Kaffee. Es geschieht al-
les still, friedlich und greift kaum in die sub-
stanz des Monumentes ein, es ist nur die
harmlose Ma ni fes ta tion einer ausländischen
soziokultur. Was da aber auf einmal los war!
950 Euro Bußgeld sind plötzlich fällig, 475
pro tasse – das ist teurer als auf dem Markus-
platz. Als es das alte Kranzler noch gab, konn-
te man sogar auf dem Kurfürstendamm seinen
Kaffee trinken. Aber auf dem Lido an den
strand gehen? Alles xenophobe Bezahlzone
dort. Wir müssen über die salvinisierung der
serenissima sprechen. Auf Veroneses Gastmahl
im Hause des Levi – dies nur als Beispiel – sah
das noch anders aus: Wein und frohes ge-
johle, fremde gesichter und deutsche Lands-
knechte überall.
Hinterher schimpfte der Bürgermeister von
Venedig die beiden Kaffeekocher aus und
schickte sie nach Hause. Dort toben italienische
Halbwüchsige in illegalen Airbnb-Wohnungen
herum und treiben die Berliner Mieten hoch.
gondolieri kriegen in Friedrichshain kein Weg-
bier mehr, das wäre ja noch schöner. Wir wollen
aber bei der Wahrheit bleiben: Früher war es um
die urban outdoor -Kultur auch in Berlin besser
bestellt. Im Park einen Hammel grillen oder auf
dem Balkon spontan ein spanferkel (»spontan-
ferkel«) rösten, das kommt inzwischen nicht mehr
gut, nicht mal unter Rot-Rot-grün. Der Neolibe-
ralismus hat in der deutschen Hauptstadt die
öffentlichen Räume besetzt, wie überall in Eu-
ropa. tass Kaff unter blauem Himmel – eine
soziale utopie. Auf Manets Frühstück im Freien
sitzen alle entspannt draußen rum und knabbern
sich eins. sogar eine nackte Frau ist dabei, und
wir hoffen, dass sie sich nicht für einen gieri-
gen gartenbesitzer hat ausziehen müssen, der
sonnen schirme vermietet. Frau von der Leyen,
ist das die Finalitätsvision von Europa, nur noch
ein Früstück im Freien? Was vom europäischen
gedanken übrig blieb: Platz für einfache Leute
und ein spanferkelchen mit Espresso. FINIS

N


eo Rauch, so viel steht fest, ist die
sache ziemlich unangenehm. Als
sein Bild, Der Anbräuner, am vori-
gen sonnabend von zwei Frauen auf
gefährlich hohen Absätzen und un-
ter wackeligster Anstrengung in den Ballsaal eines
Leipziger Nobelhotels gewuchtet wird, hat der
Meistermaler gerade die Flucht ergriffen. Ist hi-
nausgeflitzt aus dem Raum, in dem seine Kunst zu
geld werden soll, zu möglichst viel geld. Er will
nicht dabei sein bei dem Vorgang, den er selbst
ausgelöst hat. Der Verkauf von Kunst ist immer ein
bisschen obszön für ihren schöpfer. und ist es
selbst dann, wenn es auf einer Charity-gala ge-
schieht, auf der Immobilienmillionäre, showgrö-
ßen und Polit-Prominente die Lage der Welt und
des eigenen Portemonnaies erörtern und dann ne-
benbei kurz die Hand heben beim Wettbieten um
den neuesten Rauch.
Der Anbräuner: Über kein anderes gemälde ist
zuletzt so viel gesprochen worden wie über dieses.
Erstmals gezeigt wurde es hier, in der ZEIT, weil es
sich beim Anbräuner um die Reaktion auf einen
ZEIT- text handelt: Von einem Essay des Kunsthis-
torikers Wolfgang ullrich (ZEIT Nr. 27/19) sah sich
Rauch zu unrecht in die rechte Ecke gestellt, weshalb
er mit einer Art Karikatur reagierte, die ullrich auf
einem Nachttopf zeigt, mit den eigenen Exkremen-
ten braune symbole auf eine Leinwand schmierend.
Jetzt steht Christian Lindner, der Bundesvor-
sitzende der FDP, vor 400 Ehrengästen und ruft:


Unter Verkaufskünstlern


Wie Neo Rauchs gemälde »Der Anbräuner« einen neuen Besitzer fand – und nun dem Menschenverstand dienen soll VON MARTIN MACHOWECZ


»Der Anbräuner«
wird zu Markte
getragen. Im
Hintergrund einer
der Auktionatoren,
Florian Silbereisen

