Die Zeit - 01.08.2019

(Kiana) #1
und Satellitenschüsseln. »Ich hab hier einge-
heiratet«, sagt er: Sein Mann habe das Grund-
stück bereits vor 30 Jahren gepachtet. Er
selbst sei Bürokaufmann gewesen, irgend-
wann aus Bremen hergezogen, »und glauben
Sie mir, am See hat meine Lebensqualität
stark zugenommen«.

9 Uhr: Mit der Temperatur steigt die Erwar-
tung an den Tag. Zwar sind am West ufer des
größten Quellsees noch die Vorgartentore
und Rollläden geschlossen – zwar kann man
hier noch lernen, aufs Wesentliche zu hören,
Bäumerauschen, Büscherauschen, wie klingt
eigentlich ein See, wenn kein Mensch
planscht und kaum Wind weht?
Am Ostufer aber sind jetzt Walker und
Radfahrer unterwegs, außerdem ein Glücks-
sucher. Er geht mit einem Kopfhörer und
einem am Arm befestigten Metalldetektor den
Wasserrand entlang, der Detektor streift über
den Sand. Irgendwas dabei? Der Mann, mit
Badeschlappen und Shorts, Martin Drejka,
49, schüttelt den Kopf. »Heute leider nicht,
dafür gestern: ein amerikanischer Quarter und
zehn Pfennig.« In den sechs, sieben Jahren,
seit er mit seiner Familie hier einen Camping-
platz hat, seien auf die Weise locker 300 Euro
zusammengekommen. Anderswo, auf Äckern,
habe er schon Mittelaltermünzen entdeckt,
sagt er – und Äxte. »Aber nichts, was für Ar-
chäologen interessant wäre.« Drejka hat einen
für Bodengräber verpflichtenden Lehrgang in
Hannover belegt, in Osterholz-Scharmbeck
das Gebiet angemeldet, in dem er »Gold und
Geld siebt«, und muss nun über jeden bedeu-
tenderen Schatz informieren, den er findet.
»Ich könnte da Geschichten erzählen«,
sagt er. Einmal habe ein Mann seinen Ehering
im See verloren. Der Mann habe den Kassen-
wart informiert, der Kassenwart habe Drejka
informiert, und keine Stunde später habe
Drejka den Ring vom Grund des Sees ge-
fischt. »Die Frau hätte dem die Hölle heiß-
gemacht! Der war frisch verheiratet!«

10 Uhr: »Puh!« – »Ah.«
Allmählich wird geprustet und geächzt, das
Wasser vorsichtig bis zur Hüfte getestet, dann
innegehalten – als könne man es sich jetzt noch
mal anders über legen und rückwärts wieder
raus. Dann folgt der Kick, die Kälte beim ersten
Abtauchen, schließlich der Lohn für die Über-
windung: wenn der See einen wegzustoßen, aber
schnell nachzugeben scheint.
Tropfen werden getrocknet, beim Café See-
blick wird reingeschaut, Small Talk im ver-

waschenen norddeutschen Dialekt geführt.
»Wie haben die Deutschen gestern gespielt?« –
»3 : 0.« – »3 : 0, super, wow, cool. War Viertel-
finale?« – »U21.« – »Bitte noch ein Pils!«

