Die Zeit - 01.08.2019

(Kiana) #1
7 Uhr: Niemand rührt das Wasser an. Stunden
bevor die große Hitze kommt, bevor die Men-
schen hier an jedem Ufer einfallen, um ihr Out-
door-Zuhause für den Tag zu schaffen, bevor sie
ihre Strandmuscheln aufbauen, Thermoskannen
auspacken und Butterbrote auswickeln, bevor sie
in ihre Badehosen pinkeln, »Kein Wort über mei-
ne Wampe!« sagen und sich mit Ketchupfingern
Sandkörner aus den Augen reiben, liegt der See da
wie ein andalusisches Dorf in der Vorsaison,
sonnen beschienen und melancholisch. Die Wel-
len schwappen, die Hortensien blühen.
Es ist, als erwarte die Natur, bald berührt, bald
benutzt zu werden. Als hänge sie den vergangenen
Stunden nach.
»Noch keiner da, ne?« Eine Frau führt ihren
Hund aus, »Kalle!«, er knurrt. Sie zieht ihn Am
Windhorn entlang, einem schmalen Weg, der
zwischen dem Goldbergsee und dem Maritimsee
verläuft – insgesamt sind es drei Seen, gelegen in-
mitten der Landschaft, die von den Expressionis-

ten der Gegend sehnsüchtig gemalt wurde, mit
weitem Himmel, Reetdächern und Modersohn-
Becker-Flair. Überhaupt sind die Ohlenstedter
Quellseen echte deutsche Gewässer: In den Fünf-
zigern durch Kies- und Sandabbau entstanden,
von jeher im Besitz der E. Knübel Wochenend-
plätze GmbH in Osterholz-Scharmbeck, Nieder-
sachsen. Und einen FKK-Bereich gibt es auch.
»Kalle, hörst du auf!«

8 Uhr: Noch keiner da. Und das, obwohl Sonntag
ist, obwohl Baden frühmorgens nichts kostet, Seen
und Sozialismus sich jetzt nahekommen könnten,
Umwelt für alle!, Erfrischung fürs Kollektiv. Wild-
gänse ziehen durchs Wasser, ein Karpfen taucht ab
und hinterlässt Kreise an der Oberfläche.
Dann, endlich, schließt einer das Kassenhäus-
chen auf. Mario Jänicke, auf seinem T-Shirt steht
LIVE FAST. Er stellt einen Klappstuhl hinter dem
Häuschen auf, an dem man eine Markise auszie-
hen kann, und packt ein Sil ber etui mit Zigaretten

aus. Rauchend steht er vor der Schranke, durch
die gleich die ersten Badegäste zum Parkplatz fah-
ren – ein Kassenwartsphilosoph im Morgenlicht.
Die Stadt befördere das Leben vor den Laptops,
sagt er. Das Nichtdraußensein. »Und dass man
sich im Treppenaufgang nicht kennt.«
»Moin! Alles fit?« – »Na klar.«
Ein Mann winkt durch sein heruntergelasse-
nes Autofenster.
Eine Frau steigt von ihrem Rad ab, »darf man
jetzt schon zahlen?« – Er öffnet seine alte Regis-
trierkasse. »Sie dürfen, vier Euro bitte.«
Jänicke, die Zigarette in der Hand, sagt, hier
draußen seien Luft und Leben anders. Hier wür-
den sie Sommer- und Strandfeste feiern und sich
im Café Seeblick treffen – oder bei den Nachbarn,
an den Quellseen wird nämlich seit 1968 ge-
campt, seit einigen Jahren sogar gewohnt. »Teil-
weise mit Erstwohnsitz.« Jänicke verbringt seinen
Alltag schon lange in einer der Hütten, umgeben
von Wohnmobilen, Vorzelten, Geranientöpfen

Tiefer blicken muss man gar nicht an den Ohlenstedter Quellseen in Niedersachsen

14 Uhr: Dösen


Die Liebe, das Geld, der Bauch, am See kommt alles zur Sprache – bis man in der Hitze
irgendwann sogar vergessen hat, wo man ist VON ANNABELLE SEUBERT

Fotos: Hannes Jung für DIE ZEIT

Ein Tag im Leben ... eines Sees


48 1. AUGUST 2019 DIE ZEIT No 32

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