Die Welt - 08.08.2019

(Brent) #1

D


ienstag Nachmittag, Vier-
tel vor fünf. Das Kino
4Star liegt an der Ecke
Clement und 24. Straße,
ein Stück draußen, nicht
weit vom Meer entfernt. Es ist ein altes
Kino, die rötliche Farbe hat schon bes-
sere Zeiten gesehen, an der Fassade
blättert die Farbe ab, die Leuchtreklame
ist aus. Auf dem Schild, wo die Filme an-
geschrieben sind, steht „Once upon in
Hollywood“. Und „35 MM“. Eigentlich
ist sowieso klar, dass in diesem Kino
keine Digitalkopien gezeigt werden.
Aber ich denke mir: Gute Werbung, ich
will unbedingt eine 35-Millimeter-Kopie
sehen, the real thing. Ein echter Film.

VON HOLGER KREITLING

Ich kaufe bei einem alten Mann eine
Karte für 12,50 Dollar und gehe hinein.
Der Saal ist lang gezogen und schmal,
die Leinwand hängt ziemlich hoch,
drum herum ist ein Art-Deco-Look-
alike-Bogen gezogen, der vielleicht
noch älter ist als die blätternde Fassade.
Ich frage mich, ob die Sitze wohl aus
Holz sein werden und unbequem, aber
das ist nicht so.
Ich bin allein.

Hinten sitzt ein Mann, der mit dem
alten Vorführer redet, er gehört zum In-
ventar, scheint es. Er ruft: „Ich kann es
nicht glauben, dass hier niemand ist.“
Der Vorführer meint, die Leute kämen
am Abend, zur Acht-Uhr-Vorstellung.
Nach ein paar Minuten steht er auf und
kommt zu mir und wiederholt den Satz,
dass niemand da sei.
„Ich dachte auch, es wäre mehr Publi-
kum hier“, sage ich.
„Kennen Sie den Film schon?“
„Nein“, sage ich.
„Sie werden ihn mögen, guter Film.
Ich sehe ihn zum zweiten Mal. Überra-
schendes Ende.“
„Verraten Sie es nicht.“
„Ich wollte ihn im New Mission
Theatre in 70 Millimeter sehen“, sagt
er.
„Oh, er ist in 70 Millimeter?“
„Ja, aufgeblasen. Aber die Vorstellun-
gen sind alle ausverkauft die Woche.
Und jetzt haben sie Probleme mit dem
Projektor. Deshalb bin ich hier. Das Bild
hier ist gut. Aber es gibt keinen Stereo-
ton. Nur Mono.“
Ich nicke, und er geht.
Ich fühle mich wie in meinem aller-
ersten Kino, in meinem Dorf, beim Kino
Bopp. Da gab es natürlich Monoton, und
die Sitze waren aus Holz ohne Polster.
Weil die Filme nicht so lang waren, ging
das. Ich kam als Kind und als Jugendli-
cher sonntags in die 18-Uhr-Vorstellung.
Die Vorführerin war alt, eine Freundin
meiner Großmutter. Bud Spencer und
Terence Hill prügelten sich. King Kong
fiel vom World Trade Center. Die War-
riors wollten bloß zurück nach Coney
Island.
Es war schwierig, sich den Film anzu-
sehen, weil ein paar Dorfschläger ange-
kündigt hatten, danach genauso wie die
Gangs durch die Gassen zu laufen und
andere Jugendliche zu hauen. Ich fürch-
tete mich davor, aber ich wollte auch
den Film sehen. Ich ging sehr schnell
nach der Vorstellung nach Hause und
nahm einen anderen Weg als üblich;
„The Warriors“ verehre ich seitdem
sehr.
Ins 4Star kommt nun ein Paar herein,
ein älterer Mann und eine jüngere Frau,
er hat eine Tüte Popcorn in der Hand.
Sie schauen sich um, setzen sich, reden
darüber, ob sich die Frau nun Popcorn
gewünscht hat oder ein Getränk. Nein,
sagt sie, kein Getränk, sondern Pop-
corn. Sie isst dann die Hälfte des Pop-
corns des Mannes.
Der Mann schaut sich um, als bemer-
ke er erst jetzt, dass niemand da ist. Er
schaut mich an.
Ich sage: „Niemand hier.“ „Ja, das ist
das Schöne daran. Deshalb ist das hier

