Die Zeit - 01.08.2019

(Kiana) #1

O


ENTDECKEN


»Es muss in diesem Land gesetzlich untersagt


werden, Kopf hörer zu tragen!«


ft heißt es, die digitale Ära würde uns Men-
schen einander entfremden. Doch zumin-
dest eine der jüngeren Innovationen bewirkt
das absolute Gegenteil: Boomboxen. Jene
neumodischen Digital-Lautsprecher, die
man drahtlos mit dem Handy verbinden
und überallhin mitnehmen kann. Oft
schwarze, geriffelte Zylinder, meist kaum
größer als eine Trinkflasche. Aber mit genug
Power, um alle Mitmenschen im Umkreis
von dreißig Metern zu erreichen und durch
die universelle Sprache der Musik in Kontakt
mit ihnen zu treten. So intim und zugleich
lautstark, wie Worte es niemals könnten.
Hand aufs Herz, wir leiden doch alle,
wenn die Stille erdrückend wird. Wenn der
Klangteppich des Alltags unerwartet abreißt
und wir aus dem Rhythmus geraten. Warum
sonst beschallen so viele sich mit Stöpseln in
den Ohren? Aber akustische Abschottung

darf nicht die Lösung sein. Sie macht aus
dem öffentlichen Raum eine Sphäre des
Schweigens. Da wippt dann jeder für sich
allein, vereinsamt in seinem Unvermögen, zu
teilen. Vielleicht wollen es viele von uns noch
nicht wahrhaben, doch wir brauchen ein-
ander heute mehr denn je.
Musik ist kein Privatbesitz, sondern ein
kulturelles Gemeinschaftserlebnis. Richtig
eingesetzt, beflügelt und trägt sie uns – durch
Stadtparks, über Seen und Dönerbuden-
vorplätze. Wildfremde gehen plötzlich auf-
einander zu, dankbar für die Inspiration,
schließen einander in die Arme, singen und
tanzen gemeinsam.
In manchen Regionen Deutschlands
sieht die Realität leider anders aus. Regel-
rechte Stillewüsten überziehen die Repu-
blik! Wie kann es sein, dass in einem so ver-
mögenden Staat immer noch Menschen

ohne eigene Boombox leben müssen? Wer
trägt die Verantwortung dafür, dass einige
Kommunen technologisch dermaßen abge-
hängt wurden? Die geldgierige Industrie?
Die industriegierige Politik? Womöglich so-
gar die digitaldösige Bevölkerung selbst?
Und lässt sich der Stilleschaden überhaupt
noch beheben? Das alles sind unbequeme,
schmerzhafte Fragen, denen wir uns ge-
meinsam stellen müssen.
Ich selbst habe zwar versucht, meinen
Teil beizutragen, und schon 2016 eine Mega
Boom Box erworben. Aber damit möchte
ich mich nicht aus der Verantwortung steh-
len. Schließlich hätte ich zwischenzeitlich
auch schon längst einen zweiten und dritten
Speaker kaufen und an besonders Beat-
bedürftige verschenken können. Wo ein
Wille ist, ist auch Pietro Lombardi in jedem
S-Bahn-Abteil.

Boomboom. Baaaam!

VON DMITRIJ KAPITELMAN

Für seine Serie »Sonic Sculptures« hat der
Fotokünstler Martin Klimas Farbe auf
einen bespannten Keilrahmen aufgetragen,
unter dem ein Lautsprecher mit trichterförmiger
Membran die Töne zum Tanzen bringt

