Die Zeit - 01.08.2019

(Kiana) #1

Ich will Häuser planen,


die clever sind.


Tanja Scheffler, Studentin
Energie Effizienz Design

Meine Geschichte:
http://www.hs-augsburg.de/zukunft

http://www.wppt.de

| Foto: Matthias

Leo

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  1. August 2019 DIE ZEIT No 32


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BILDUNG WISSENSCHAFT BERUFBILDUNG WISSENSCHAFT BERUF

CHANCEN


A


n das telefon im Konfu zius-
Kindergarten in Leipzig geht
seit tagen keiner mehr. Droh-
anrufe füllen den Anrufbe-
antworter, »scheißdrecksloch«,
heißt es da. und: »sie sind der
untergang der Menschen.« Die
Polizei schaut vorbei, aus sorge vor Übergriffen.
gewaltdrohungen haben die Beamten alarmiert.
Vor der Kita kommen und gehen Eltern mit
ihren Kindern, manche an der Hand, manche auf
dem Arm der Mütter, ein Vater verstaut einen
Kinder wagen in seinem Kombi. Die meisten
winken ab, wenn man sie auf das, was hier pas-
siert ist, anspricht. sie haben keine Lust mehr auf
das thema und schon gar keine Lust auf die
nächste schlagzeile. Eine Mutter bleibt stehen.
»Die Welle der Wut«, sagt sie, »hat die Einrich-
tung überrollt.«
Was ist passiert?
Knapp vier Wochen zuvor, an einem sonntag,
verschickte Wolfgang schäfer, der Leiter des Kon-
fuzius-Kindergartens und einer weiteren Kita im
Leipziger süden, eine Mail an die Eltern seiner
300 Kita-Kinder: Man wolle »aus Respekt gegen-
über einer sich verändernden Welt [...] nur noch
Essen und Vesper bestellen und ausgeben, die
schweinefleischfrei sind«, schreibt er. Auch süßig-
keiten, die gelatine enthalten, zum Beispiel gum-
mibärchen, würden künftig nicht mehr angeboten.

Daraufhin geschah: nicht viel. Die Ankündi-
gung, dass die Kindergarten-Leitung beim Caterer
keine schnitzel mehr ordern wolle, nahmen die
meisten Eltern ohne große Aufregung hin. Die
gegend im süden der stadt, in der die beiden
Kindergärten stehen, gehört zu den besseren in
Leipzig. Viele Altbauten und Kneipen, eine große
alternative szene und die universität gleich um die
Ecke. Die sorge vor einer vermeintlichen Islami-
sierung ist hier nicht besonders ausgeprägt.
Der Vater am Kombi vor dem Konfuzius-Kinder-
garten findet den Verzicht auf schweinefleisch denn
auch einfach nur pragmatisch. Es gebe eben nur ein
Mittagessen, und das müssten alle essen können.
Auch die muslimischen Kinder. Er habe damit kein
Problem. Auch ein Vater, dessen Kind den benach-
barten Kindergarten besucht, kann die ganze Auf-
regung nicht verstehen. »Ich kann meinem Kind
auch weiterhin ein schnitzelbrötchen zum Frühstück
einpacken«, sagt er. Der Leiter der Kita sagt indes
gar nichts mehr, er lehnt derzeit alle Interview-
anfragen ab. Obwohl aus den Wortmeldungen der
Eltern klar wird: Ihr Problem ist nicht die Kita,
sondern die Art, wie über ihre Kita geredet wird.
Auf der einen seite gelassene Eltern, auf der
anderen seite Morddrohungen, Diskussionen in
den sozialen Medien und Berichte in beinahe
sämtlichen Medien der Republik: Das Missver-
hältnis zwischen einer Entscheidung, die zwei
Kitas betrifft, und der Re ak tion im restlichen Land

ist augenfällig. Das legt die Vermutung nahe, dass
es hier nicht darum geht, welches Essen in den
Kitas dieser Republik auf den teller kommt. son-
dern um die Frage, wie die Menschen in diesem
Land zusammenleben wollen. Wessen Wünsche
Vorrang haben, wenn alte gewohnheiten auf neue
Bedürfnisse stoßen. Jetzt und in Zukunft. Einer
Zukunft, die vor allem in Bildungseinrichtungen
verhandelt wird. Auch deshalb werden die Fragen
von Identität und Regeln nirgendwo sonst so emo-
tional verhandelt wie anhand von Kitas, schulen,
universitäten. sie sind Orte der Jugend und der
Prägung, der Kindergarten dabei noch mehr als
die anderen Institutionen. Kinder handeln nicht
bewusst oder politisch, sie erlernen erst, wie man
zusammenlebt, was toleranz heißt, was Regeln
bedeuten, wie man Respekt zeigt.
Das alles ist der Resonanzboden, auf dem die
Berichterstattung ihre Wirkung entfalten konnte,
die ihrerseits nach dem skandal suchte. Am 23. Juli
titelte die Bild- Zeitung: »Kita streicht schweine-
fleisch für alle Kinder«, und zwar aus Rücksicht
»auf zwei muslimische Mädchen (2 und 3)«. In
dem Artikel befragt sie auch den Leiter der beiden
Einrichtungen, Wolfgang schäfer. Der lässt sich mit
dem satz zitieren: »Auch wenn es nur eine Familie
wäre, die das seelenheil ihres Kindes aus religiösen
gründen durch unreines schweinefleisch beein-
trächtigt sieht, setze ich diese Neuerung jetzt durch.«
Auch Bundesernährungsministerin Julia Klöckner