das beste Kino der ganzen Stadt.“ Er
schaut sich noch einmal um, erklärt
dann der Frau, dass er eigentlich immer
dort hinten sitzt, an der Wand.
Im Grunde geht mir das so wie dem
Mann, ich mag die Multiplexe nicht,
und am liebsten gehe ich ins Kino, wenn
wenig Publikum da ist. Man fühlt sich
bequem und elitär zugleich. Diese Hal-
tung ist für die Kinos bedrohlich und
obendrein ein bisschen dekadent. Wie
soll das weitergehen? Ich schaue die
weinroten Stoffwände an, die verstaub-
te Palastanmutung. Ich denke an das Ki-
no von Frau Bopp, das es längst nicht
mehr gibt, dort sind jetzt Wohnungen.
Das Licht geht aus, es sind blumenar-
tige Deckenleuchter. Es gibt keine Wer-
bung und keinen Trailer. Ich finde das
großartig, ein Traum. Bevor ein Bild zu
sehen ist, kann man ein Rattern hören,
auch ein Knacken. Der Projektor, die
Filmrolle. Ich habe natürlich die aller-
meisten Filme mit Filmkopien gesehen,
dennoch bin ich jetzt sentimental und
happy. Once upon a time, es war einmal.
Mein Sohn hat neulich erzählt, wie er
sich im kommunalen Kino „Rio Bravo“
von 1956 angeschaut hat, einen unserer
Familien-Lieblingsfilme. Es war eine
runtergerockte Kopie, die Bilder spran-

gen, es waren die schwarzen Punkte zu
sehen, das Rauschen zu hören. Mitten-
drin riss der Film, und die Vorstellung
musste unterbrochen werden. Mein
Sohn erlebte das zum ersten Mal, er war
ein wenig empört, wie könne so etwas
sein? Das Unperfekte des Kinos gibt es
nur noch in Läden wie dem 4Star.
Das Bild ist gut, der Ton in Mono. Die
Farben erscheinen in kaliforniensatten
Sonnenstrahlentönen. Natürlich ver-
gesse ich das alles, sobald der Film läuft.
„Once upon a Time in Hollywood“
spielt 1969, die Helden fahren ständig
an Kinos vorbei, die wunderschön sind.
In den Wohnungen hängen Filmplakate,
die für die Aushänge der Kinos herge-
stellt wurden. Aber die Leute in dem
Film schauen unentwegt Fernsehen, die
Hippies schauen sich Serien an, Leo Di-
Caprio als Westerndarsteller dreht Seri-
en, Brad Pitt wohnt hinter einem Auto-
kino im Wohnwagen. Nur Sharon Tate,
die Unschuldige, geht einmal ins Kino,
um sich selbst anzusehen. Sie ist glück-
lich dabei.
Tarantino hat ein Märchen gedreht,
in dem selbst das Kino nicht mehr rich-
tig funktioniert, es ist alt und fett und
steht auf der Kippe. Das Neue ist noch
nicht angekommen. 1969 kam das Neue
mit Macht, New Hollywood bescherte
dem Film einen Boom, ästhetisch und
wirtschaftlich. Jetzt, hier, ist ganz un-
klar, ob das Kino Bestand haben wird.
Der Film ist aus, das Popcorn-Paar
geht. Ich bleibe sitzen und sehe mir im
AAAbspann an, wie Leo DiCaprio noch Zi-bspann an, wie Leo DiCaprio noch Zi-
garettenwerbung macht. Wahrschein-
lich ist das auch subversiv, oh, Zigaret-
tenwerbung im Kino, die trauen sich
was. Tarantino will ein Dinosaurier
sein, seine Sentimentalität wirkt muse-
al und angestrengt. Ich komme mir vor
wie im Film „The Last Picture Show“,
wo in der Kleinstadt noch einmal „Red
River“ gezeigt wird und dann der La-
den für immer geschlossen wird. Zeit
zu gehen.
Im Foyer stehen etwa ein Dutzend
Leute an der Kasse. Später kommen
noch ein paar. Ist okay für einen Diens-
tagabend. Ich frage den Vorführer, wie
alt das Kino ist. Oh, sagt er, das Gebäu-
de sei von etwa 1919, der Besitzer habe
das Kino Anfang der Sechzigerjahre ein-
gebaut. Er schaufelt das Popcorn durch-
einander, damit es nicht klebt. An der
Wand hängt ein schwarzes T-Shirt mit
dem Aufdruck „4Star Theatre“. Darüber
steht groß geschrieben „Support your
local cinema“. Das ist ein ehrbares Vor-
haben. Ich kaufe eines und gehe. Drau-
ßen geht die Sonne gerade unter, die
Leuchtreklame ist immer noch nicht
angeschaltet. The Last Picture Show.