Technischer Fortschritt kann Demokra-
tisierung bedeuten, wenn er seine Errungen-
schaften für alle verfügbar macht. Autos
fuhren früher nur Fürsten, Großindustrielle
und Priester. Den erlauchten MS-DOS-
Computer musste man sich mit der ganzen
Familie teilen, und Handys dienten aus-
schließlich Börsenhändlern im Cabriolet.
Heute beantworten viele von uns Mails per
Handy, am Steuer des Dienstwagens sitzend.
Warum sind die Boomboxen noch nicht
zum Gemeingut geworden? Werden sie vom
Klangkartell künstlich teuer gehalten?
Nehmen wir zur Stichprobe eine deut-
sche Krisenregion, nehmen wir Berlin. Und
setzen ökonomisch unten an, bei eBay
Kleinanzeigen. Für 40 Euro (Verhandlungs-
basis) wäre eine Mega Boom Bluetooth Box
aus Zehlendorf zu haben. Für dasselbe Mo-
dell zahlte ich 2016 knapp das Dreifache. In
Hellersdorf verkauft jemand für 60 Euro
einen frei schwebenden Lautsprecher mit
Multifarben-LED-Licht und rotierenden
Soundeffekten. Für die ganz Klammen gäbe
es das Nötigste für 15 Euro. 15 Euro können
viel sein, das verstehe ich. Aber nicht zu viel
für ein derart elementares Grundbedürfnis
wie das, vom Fahrrad aus »I’m blue, da ba dee
da ba dee« an die Umwelt zu spenden.
Alles in allem lässt sich der Industrie also
nicht die Alleinschuld zuweisen. Was sonst
hindert die Musik, unser ganzes Land zum
Klingen zu bringen?
Nun, vergessen wir nicht, dass technolo-
gischer Wandel nur funktionieren kann,
wenn die Menschen bereit sind, ihn umzu-
setzen. Wenn die Mehrheit die immensen
neuen Möglichkeiten erkennen und aus-
schöpfen will, anstatt verängstigt zu fau-
chen. Bedauerlicherweise ist dieser Paradig-
menwechsel noch längst nicht vollzogen,
auch in meinem eigenen Bekanntenkreis
nicht. Zwei Freunde, die ich eigentlich sehr
schätze, haben kürzlich eine Episode aus-
gepackt, die mich entsetzt zurückließ. Die
beiden sind an einem Sonntagmorgen zu-
sammen zum Bäcker gegangen, um zu früh-
stücken. Da sie vom Vorabend sehr ver-
katert waren, konnte es nur in ihrem Inte-
resse liegen, von möglichst intensiv wahr-
nehmbaren, schwungvollen Klängen revita-
lisiert zu werden. Und ebendas versuchte
der junge Philanthrop unweit von ihnen
mit Techno-Remixen von Xavier Naidoo
und den Böhsen Onkelz. Ein unverhoffter
Glücksfall, sollte man meinen. Nur nicht
für meine Freunde. Sie dankten ihrem
Wohltäter doch tatsächlich mit Beschwer-
den und forderten ihn sogar auf, leiser zu
machen! Er weigerte sich berechtigterweise.
Sehr hässlich, das Ganze. Lieber Stephan,
liebe Margarete, ich mag euch wirklich, aber
wie ignorant kann man bitte sein?
Die Eskalation von Stephan und Marga-
rete (Dieser Weg – boom-boom-boom –
wird kein leichter sein – boom-boom-boom


  • Synthesizer – baaaaaam) ist Ausdruck
    eines tiefer verwurzelten Problems: der
    traditionellen deutschen Lautsprecher-
    Verdrossenheit. Sie lauert schon im Begriff
    Lautsprecher selbst. Lautsprecher, das klingt
    nach drakonischen Durchsagen der Regie-
    rung, nach Spalierstehen und rostigen Roh-
    ren. Boombox dagegen, da schwingen Welt-
    läufigkeit, wuchtige Wunder, Mangos und
    Sex mit.
    Dabei kann und will Deutschland doch
    eigentlich Box. So ergab eine kürzlich ver-