Dieses Bild werde einst in schulbüchern abgebil-
det sein! Es handle sich um Zeitgeschichte, denn
Der Anbräuner sei eine Analogie auf die Debat-
tenkultur der 2010er und 2020er Jahre! Da kön-
ne man doch noch 10.000 Euro mehr geben!
Lindner ist an diesem Abend als Auktionator im
Einsatz, er teilt sich dieses Ehrenamt bei den gRK
golf Charity Masters mit dem Moderator Florian
silbereisen und Leipzigs sPD-Oberbürgermeister
Burkhard Jung. tagsüber wurde gegolft, abends wird
diniert und gespendet. Lindner, silbereisen und Jung
sind dafür zuständig, die gebote hochzutreiben, was
sie gerne tun, weil jeder Cent guten Zwecken zu-
fließen soll, unter anderem einem Kinderhospiz. seit
Langem stiftet Rauch jährlich eines seiner gemälde
für die gala. Vor dem Anbräuner haben Lindner,
silbereisen und Jung an diesem Abend schon einen
Mercedes-Benz gLC 250 4MAtIC versteigert
(50.000 Euro), eine Patek Philippe Herrenuhr
(94.000 Euro) und einen Werbeplatz auf den
t-shirts von Cathy Hummels und Franca Lehfeldt.
Die eine ist die Frau von Mats Hummels, die andere
die Freundin von Christian Lindner, weshalb der bei
diesem Programmpunkt kurz aussetzte. Die t-shirts
sollen von beiden Frauen beim New-York-Marathon
getragen werden (das brachte 100.000 Euro).
Das sind natürlich keine summen, für die man
einen Neo Rauch bekommt, Öl auf Leinwand, 150
mal 120 Zentimeter! Aktuelles gebot: 420.000
Euro. Da gehe doch noch was, finden Lindner und
silbereisen und Oberbürgermeister Jung. 430.000

Euro, 440.000 Euro, vielleicht da am tisch, an dem
Eisprinzessin Katarina Witt und sachsens Minister-
präsidentenpaar sitzen? Oder daneben, bei simone
thomalla und Ralf Rangnick? Nein, nein, die Hän-
de gehen anderswo hoch, man sieht es gar nicht so
genau im Halbschatten des Ballraums, 480.000
Euro, 500.000 Euro, 530.000 Euro. und dann
bietet einer 550.000 Euro, zum Ersten, zum Zwei-
ten, und so sehr Christian Lindner sich bemüht, das
bleibt das letzte gebot, zum Dritten.
Jedoch bleibt es nicht die letzte Wendung die-
ses Abends: Jetzt kommt der Auftritt von Chris-
toph gröner.
gröner, 51, ist gründer und Chef einer deutsch-
landweit operierenden Immobilienfirma, die seine
Initialen trägt, der Cg-gruppe, zudem ist er seit
dieser sekunde Höchstbietender der Neo-Rauch-
Auktion, ein sehr adretter Mann mit nach hinten
gegeltem Haar, er schnappt sich sogleich das Mikro-
fon und sagt: 550.000 Euro, das sei zu wenig für
dieses Bild! Er habe ein Budget von 750.000 Euro
eingeplant. und deshalb lege er jetzt noch 200.000
Euro drauf. Applaus, Verwunderung, getuschel.
gröner erzählt nun, was er plane mit dem ge-
mälde, es werde öffentlich zugänglich sein, er grün-
de gerade einen Verein, zu dem der Anbräuner her-
vorragend passe: den Verein für den gesunden
Menschenverstand. In dessen Zentrale werde Der
Anbräuner das Foyer schmücken. Noch etwas laute-
res getuschel. Neo Rauch betritt wieder den Ball-
raum, aber kaum jemand bemerkt ihn, die meisten

rätseln wohl, was es mit diesem Verein auf sich habe.
Nein, auch Neo Rauch hat, erkennbar, noch nichts
davon gehört. geht dem Oberbürgermeister ähnlich.
Ja, was hat es damit auf sich?
Ein Anruf bei Christoph gröner am übernächs-
ten tag: »Verein für den gesunden Menschenver-
stand?« Ja, genau, sagt gröner, wobei man das Wort
»gesund« streichen müsse, weil er festgestellt habe,
dass es bereits eine Partei gleichen Namens gebe.
Was plant er mit dem Verein? »Es sind zu viele
falsche Fakten im umlauf, zu viele Einschätzun-
gen, die auf manipulierten Informationen und
unwahrheiten basieren. Wir gründen eine seite im
Internet, die nichts anderes liefert als Daten. Auf
der die Leute Aufklärung finden, wenn sie sie su-
chen.« Zum Beispiel zu welchen themen? CO₂,
sagt göpel, tempolimit, Integration, das seien nur
einige Beispiele – eben das, worüber so diskutiert
werde und wo es manches richtigzustellen gebe. Er
baue eine richtige Redaktion auf, Datenjournalis-
mus, in Berlin werde die sitzen, im september gehe
alles los, und demnächst verrate er die Adresse, da-
mit man sich den Anbräuner anschauen könne.
Viele honorige Leute unterstützten ihn, Wissen-
schaftler, Manager, unternehmer.
2,2 Millionen Euro hat die Charity-gala am
Ende eingebracht, und am Lächeln der Frau vom
Kinderhospiz ist zu erkennen, dass all der Rum-
mel sein gutes hatte, wie auch immer er ausgeht.