10.30 Uhr: Unterm Beck’s-Sonnenschirm,
da kann man sich gut fragen, ob dies theore-
tisch auch Italien sein könnte, würde eine
andere Sprache gesprochen. Woran es liegt,
dass die Ohlenstedter Quellseen zwar einen
Maritimsee, aber wenig Maritimes haben. Ob
es damit zu tun hat, dass hier graue Cargo-
hosen statt dunkelblauer Leinenhosen getra-
gen werden, oder damit, dass hier niemals je-
mand Kokosnüsse verkaufen und »Coccooo!
Cocco bellooo!« rufen würde.
Ideale Gelegenheit, um sich außerdem zu
fragen, woher überhaupt diese riesige, arro-
gant machende Italienverklärung kommt.
Aber sich bei der steigenden Hitze um
Antworten bemühen?
Lieber sich – 11 Uhr, 12 Uhr, 13 Uhr – in
der Zeit verlieren. In privaten Dingen, die man
sich erzählt, 26, 27, 28 Grad, am See ist man ja
selten allein. Vielleicht ist man mit seinem
Freund da, und der vielleicht hier aufgewachsen,
ein Osterholz-Scharmbecker, der sagt, zurück
auf dem Handtuch, die Augen abgeschirmt:
»Da drüben hat man früher die Fahrräder an die
Birken gelehnt, die sind jetzt weg, wohl gefällt
worden. Man hat gebadet, Pommes gegessen,
rumgehangen und vielleicht noch den kicker
gelesen.« Und weil Seen oft Erinnerungen mit-
schwemmen, redet man als Nächstes vielleicht
über Jugendfreundschaften, die über Strand-
und Disco-Freundschaften nicht hinausgingen.
Die Kleinstadtfreundschaften waren, bis zum
Ende der Schulzeit hielten und mehr zum
Zweck als aus Verständnis für ein an der geführt
wurden. Die einen natürlich trotzdem geprägt
haben, schließlich hat man mit Tim aus der 5 a
Sticker getauscht und mit Julia aus der 9 b das
erste Mal zu viel Bier probiert.
»Hast du zu deinen Schulfreunden noch
Kontakt?« Was sie auf diese Frage später mal
antworten, können viele am Quellsee erst
ahnen – nachmittags, gegen 14 Uhr, wenn es
so heiß ist, dass man auf dem Bauch dösend
vergessen hat, wo man liegt. Wenn die Sonne
dermaßen auf den Nacken prallt, dass dies
womöglich doch Italien sein könnte, man
sich auf den Rücken dreht, um vom Dämmer-
zustand zur Wirklichkeit zurückzufinden.
Und plötzlich ist der See voll. Laut. Trüb.
Die Jungs- und Mädchencliquen sind da.
»Wie kann man nur mit so ’nem Tanga rum-
laufen?«

»Platschek, wir wissen, dass du viel Platz
brauchst.«
»Pommes! Pommes! Pommes!«
»Ich wette, an der Frittenbude gibt es
nichts, was nicht krebserregend ist.«
»Und wo sind hier die Nackten?«
Zwei muskulöse Männer stehen ne ben ein-
an der und spannen ihre Armmuskeln an. Auf
den pinkfarbenen Shorts einer Frau glitzern
vier Versalien, SEXY. Jugendliche haben ein
Volleyballnetz mitgebracht, irgendwo treibt
ein Einhornschlauchboot, Fliegerbrillen wer-
den aufgesetzt, Brüste beim Eincremen fest-
gehalten, links sagt jemand: »Sind einfach
total andere Leute hier, nicht so viele Südlän-
der.« Rechts sieht eine auf ihren Badeanzug

runter und stöhnt. »Echt mal, dieser Bauch.«
Ein Hauch von Berliner Prinzenbad er-
reicht Osterholz-Scharmbeck. 15 Uhr, und
scheint die Sonne oben lang und heftig, wird
es unten auch mal radikal.
»Ey, Bademeister, er hat mich geschlagen!«
»Wir haben die in der Schule immer
›Pferde arsch‹ genannt.«
Man kann jetzt teilhaben am Leben Fremder,
an intimen Körpersorgen bei gleichzeitigem
Bedürfnis, den Körper zu zeigen. »Wenn mein
Bauch flach wäre, würde ich ihn nicht einzie-
hen.« Larissa ist mit ihren Freundinnen Jana und
Angelina da, sie sind Anfang 20 und aus Bre-
merhaven. In Bremerhaven gebe es wenig zu
erleben, sagen sie, und trotzdem seien sie froh,
hier am See ihre Ruhe zu haben, oder? Also: ir-
gendwie. Sie reden über das Gefühl, in ihren
Berufen nicht ernst genommen, oft für Prakti-