öffentlichte Studie der Postbank, dass jeder
dritte Bundesbürger schon mit virtuellen
Assistenten wie Alexa und Siri spricht (wes-
halb auch immer ausgerechnet die Postbank
sich für dieses Thema interessiert). Jeder
Dritte nutzt also Sprachbefehlssysteme, die
in einem Verdrossenheitslautsprecher ver-
baut sind. Beispiel: »Alexa, verhafte Stephan
und Margarete!«
Vielleicht gefällt es den Deutschen, dass
sie nun einmal der Technik Ansagen ma-
chen können. Anders ist kaum zu erklären,
dass diese Geräte fast so populär sind wie
normale Boomboxen. Wenn man bedenkt,
dass die Großkonzerne, die hinter den As-
sistenten stehen, Unmengen Daten aus den
Gesprächen einheimsen. Und sogar der In-
nenminister sich für juristisch verwendbare
Mitschnitte interessiert. Die schlichte, ehr-
liche Boombox dagegen entwendet nichts,
heckt keinen Algorithmus aus und verstän-
digt auch nicht das LKA, weil jemand Bon
Jovi hört (wahrscheinlich nicht). Sie will
bloß Lebensfreude schenken, wo immer
man sie lässt.
Leider können weder die Kräfte des
Marktes noch die überforderte Zivilgesell-
schaft eine gleichmäßige Beschallung des
Landes gewährleisten. Darum bleibt meines
Erachtens nur eines: der Ruf nach politi-
scher Steuerung. Man traut sich bei der ge-
genwärtig völlig an Verhältnismäßigkeit
mangelnden Diskussionskultur ja kaum
noch, diese Vokabel zu verwenden, aber hier
ist sie wohl unvermeidlich: Verbot! Wenn
Aufklärungskampagnen nicht fruchten,
muss es in diesem Land gesetzlich untersagt
werden, Kopfhörer zu tragen. Egoismus und
Einmauerung sind in unseren Zeiten ebenso
verlockend wie verheerend.
Sollte das den Kauf von Boomboxen nicht
genügend ankurbeln, bleibt ein letztes Mittel:
zwangsweise Zueignung! Boxenpflicht! Stö-
rer, die sich weigern, die zugewiesene Bürger-
box einzusetzen, werden mit zusätzlichen
Strafsubwoofern belegt. Schimpfen Sie mich
ruhig einen Freiheitsdieb, ziehen Sie absurde
historische Ver gleiche. Doch ich stehe fest zu
meiner Überzeugung: Wenn wir wirklich
wollen, kann Deutschland schon 2024 stille-
neutral sein!
Unsere Kinder haben nicht verdient, dass
wir ihnen eine stumme Welt hinterlassen.
Wenn Sie also im öffentlichen Raum regis-
trieren, dass Ihr Nachbar klanglos vergeht,
nehmen Sie doch etwas Rücksicht – und
drehen deutlich lauter. Selbiges gilt, wenn
die Menschen, die Sie umgeben, ebenfalls
eine aktive Bürgerbox besitzen. Signalisieren
Sie Unterstützung, so laut es nur geht, zeigen
Sie Flagge für die gemeinschaftliche Idee!
Ich habe einen Traum: blaues Bächlein,
brave Birke, besinnliches Sonnenunter-
gangslicht. Statt des taktlosen Geilheits-
gepfeifes der Vögel ertönt plötzlich von
rechts Beethoven und von halb rechts Tina
Turner und von viertel rechts Bob Marley
und von links Capital Bra und von doppel
links Scooter und von der Drohne mit ein-
gehängter Boombox am Himmel Metallica.
Ein Klangbild für die Götter. Und das Ende
der Einsamkeit.
Denn wo die Boombox des einen auf die
Boombox des Nächsten trifft und wo diese
Boomboxen sich mit den Reichweiten von
82 Millionen weiteren Boomboxen vereinen


  • dort spüren wir endlich, was es bedeutet,
    ein Mensch unter Menschen zu sein.


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46 1. AUGUST 2019 DIE ZEIT No 32

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