http://www.zeit.de/audio

Letzte


Das


Da die tage dieser Kolumne gezählt sind – wie
überhaupt jeder Erscheinungsform irdischen
Lebens –, ist es wahrscheinlich nur würdig und
gerecht, auch einmal der zahlreichen Proteste
aufgebrachter Leser zu gedenken, die sich mit
dem genre der heiteren (oder traurigen) Be-
trachtung nicht anfreunden konnten. Was hat es
überhaupt mit dieser gattung auf sich, die seit
der Antike die sumpfigen Randgebiete der Lite-
ratur besetzt? Die sogenannte heitere (oder trau-
rige) Betrachtung ist eine Art Essay in Pillen-
form, aber nicht nur kürzer, sondern auch noch
mal ein gutes stück verantwortungsloser, was
einiges heißen will angesichts der notorischen
Verantwortungslosigkeit großer Essayisten von
seneca bis Jorge Luis Borges.
Andererseits ist das spöttische oder depressi-
ve Laufenlassen der gedanken im Angesicht
der schöpfung vielleicht so illegitim nicht.
goethes Einsicht, wonach alles Irdische nur ein

gleichnis sei, mag vielleicht den einen oder an-
deren, dem es gerade nicht so gut geht, verbit-
tern, weil die these darauf hinauslaufen könn-
te, auch dem gerade empfundenen Leiden eine
gewisse allegorische schönheit zuzuweisen: Dir
geht es schlecht, aber auf philosophisch höchst
sprechende Weise! Man nennt so etwas, meist
missbilligend, Ästhetisierung. Aber tatsächlich
kann der Mensch gar nicht anders, als das, was
er sieht und erlebt, zu deuten und mit sinn an-
zureichern. Die Maus, die mit rastlosem Eifer
ein Loch gräbt, in dem sie wenig später stirbt
(ein Bagger fährt darüber), erinnert uns zwangs-
läufig an unsere eigene sterblichkeit und unse-
ren eigenen verblendeten Eifer.
und so stecken eben in der tierwelt
(manchmal auch Pflanzenwelt) tausend ge-
schichten über uns, vom räuberischen umgang
mit Ressourcen, vom gedeihen auf Kosten an-
derer, von gnadenloser Konkurrenz, manchmal

aber auch, was unseren Eintritt in das tierleben
anlangt, von scheiternder Kommunikation, von
treulosigkeit und Verrat. und nichts ist ergrei-
fender, als wenn die scheiternde Kontaktauf-
nahme vom tier selbst ausgeht, das an unserer
Begriffsstutzigkeit und evolutionären Ferne ver-
zweifelt. Deshalb hat sich in mein gewissen je-
nes hier schon geschilderte Nashorn unvergess-
lich eingebrannt, das im Frankfurter Zoo, er-
bärmlich eingepfercht, so etwas wie eine Bezie-
hung zu mir, dem zerstreuten Besucher, aufzu-
bauen versuchte, in der Hoffnung auf: ja,
was? – Befreiung? Oder nur auf etwas Abwechs-
lung, Zuwendung, das bloße gesehen- und Als-
Wesen-anerkannt-Werden?
Ich weiß es nicht, und Wissenschaftler wer-
den es ohnehin als romantische Projektion ver-
höhnen. sicher ist nur, dass mir das Nashorn
ein Zeichen gab und ich ihm – nichts gab. Zwi-
schen Mensch und tier besteht ein unaufheb-

bares und unauslotbares schuldverhältnis, das sich
durch den oberflächlichen tierschutzgedanken
weder ausdrücken noch kompensieren lässt. Die
tierferne des Menschentieres – seine Verbannung
aus dem In ein an der der schöpfung, dem Paradies –
ist selbst schon das Problem, das sich als teil der
Erbsünde interpretieren lässt.
Etwas von der gewissenslast habe ich in dieser
Kolumne hier ein paar Jahre lang zu exportieren ver-
sucht, vermutlich ungefähr so wie der Romancier
Joseph Conrad, der einmal, als er von studenten
gefragt wurde, warum er schreibe, antwortete: um
die Empfindung einer Depression zu vermitteln.

Die Tierferne des


Menschentieres


VON JENS JESSEN

JESSENS TIERLEBEN

Hier lesen sie im Wechsel die Kolumnen »Berliner
Canapés« von Ingeborg Harms, »Jessens tierleben« von
Jens Jessen, »Männer!« von susanne Mayer sowie
»Auf ein Frühstücksei mit ...« von Moritz von uslar

http://www.zeit.de/audio

42 FEUILLETON


Foto: Lutz Zimmermann; Illustration: Jindrich Novotny/2 Agenten für DZ
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