Die Zeit - 01.08.2019

(Kiana) #1

  1. August 2019 DIE ZEIT No 32


KINDER 43



  • & JUGENDBUCH


Sachbuchspiel: Keine Buchseiten, son-
dern Bildkarten. Auf der Vorderseite je
eine Kinderalltagssituation, wie Papa hält
brüllendes Kind unter die Dusche und
sagt: »Hör auf zu strampeln, dann sind wir
früher fertig!« Auf der Rückseite Fragen
wie: »Ist es grausam, jemanden zu etwas zu
zwingen?« Denkstoff nicht nur für Kleine.

Ellen Duthie/Daniela Martagón:
grausame Welt. Moritz Verlag 2019

Grapic Novel: Nachdem er vor zwei
Jahren schon ein altes Volksmärchen mit
troll modern adaptiert hat (Monats-
LuCHs Nr. 366), schickt der norwegische
Illustrationskünstler Øyvind torseter nun
einen glücklosen Hans zur Irrfahrt aufs
Meer. Ein kluger und meisterhaft
gezeichneter Comic für Leser ab 12 Jahren.

Øyvind torseter: Hans sticht in see.
gerstenberg Verlag 2019

Kinderbuch: Boaz mag Indianer und die
stille. still sitzen und mit anderen
Kindern spielen kann er aber nicht so
gut. Bis Aisha neu in die Klasse kommt.
Für Boaz ist klar: Das Flüchtlingsmädchen
ist eine Indianerin. Eine leise und zarte
geschichte über eine besondere Freund-
schaft und den Mut zum Anderssein.

Erna sassen: Ein Indianer wie du und ich.
Verlag Freies geistesleben 2019

DIE LUCHS-JURY EMPFIEHLT


Wer wird’s überleben?


schonungslos, humorvoll und rotzig: Der britische Autor Alex Wheatle erzählt in gleich drei Romanen von
starken Jugendlichen im sozialen ghetto – und auch aus seinem eigenen Leben VON BENNO HENNIG VON LANGE

W


ut, Ohnmacht, Verzweif-
lung: All das steckt schon
im ersten satz von We r
braucht ein Herz, wenn es
gebrochen werden kann,

mit dem die 15-jährige
Maureen Baker, genannt
Mo, ihre Mutter aus der Lethargie zu reißen ver-
sucht: »WIEsO HAst Du ihm erlaubt, dass er sich
mein Essengeld nimmt?« Mo fragt ihre Mutter nicht
in ruhigem ton nach den fünf Pfund, die sie für die
schulkantine braucht. sie brüllt,
flucht, tritt und tobt – und setzt
damit den ton der Erzählung. Es
wird viel gebrüllt in dieser Fami-
lie, in dieser sozialwohnung, im
gesamten Viertel, das Crongton
heißt und von Politikern und
soziologen »sozialer Brenn-
punkt« genannt würde. »Ich
hasste es, hier zu wohnen. Hasste
es!«,
wird Mo kurz nach dem
streit mit ihrer Mutter sagen.
Mo kann ordentlich austeilen,
muss aber auch eine Menge aus-
halten und einstecken. Auf der
straße bekriegen sich rivalisieren-
de gangs, und nicht einmal zu
Hause ist sie sicher. Denn dort
hockt der neue Freund der Mut-
ter, »Knast arsch« Lloyd, der sich
nicht nur das wenige geld
nimmt, sondern Mo bereits so
heftig geschlagen hat, dass sie aus
dem Bett gefallen ist. und die
Mutter stellt sich trotzdem nicht
schützend vor ihr Kind.
Mos Mum, das versteht der
Leser schnell, hat auch traumati-
sche Dinge erlebt – und macht
nun selbst so ziemlich alles falsch.
Das wäre in seiner tragik kaum auszuhalten, würde
Autor Alex Wheatle seine Mo nicht mit einem
unbändigen Zorn und großer stärke ausstatten.
Wenn die Mutter schon nicht für sie einsteht, muss
sich die 15-Jährige eben selbst mit Lloyd anlegen.
Auch nachdem sie erfährt, dass er eng mit dem
gangsterboss von North Crongton verbunden ist,


