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frustrierend. Er schreibt viel von seinen Schuldgefühlen und
erzählt herzzerreißende Geschichten über traurige Töchter,
die ihren Vater suchen. Er will einfach nicht wahrhaben,
dass meine Kindheit nicht traumatisch war. Ich stelle viele
Fragen: Wo lebst du? Was tust du? Was ist damals passiert?
Er beantwortet keine, außer die zu seiner Lieblingsband:
Kings of Leon – eine Band, die ich leider grauenhaft finde.
Über die Jahre habe ich vermutlich jeden Aphorismus
gelesen, den es zum Thema Vater im Internet gibt. Vieles
halte ich für Quatsch. Nietzsche schrieb etwa: »Wenn man
keinen guten Vater hat, so soll man sich einen anschaffen.«
Ich denke: Einen Vater kann man sich doch nicht »anschaf
fen«. Und was ist, wenn es gar keinen Vater braucht für
das Glück? Und gleichzeitig kommt mir in den Sinn, dass
ich als Kind mal eine Zeit lang behauptet habe, dass der
damalige Schweizer Bundespräsident Moritz Leuenberger
bei meiner Geburt dabei gewesen sei. Sehnte ich mich doch
mehr nach Stabilität, als ich wahrhaben will?
- März: Endlich habe ich mich getraut, meine Mutter
anzurufen und ihr die ganze Geschichte von der Vater
suche zu erzählen. Ich höre sie am andern Ende der Lei
tung rauchen und habe Angst, dass sie wütend wird. Doch
dann meint sie überraschend: »Ich wusste, dass dieser Tag
kommen wird, und kann nur sagen: Ich vertraue dir voll
und ganz. Wenn jemand überlegt mit solchen Situationen
umgeht, dann du.«
- März: Er macht mir langsam Angst. Mein Vater hat mir
innerhalb weniger Stunden vier Mails geschickt. Geschrie
ben hat er wenig, dafür gezeichnet: sechs gescannte Skizzen
von blauen Augen, ein Selbstporträt – und ein Bild von mir.
Die Vorlage – das erkenne ich sofort – ist ein fünf Jahre altes
Foto, das man auf Google findet. Ich sitze in der Biblio
thek und habe Angst, nach Hause zu gehen. Auf einmal bin
ich überzeugt, dass mein Vater mich verfolgen wird, meine
Grenzen nicht respektiert. Ich erschrecke, als ich diesen Satz
denke. Ich will diesen Satz nicht denken. - März: Wenn ich die Augen schließe, sehe ich das Bild,
das er von mir gemalt hat. Wie er meine langen Haare mit
dicken Strichen um mein Gesicht gezeichnet hat, wie er
meine Haut grau eingefärbt hat. Warum stresst mich diese
Skizze so? Machen sich Eltern nicht immer ein Bild von
ihren Kindern? Und ist vielleicht genau dieses Sichmiss
verstandenFühlen das definierende Merkmal einer Vater
TochterBeziehung?
- März: Am besten am Erwachsensein finde ich, dass man
den Kontakt zu Leuten abbrechen kann, die einem nicht
guttun. Und das Zweitbeste ist: Man kann sich aus lieben
Freundinnen und Freunden eine Wahlfamilie zusammen
basteln. Daher frage ich mich: Dürfte ich den Kontakt zu
meinem Vater abbrechen, wenn ich merke, dass wir uns
nicht guttun? Oder müsste ich versuchen, mit ihm klar
zukommen, weil wir verwandt sind? Ich schreibe ihm eine
Mail und bitte um einige Tage Abstand.
In den letzten Jahren habe ich mit meinen Freundinnen
oft darüber gesprochen, wie uns unsere Eltern geprägt ha
ben, und wir sind dabei zu einer interessanten These ge
langt. Wir alle teilen die Beobachtung, dass Kinder aus
nicht ganz üblichen Verhältnissen tendenziell weniger
selbstbewusst und furchtlos durchs Leben gehen als solche
aus klassischen MutterVaterKindFamilien. Dafür haben
es viele der ängstlichen Kinder geschafft, ihre Sensibilität
während der Pubertät in eine Art Superkraft zu verwan
deln. Weil sie häufiger auf sich selbst gestellt waren, sind
sie besser darin, sich selbst Geborgenheit zu schenken.
Und sagen wir es mal so: Selbstzweifel sind mein größtes
Problem, das Alleinsein mein kleinstes.
- April: Mein Vater gratuliert mir zum Geburtstag, es ist
die erste Mail nach der Funkstille. Er fragt, wie ich mich
damit fühle, meinen Vater gefunden zu haben. Ich schreibe
zwei Tage lang an einer Mail, dann schicke ich sie ab.
Du fragst, wie ich mich fühle, meinen Vater gefunden zu
haben – und das Ding ist, es fühlt sich gar nicht danach an.
Ich habe zuvor nie darüber nachgedacht, was der Begriff
Vater eigentlich für mich bedeutet, wie ich ihn definieren
würde. Es gab ja bisher nicht wirklich einen Anlass dazu.
Nun – seit unserem Kontakt – habe ich aber verstanden,
dass der Faktor Zeit offenbar zentral für mich ist und ich
deshalb wohl nie einen Vater im klassischen Sinn haben
werde. Das bedeutet aber auf keinen Fall, dass ich Dich
nicht kennenlernen will oder ich mich nicht um Dein Wohl
sorge. Ich will einfach keine falschen Erwartungen schüren
und Dich enttäuschen.
Kann ich den Kontakt zu meinem Vater abbrechen,
wenn ich merke, dass wir uns nicht guttun? Oder muss ich
mit ihm klarkommen, weil wir verwandt sind?
AKT