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AUSLANDS-OSCAR


Sieben deutsche


Filme kandidieren


Sieben Filme gehen ins Rennen um
den deutschen Oscarkandidaten.
Darunter sind die Hape-Kerkeling-
Biografie „Der Junge muss an die
frische Luft“ von Regisseurin Caro-
line Link und „Lara“ von Jan-Ole
Gerster, wie German Films, die
Auslandsvertretung des deutschen
Films, am Mittwoch in München
mitteilte. Auch die Macher der Fil-
me „Der Fall Collini“ mit Elyas
M’Barek, „Deutschstunde“, „Heimat
ist ein Raum aus Zeit“, „System-
sprenger“ und „Der Zukunft zu-
gewandt“ haben Bewerbungen für
den Auslandsoscar eingereicht.
Am 21. August wird bekannt gege-
ben, wer für Deutschland den Oscar
in der Kategorie bester Auslands-
film holen soll. Beim letzten Mal
hatte die Jury Florian Henckel von
Donnersmarcks „Werk ohne Autor“
nach Hollywood geschickt.

FERNSEHEN


Lewinsky plant Serie


über Affäre mit Clinton


Monica Lewinsky wird eine Fernseh-
serie über ihre Affäre mit dem frühe-
ren Präsidenten Bill Clinton pro-
duzieren. Die dritte Staffel der Serie
„American Crime Story“ befasst sich
mit dem Amtsenthebungsverfahren
gegen Clinton, das den damaligen
Präsidenten fast das Amt gekostet
hätte. Die Ausstrahlung ist für den
2 7. September 2020, nur wenige
WWWochen vor der US-Präsident-ochen vor der US-Präsident-
schaftswahl, geplant. Bill Clintons
AAAffäre mit der ehemaligen Praktikan-ffäre mit der ehemaligen Praktikan-
tin im Weißen Haus stürzte seine
Präsidentschaft (1993 bis 2001) in
eine schwere Krise. 1998 kam es zum
Amtsenthebungsverfahren gegen
Clinton, weil er die Beziehung zu
verschleiern versucht hatte. Die
Anschuldigungen lauteten auf Mein-
eid und Behinderung der Justiz. Eine
Mehrheit im Senat stimmte jedoch
gegen eine Amtsenthebung.

MUSEEN


Sempergalerie


fertig saniert


Nach fast sechs Jahren Bauzeit ist
die Sanierung der Dresdner Semper-
galerie abgeschlossen. Die aufwen-
dige Baumaßnahme mit Kosten von
fast 50 Millionen Euro unterstreiche
die Bedeutung der Galerie Alte
Meister als Touristenmagnet, sagte
Finanzminister Matthias Haß
(CDU) am Mittwoch bei der Über-
gabe an die Staatlichen Kunstsamm-
lungen Dresden. Die Wiedereröff-
nung der Dauerausstellung ist für
den 7. Dezember geplant. Gezeigt
werden künftig nach Angaben von
Galeriedirektor Stephan Koja rund
750 Gemälde sowie etwa 400 Skulp-
turen. Wie die Generaldirektorin
der Kunstsammlungen, Marion
Ackermann, betonte, haben sich die
konservatorischen Bedingungen für
die Kunstwerke deutlich verbessert.

SPANISCHE TREPPE


Touristen dürfen sich


nicht mehr setzen


Touristen dürfen nicht mehr auf der
berühmten Spanischen Treppe in
Rom sitzen und la Dolce Vita genie-
ßen. Polizisten vertrieben am Diens-
tag mit Trillerpfeifen Besucher, die
sich auf den berühmten Marmor-
stufen im historischen Zentrum der
italienischen Hauptstadt ausruhen
wollten. Der Stadtrat hatte im Som-
mer einen Erlass verabschiedet, der
es untersagt, sich auf Monumente
zu setzen. Bei Zuwiderhandlungen
drohen Strafen von bis zu 400 Euro.
Verboten wurden auch weitere Ver-
haltensweisen, die den Stadtver-
antwortlichen ein Dorn im Auge
sind – etwa das Baden in Brunnen
und das Spazierengehen ohne T-
Shirt oder Hemd. Rom will damit
die Auswirkungen des Massentou-
rismus unter Kontrolle bringen.

KOMPAKT


DIE WELT DONNERSTAG,8.AUGUST2019 SEITE 21


Dass es so weitergeht,


ist die Katastrophe Seite 22


Slavoj Zizek


FEUILLETON


Allein im Kino


Wie lange wird es sie noch geben,


die alten Filmtheater mit weinroter


Stoffbespannung und ratterndem


Projektor? Sentimentaler Besuch einer


Nachmittagsvorstellung in San Francisco


Diskreter Charme des Art déco: Das 4star Theatre Cinema in St. Francisco stammt noch aus der Stummfilmzeit


HOLGER KREITLI (3)

Schnörkel und Breitwand: die Behaglichkeit des Vorführsaals


Einmal Popcorn und eine große Cola, bitte!


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