hat sie keine Angst vor Lloyd. Mo verlässt die Mut-
ter, schlüpft bei ihrer Freundin Elaine unter und
zeigt Lloyd bei der Polizei an.
Wer braucht ein Herz, wenn es gebrochen werden
kann ist nach Liccle Bit – Der Kleine aus Crongton
und Die Ritter von Crongton das dritte Buch, das der
britische Autor Alex Wheatle in diesem fiktiven
stadtteil spielen lässt. Mos geschichte ist im Früh-
jahr 2019 als letzte erschienen, spielt aber zeitlich
vor den beiden anderen Bänden. Jeder ist erzähle-
risch geschlossen: In Liccle Bit steht der 14-jährige
Lemar, der kleine Bruder von
Mos bes ter Freundin Elaine, im
Fokus. Eigentlich will er nur das
»heißeste Mädchen der schule«
für sich gewinnen, hält aber
plötzlich eine Pistole in der
Hand und steckt inmitten bru-
taler gangkämpfe. In Die Ritter
von Crongton geht es um Lemars
besten Freund McKay, der sich
nach dem tod der Mutter zwi-
schen gerichtsvollziehern, sei-
nem überarbeiteten Vater und
seinem starrköpfigen großen
Bruder behaupten muss – dabei
kocht er eigentlich am liebsten.
Wie mit einem scheinwer-
fer holt der Autor mal die eine
Figur seines komplexen und
großen Figuren-Ensembles ins
Licht, während andere in den
schatten rücken. Das hält die
drei Bücher zusammen, eben-
so wie der erdachte schau-
platz: Crongton, ein stadtteil,
in dem viele Einwandererfami-
lien in ziemlicher Armut le-
ben, das Problemviertel einer
größeren, namenlosen stadt.
Wer es sich etwas konkreter
vorstellen möchte, kann sich an London halten,
wo auch Alex Wheatle lebt.
Aufgewachsen ist der Autor mit jamaikanischen
Wurzeln in einem Kinderheim im ländlichen süden
Londons, später auf den straßen von Brixton. Dort
geriet er an Kriminelle, die sich um ihn kümmerten
und für die er arbeitete. Bei den sogenannten Brixton

Riots 1981 – Wheatle spricht lieber von »Brixton
uprising« – wurde er verhaftet und später verurteilt.
Im gefängnis begann er zu lesen und zu lernen.
Heute, mit Mitte 50, sagt er, das habe ihn gerettet.
Nach dem gefängnis begann er zu schreiben –
zunächst für Erwachsene, dann mit der Crongton-
Reihe, deren erster Band 2015 in großbritannien
erschien, über und für genau solche Kids, wie er
selbst eins war. Während einer Lesereise durch
deutsche Literaturhäuser im April sagte Wheatle,
er wolle den Blick auf jene lenken, die oft nicht
sichtbar sind: junge Menschen, die sich durch-
kämpfen und trotz aller Widrigkeiten ihren Weg
gehen. und so steckt in Mo, McKay und Lemar
immer auch seine eigene geschichte – der kleine
Lemar, sagt der Autor, ähnele ihm am meisten.
Lesend begleitet man diese jungen Helden nur
wenige tage in und durch Crongton und seine an-
grenzenden Viertel – auf Kreuzzügen, in ausweg-
los erscheinenden Konflikten und tieftraurigen
Momenten. Es sind vielschichtige Leben und Fi-
guren voller Ambivalenzen; eine fordernde Lektü-
re, bei der man sich vorm Mitfühlen kaum schüt-
zen kann. Zu wahrhaftig, bissig und rotzig – dank
Conny Löschs grandioser Übersetzung! – treten
einem die Figuren entgegen. Wheatle hat sie mit
so viel Liebe, Humor und sorgfalt gezeichnet, dass
man trotz aller gewalt am liebsten selbst einen tag
durch Crongton stiefeln würde, um nicht nur Mo,
Lemar und McKay kennenzulernen, sondern auch
all die spleenigen Freundinnen und Freunde wie
Venetia, Boy aus den Bergen oder Elaine, ja sogar
die überforderten, warmherzigen und schrägen
Mums und Dads und grannys.
sie alle bilden ein starkes, vertrauensvolles Netz,
ohne das auf den straßen von Crongton niemand
lange überleben würde. sie geben ein an der Kraft,
Zuversicht und – Liebe! unter den teenagern wird
geschwärmt, geschmachtet, geknutscht und vor al-
lem ausgelotet, wie unterschiedlich sein kann, was
wer unter Liebe versteht. Wunderbar etwa die szene,
in der Mo, die in sam verliebt ist, einer Freundin
Beziehungsratschläge gibt: »›Lern ihn kennen‹,
schlug ich vor. ›Find raus, wie er drauf ist. Hilf ihm,
seine träume zu verwirklichen. Halt zu ihm, wenn’s
ihm dreckig geht. seid für ein an der da.‹ Während
sams gesicht vor meinem geistigen Auge erschien,
starrten Elaine und Naomi mich an, als hätte ich

mongolische Lyrik zitiert. ›Ich denke nicht, dass sie
Priesterin werden möchte‹, sagte Elaine.«
Während Mos Mutter immer mit den falschen
typen ins Bett steigt, nähert sich die tochter ganz
zärtlich und behutsam sam an, dem Nachbars-
jungen, den sie von klein auf kennt. Doch dann
geschieht das Furchtbare: um Mo zu beschützen,
geht sam auf den Freund der Mutter los. Der ver-
letzt den Jungen so schwer, dass er wochenlang ins
Koma fällt. Zum ersten Mal spürt Mo in sich selbst
den Wunsch nach blutiger Rache, diesem »gang-
gesetz«, das für so viele Überfälle, schlägereien und
Morde in ihrem Viertel verantwortlich ist. Über
Freunde kommt Mo in Kontakt zu jungen gangs-
tern. Die sind cool und kumpelhaft – und in ihrer
tiefen trauer und Verletztheit gerät Mo hinein in
diesen endlosen strudel von gewalt.
Alex Wheatle erzählt konsequent davon: Er
schönt nichts, schont seine Figuren nicht und zeigt
genau dadurch, was aus gewalt erwächst und auch,
wer die Verantwortung dafür trägt. Es sind eben
nicht bloß die harten Kids, die mit Messern fuch-
teln oder im Vorbeifahren aus dem Autofenster
einen Rivalen abknallen. sie alle sind zugleich
Kinder einer gesellschaft, die sie im stich gelassen
hat: Wenn man als Jugendlicher ganz auf sich allein
gestellt ist oder seinen Eltern nicht vertraut, wird
man verletz- und manipulierbar – das weiß Alex
Wheatle aus eigener Erfahrung.
so wie derzeit herausragende us-Jugendbuch-
autoren wie Angie thomas und Jason Reynolds
erzählt auch Wheatle davon, wie gefährlich es nicht
nur für den Einzelnen werden kann, wenn junge
Menschen ihren Weg ohne die Hilfe sorgender Er-
wachsener gehen müssen, sondern welche gesell-
schaftliche sprengkraft darin liegt. Er schenkt weder
Mo noch Lemar, noch McKay ein Happy End, doch
er schaut mit einem warmen und versöhnlichen
Blick auf sie und das Chaos ihrer Leben – etwas, was
man auch all den Jugendlichen in den echten Crong-
tons dieser Welt wünscht.

Alex Wheatle: Wer braucht ein Herz, wenn es
gebrochen werden kann/Die Ritter von Crongton/
Liccle Bit – Der Kleine aus Crongton
Deutsch von Conny Lösch;
Kunstmann 2018/19; 280/256/256 s., je 18,– €;
ab 14 Jahren

LUCHS Nº 391

Jeden Monat vergeben die
ZEIt und Radio Bremen
den LuCHs-Preis für
Kinder- und Jugendliteratur.
Aus den zwölf Monats-
preisträgern wird der
Jahres-LuCHs gekürt.
Das gewinnerbuch des
Monats stellt Radio Bremen
in den Programmen
von Bremen Zwei und
in Cosmo vor,
nachzuhören unter
http://www.radiobremen.de/luchs

E


in Fünftel der Zehnjährigen in Deutsch-
land kann nicht so lesen, dass der text
auch verstanden wird. Nun will die stif-
tung Lesen helfen und eine Million Märchen-
bücher zum Vorlesen über die Buchhandels-
ketten Hugendubel und thalia oder als
Download über Amazon kostenlos verteilen.
Ein grund zum Jubeln? Bedeuten eine Mil lion
kostenlose Bücher eine Mil lion Familien, in
denen plötzlich zum ersten Mal vorgelesen wird?
Wohl eher nicht. unterschiedliche studien
haben gezeigt, dass Vorlesen eine wichtige Rolle
spielt auf dem Weg zum Lesenlernen, zum Ver-
ständnis von texten, bei der sprachentwicklung


  • und dass trotzdem in fast jeder dritten Familie
    in Deutschland niemals oder selten vorgelesen
    wird. Aber ist das so, weil es in diesen Familien
    keinen Zugang zu Kinderbüchern gibt, aus fi-
    nanziellen gründen womöglich? Man darf zwei-
    feln. Es gibt schließlich Büchereien, in denen man
    tausende von alters- und interessengerechten
    Büchern ausleihen kann, dazu noch gut beraten
    von engagiertem Bibliothekspersonal.
    Wenn in Familien nicht vorgelesen wird, hat
    das meistens andere gründe: Die Eltern haben
    selbst nie gelesen, fühlen sich beim (Vor-)Lesen
    nicht sicher, sprechen eine andere sprache oder
    finden das Vorlesen unwichtig. Werden diese
    Eltern sich nun im september auf den Weg in die
    nächste thalia- oder Hugendubel-Filiale machen,
    nur weil es dort ein Märchenbuch gratis gibt? Zu-
    mal es in gegenden, in denen die Bevölkerung
    eher bildungsfern ist, ja häufig längst keine Buch-
    handlung mehr gibt. und sollte doch noch eine
    existieren, ist das in der Regel eine kleine inhaber-
    geführte, deren Besitzer tapfer gegen die schlie-
    ßung kämpft – übrigens auch indem er sich seit
    Jahren für die Leseförderung einsetzt, gemeinsam
    mit Kitas, schulen und Büchereien. Ebendiese
    Buchhandlungen sind aber in die Aktion nicht
    einbezogen. (Jedenfalls war es nicht geplant; auf-
    grund massiver Proteste überlegt Amazon nun,
    wie die Märchensammlung auch unabhängigen
    Buchhandlungen zur Verfügung gestellt werden
    kann.) Werden sich bildungsferne Eltern also ins
    Auto setzen oder ein ticket für den öffentlichen
    Nahverkehr lösen, nur um in einem anderen
    stadtteil ein kostenfreies Märchenbuch abzu-
    holen? Werden sie, die vermutlich keinen E-Reader
    besitzen und niemals ein Buch aufs tab let geladen
    haben, jetzt damit anfangen?
    Aber nehmen wir einmal an, sie täten es: Hät-
    ten sie dann ein optimales Vorlesebuch in der
    Hand? Der bestechende Vorteil einer solchen
    sammlung für diejenigen,
    die sie verschenken wol-
    len: Märchen sind rechte-
    frei und ohne Autoren-
    honorar zu haben. Ich
    wünsche mir durchaus für
    alle Kinder, dass sie die
    alten sagen kennenler-
    nen, eben weil sie ein
    wichtiger teil unserer
    Kultur sind. Doch wer
    tausende stunden fernge-
    sehen oder gezockt hat, den locken die Brüder
    grimm nicht so schnell hinter dem Ofen hervor.
    Vermutlich werden diese Bücher also wieder
    nur diejenigen Familien erreichen, die sich ohne-
    hin schon bemühen, ihren Kindern den Weg
    zum Lesen zu ebnen. Das ist nett. Aber müsste es
    nicht eigentlich um die anderen gehen?
    Wer am deutschen Lese-Desaster wirklich
    etwas ändern will, der muss sich zuerst fragen, wo
    die ursachen liegen, der darf nicht darauf warten,
    dass buchferne Familien in Buchhandlungen
    strömen, der muss sich dort um die Kinder küm-
    mern, wo sie ohnehin sind. Es gibt längst im
    ganzen Land diverse klug überlegte Projekte, die
    ebendas tun – und all diesen Projekten fehlt es an
    geld. Wie großartig wäre es gewesen, hätten die
    stiftung Lesen und die Mitstreiter den beträcht-
    lichen Betrag, den diese Mil lion Bücher doch
    sicherlich verschlingen, für derartige Projekte zur
    Verfügung gestellt! Aber den Weltkindertag gibt
    es in jedem Jahr. Hoffen wir auf ein besseres,
    durchdachteres Lese-geschenk 2020.


Die Kinderbuchautorin Kirsten Boie
initiierte im vergangenen Jahr die Online-Petition
»Jedes Kind muss lesen lernen!«

Eine Million


verschenkte Chancen


Zum Weltkindertag will die stiftung
Lesung stapelweise Bücher verteilen.
Falsch gedacht, sagt KIRSTEN BOIE

Wer in Crongton aufwächst, lernt früh, sich zu behaupten

Berichtigung


In der ZEIT -Ausgabe 28 vom 4. Juli
2019 haben wir das Aufmacherfoto
auf der »Kinder- & Jugendbuch«-seite
falsch zugeschrieben. Das Bild mit
dem titel Pool scape #71 aus dem
Jahr 2010 ist von Karine Laval – auch
veröffentlicht im Bildband Pool scapes,
erschienen im steidl Verlag. Wir bitten,
den Fehler zu entschuldigen.

Illustration: Heidi Sorg; Foto:Indra Ohlemutz

Kirsten Boie, 69, ist
seit Jahren aktiv in
der Leseförderung
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