(CDu) kommt zu Wort: »Alle anderen für die Ess-
gewohnheiten anderer, die auch mal gerne schwei-
nefleisch essen, in Mithaftung zu nehmen ist nicht
förderlich für ein gedeihliches Zusammenleben.«
Es braucht nur wenige stunden – und weitere
mediale Aufmerksamkeit –, bis das Personal der
beiden Kitas bedroht wird. Das berichten Mitarbeiter
der Leipziger stadtverwaltung, die anonym bleiben
wollen. sie erzählen, dass neben den Drohanrufen
sogar wildfremde Menschen in die Kita gekommen
seien und den Erziehern Zettel in die Hand gedrückt
hätten. Die ZEIT hat die Nachrichten des Anruf-
beantworters gehört und Fotografien dieser Zettel
gesehen. Auf einem steht: »An den galgen mit dir
oder standrechtlich erschießen«. Auf einem anderen
wird gefordert, das schweinefleisch wieder einzufüh-
ren: »Ansonsten wird die Kita brennen, wenn auch
zum Nachteil der Kinder«. Den Eltern, deren Kinder
die beiden Einrichtungen besuchen, macht das Angst.
»Es wäre nicht das erste gebäude, das brennt, aus
total bescheuerten gründen«, sagt ein Vater.
Bescheuerte gründe oder todernste Angelegen-
heit? Es ist ein Fall, der exemplarisch für die Aus-
ein an der set zun gen in der gesellschaft ist. Hier je-
ner teil des Landes, der Veränderung als teil einer
sich wandelnden gesellschaft versteht. Dort die
anderen, die darin eine Bedrohung ihres Lebens-
stils sehen. Die Worte des Kita-Leiters, man lebe
in einer »sich verändernden Welt«, trafen da den
schmerzpunkt. Auch und gerade weil frühkind-

liche Erziehung von jeher ein Feld ist, auf dem Er-
wachsene ihre Weltanschauungen ausleben.
In den sechzigerjahren, der Zeit des sozialen um-
bruchs und der Emanzipationsbewegungen, gründe-
ten Frauen in den großstädten der BRD die ersten
Kinderläden. Deren Ziel war klar: Änderung der
gesellschaftlichen Verhältnisse durch antiautoritäre
Erziehung. Dass es heute trotzdem nicht nur ein
Kita-Leitbild gibt, liegt auch daran, dass die gesell-
schaft zunehmend vielfältiger geworden ist – und
sensibler bei Fragen der Vielfalt. so hatte etwa eine
Kita in Hamburg zur Faschingszeit die Eltern gebeten,
ihre Kinder nicht als Indianer zu verkleiden, um
keine kulturellen stereotypen zu reproduzieren. Eine
andere Kita diskutierte im vergangenen Herbst, ob
das christliche st.-Martins-Fest nicht umbenannt
werden solle in »sonne-Mond-und-sterne-Fest«, da-
mit muslimische Kinder nicht ausgeschlossen würden.
Die Vielfalt der gesellschaft zeigt sich in der Viel-
falt innerhalb der Kitas. Rund 56.000 tageseinrich-
tungen für Kinder unter sechs Jahren gibt es mittler-
weile in Deutschland. Kirchliche und staat liche,
muslimische und humanistische. Wald-, Montessori-
und 24-stunden-Kitas. Es gibt vegane, vegetarische
und Bio-Kitas – und solche, deren sorge es ist, dass
alle Kinder wenigstens einmal am tag eine warme
Mahlzeit bekommen. Kita-Leiter Wolfgang schäfer
hat das Vorhaben, auf schweinefleisch zu verzichten,
vorerst ausgesetzt. Er will mit den Eltern noch mal
beraten, was die richtige Entscheidung ist.

Mir doch


Wurst


Zwei Leipziger Kitas streichen schweinefleisch
vom speiseplan – die Empörung ist groß.
Warum die Kita von jeher ein Ort politischer
Debatten ist VON DANIEL BÖLDT, HANNAH KNUTH
UND ANNA-LENA SCHOLZ

Wer bestimmt hier die Regeln? Antiautoritärer Kinderladen, München 1974

Fotos: R. Dietrich/ullstein bild/action press; Michael Rasche (o.)

Mehr Praxis, weniger
Hörsaal – wo stehen
die Fachhochschulen
heute? Ein spezial

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