Süddeutsche Zeitung - 08.08.2019

(Darren Dugan) #1
In Istanbul existiert das Urbane gleich ne-
ben demLändlichen. Vor einem eleganten
Supermarkt, voll mit teurer Importware,
nah am zentralen Taksim-Platz, steht ein
Melonenhändler, der seine Früchte auf
einen Pferdewagen geladen hat. Die große
Zuwanderung in die Metropole am Bos-
porus begann in den Achtzigerjahren des
vergangenen Jahrhunderts. Sie hält bis
heute an, sie hat nur an Dramatik verloren.
Aber jeder, der in Istanbul lebt, wird täg-
lich daran erinnert, dass die Türkei ebenso
ein Land der kleinen Leute wie des großen
Geldes ist.

Die Künstlerin Gülsün Karamustafa hat
den Kulturmix, der aus der Binnenmigrati-
on entstanden ist, in textilen Kompositio-
nen verarbeitet. „Melek“, Engel, heißt ei-
nes ihrer Werke, es ist (bis 18. August) im
Museum „Istanbul Modern“ zu sehen. Der
Engel trägt die Sehnsucht nach den verlas-
senen Bergen und Wäldern unter seinen
Flügeln, sein Körper besteht aus Küchen-
schürzenstoff mit Rosenmuster. Die Sym-
bolik ist so schlicht wie eindrücklich, die
Nadelarbeit entstand bereits 1984.
Die Ausstellung mit dem Titel „The
Event of a Thread“ orientiert sich an der
Bauhaus-Künstlerin Anni Albers, die Web-
kunst als globales Geschichtenerzählen
verstand. Die Türkin Sabire Susuz, gebo-
ren 1967, bringt dies mit „Shopping“ auf
den Punkt. