Die Zeit - 01.08.2019

(Kiana) #1

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wie ich immer gedacht hatte. Vielleicht habe ich einfach zu
viele Hollywoodfilme geschaut und bin nun irritiert, dass
es »in echt« auch andere Narrative gibt als Drama.


  1. März: Die erste Lektion, nachdem ich meinen Vater
    gefunden habe, lautet tatsächlich: Das Leben ist kein Film.
    Jedenfalls würde sich das, was ich die letzten Tage erlebt
    habe, niemand im Kino angucken. Es wäre so fürchterlich
    langweilig. Na ja, okay, vielleicht wäre es auch ein wenig
    lustig. Das erste Foto nämlich, das mir mein Vater geschickt
    hat, ist ein Strandselfie! Das rote Licht eines Sonnenunter-
    gangs fällt ihm ins Gesicht. Er hat Wuschelhaare, Dreitage-
    bart, weiche Linien unter den Augen. Er erinnert mich an
    den Schauspieler Mads Mikkelsen. Meine Gefühlslage ist
    gespalten: Einerseits bin ich froh, dass er hübsch ist. An-
    dererseits halte ich mich deswegen für eine oberflächliche
    Kuh. Ich frage mich: Werde ich nun Wünsche auf dieses
    Gesicht projizieren? Oder bin ich erwachsen, und das ist
    vorbei? Es fühlt sich an wie ein Test.
    Das Instabile an meiner Kindheit war weniger der ab-
    wesende Vater als das Geld. Als ich ein Baby war, legte


mich meine Mutter in einen Wäschekorb, weil sie kein
Geld hatte für ein richtiges Bettchen. Und die ersten zehn
Jahre meines Lebens ernährten wir uns von Butternudeln.
Doch trotz allem schaffte es meine Mutter, meine Welt
mit den tollsten Dingen zu füllen. Sie las mir alle Harry
Potter -Bände vor, schmiss die legendärsten Geburtstags-
partys und brachte mir schon mit zehn bei, wer die Beas tie
Boys sind. Wenn man mich als Kind fragte, was ich werden

wollte, sagte ich: Astronautin und alleinerziehende Mutter.
Die Literaturtheoretikerin Julia Kristeva schrieb einmal:
»Alleinstehende Mutterschaft kann als eine der heftigsten
Formen der Ablehnung des Symbolischen betrachtet werden
und zugleich als eine der glühendsten Vergöttlichungen von
mütterlicher Kraft – was dazu führt, dass eine gesamte juris-
tische und ethische Ordnung durch ein an der ge bracht wird.«
Daran muss ich immer denken, wenn meine Mutter erzählt,
wie hart es häufig war, alleinerziehende Mutter zu sein.


  1. März: Ich liege noch im Bett, als die erste Mail meines
    Vaters kommt, die mich stutzen lässt. Er schreibt, er wolle
    nicht arrogant klingen, aber es sei bestimmt nicht leicht
    gewesen für mich, ohne Vater aufzuwachsen. Und er fragt:
    Hast du Babyfotos?

  2. März: Die zweite Lektion, die ich aus meiner Vatersuche
    ziehe, ist die, dass man Gedanken und Gefühle nicht voraus-
    sagen kann – besonders wenn es für Situationen kein Skript
    gibt, wie für diese hier. Heute bin ich durch die Stadt spaziert
    und habe gemerkt: Die Frage nach den Babyfotos hat etwas


in mir ausgelöst. Es fühlt sich an wie ein Monster, das faucht:
Hey, nur weil du mich gezeugt hast, hast du noch lange kein
Anrecht auf meine Vergangenheit! Ich schreibe zurück, dass
ich lieber nur die Gegenwart mit ihm teilen will.


  1. März: Heute ist es genau eine Woche her, dass die erste
    Mail eingetroffen ist, und ich versuche mir das Gegenteil
    einzureden, doch die Wahrheit ist: Die Nachrichten sind


Eine Lektion, die ich bei der Suche


nach meinem Vater lerne: Man kann Gedanken


und Gefühle nicht voraussagen


Foto privat


ANNE
RATT E-PO LL E

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JÖ RG
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