kantinnen gehalten zu werden, »wozu macht
man denn eine Ausbildung«, »wozu lernt man
denn Abläufe«. »Wieso können so viele Kunden
eigentlich nicht ›Hallo‹ sagen?«
Dann geht es um die Liebe. Schwierig,
nicht nur in Bremerhaven. Angelina: »Das ist
doch die totale Reizüberflutung mit den gan-
zen Flirt-Apps.« Larissa: »Ein Mann muss nur
einmal durch Insta gram scrollen und kriegt
zehn nackte Frauen angezeigt.« Angelina:
»Männer können heute mit jeder Frau schla-
fen, mit der sie wollen.« Larissa: »Frauen sind
aber auch schlimm geworden.« Angelina:
»Meine Mutter hat mir da andere Werte bei-
gebracht. Ich glaube, es ist ein Phänomen
unserer Zeit, dass sich niemand mehr binden
will.« Larissa: »Ich würde gern aufs Dorf zie-
hen.« Angelina: »Was?« Larissa: »Ja, in Stadt-
nähe. Ich würde auch lieber in der Zeit mei-
ner Oma leben, da war vieles anders.«
Jana, mit halb ernstem Blick: »Also, ich
hab alle Hoffnung aufgegeben.«
Larissa, mit Marlboro Menthol: »Wir sind
voll die Heulsusen.«

16 Uhr: »Attackeeee!«

17 Uhr: Ein kleines Mädchen sagt: »Ich will
nicht schwimmen, da werden meine Haare
nass.«

18 Uhr: Abendbrotzeit im Bremer Umland.
Matte Zeit für alle, vor allem für die Seen. In
ihnen schwimmen Schweißfilme, Sonnen-
milch und Urin, sie wurden mit Poolnudeln
geschlagen, von Ruderbooten und Surfbret-
tern überfahren, mit Bällen und nassem Sand
beworfen, getreten und bespuckt. So ein See
muss abends fertiger sein, als die Jungs es
sind, die jetzt noch am Rand sitzen und sich
vom samstäglichen Feiern erholen. »Als ob
jemand freiwillig eine Wodkaflasche ausgege-
ben hätte«, sagt einer, dann sagt lange keiner
mehr was, aber was gibt es an einem Sonn tag-
abend auch groß zu reden? Bei den Aussich-
ten – jetzt noch heim, schnell was essen, du-
schen, vor die Glotze. Und morgen geht das
Ganze von vorne los.
Diese Enttäuschung, die am Ende eines
See tages liegt.
Als dauere es ewig bis zum nächsten.
Als höre der Sommer jetzt und für immer
auf.
Um 20 Uhr schwimmt das ältere Paar, das
aussieht, wie »glücklich zusammen älter gewor-
den« aus sehen muss. Sie, Karin Ueberschaer,
mit grauen, kurzen Haaren, sagt, dass sie als

Kind bereits hier baden war. Er, Michael Reints,
mit grauen, langen Haaren, sagt, dass sie letztes
Jahr aus Bremen hergezogen sind. Nicht direkt
an eine Badestelle, abseits vom Lärm. Wie viel
Anpassung die Stadt ihnen abverlangt habe,
hätten sie erst allmählich gemerkt, sagen sie – an
den Seen fühlten sie sich freier, auch wenn sie
sich jetzt mit den Nachbarn vertragen müssten.
Aber gut, gehen sie eben manchmal rüber. »Du,
wie sieht’s denn bei dir mit der Heizung aus?«
Um 21 Uhr kann man in Ruhe Kniffel
spielen. Dann ist es fast, als habe es den Tag
nicht gegeben. Die Rasensprenger laufen, die
Mücken fliegen. Ein paar Krähen picken im
Sand nach Pommesresten. Friedhelm Fäsen-
feld, 79 Jahre alt – der vorhin, zur Prime time,
zwischen Menschen, Tüten, Polyesterschir-
men und Einweggabeln die leeren Pfandfla-
schen eingesammelt hat –, steht nun mit einer
Fernsteuerung am Ufer und lässt ein Modell-
segelboot übers Wasser gleiten. Es ist eines von
vielen, die er besitzt, sagt Fäsenfeld. Er habe
auch mal eines für 300 Euro bestellt und des-
halb Ärger mit seiner Frau bekommen. »Die
erste Stunde war die schlimmste.«
Wie ein Junge guckt er seinem Boot nach.
»Wie sich das dreht und gegen den Wind legt!«
Er freut sich, sagt er, wenn die jüngeren
Leute am See mit ihm reden. Gerade im Alter
müsse man doch neugierig sein.
Er freut sich, sagt er, wenn sie ihren Müll
wegräumen, sein Zuhause sauber halten. Fä-
senfeld kommt vom einen zum Nächsten:
vom See, der ihm Sorgen bereitet, »das Was-
ser sinkt seit einem Jahr«, zu den Zukunfts-
ressourcen, an die er glaubt, »Wasserkraft und
Batterie – oder?«. Fäsenfeld erzählt von Ka-
meras, Leicas, Sonys, von den Söhnen und
seiner Frau. Er findet, Paare sollten zusam-
menbleiben, wenn es irgendwie geht, »das
Leben ist ja doch auch ernst«.
Dann, kurz vor 22 Uhr, bevor am Ein-
gang die Kasse schließt, bevor ringsum die
Seen schließen, holt Fäsenfeld noch ein ande-
res Modellboot aus seiner Hütte: weiß und
mit hölzernem Deck. »Das macht Musik,
wenn es fährt«, sagt er, als es bereits über die
Wellen schippert und dabei so sanft durchs
seichte Wasser treibt, als könnten Boote keine
Hindernisse rammen. Als gäbe es keine Hin-
dernisse, nicht an diesem Tag.
Fäsenfeld fasst sich ans Ohr, er lauscht der
Musik. Dann zeigt er rüber zu seinem Boot.
»Schön, oder?«
Es spielt die Titelmelodie vom Traumschiff.

A http://www.zeit.de/audio

ENTDECKEN


16 U h r.


»Attackeeee!«


17 Uhr. Ein kleines


Mädchen sagt:


»Ich will nicht


schwimmen, da


werden meine


Haare nass«



  1. AUGUST 2019 DIE ZEIT No 32 49


ANZEIGE


Jetzt mit ZEIT LEO ins neue Schuljahr starten! Verschenken Sie 3 Ausgaben und fördern Sie so die Neugier
Ihrer Kinder. Denn die Welt, in der sie groß werden, steckt voller Rätsel und Geheimnisse. ZEIT LEO gibt
Antworten und nimmt sie mit auf Entdeckungsreisen. Spannende Geschichten, knifflige Rätsel und viele Ideen
zum Selbermachen – das alles steckt in dem bunten Magazin für Kinder. Sichern Sie sich jetzt 3 Ausgaben für
nur 12 €. Sie sparen fast 20 % gegenüber dem Einzelkauf und erhalten ein exklusives Dankeschön!

*Bitte Bestellnummer 1877705 angeben

Back to school mit


ZEIT LEO!


Jetzt bestellen: http://www.zeit.de/leo-school 040/42 23 70 70*


Nur 12 €


3 x ZEIT LEO
plus Geschenk

ZEIT LEO-Schülerkalender
Mit praktischen Extras wie Stunden-
plänen und To-do-Listen sowie
spannenden Beiträgen aus ZEIT LEO.

Buch
»365 Experimente
für jeden Tag«
Ein unterhaltsames Sach- und
Machbuch für die ganze Familie.

Lamy-Füllhalter »safari«
Eines der beliebtesten Schreibgeräte
für junge Menschen.
In Rot oder Blau.

107187_ANZ__23615014_X4_ONP26 1 26.07.19 12:15
Free download pdf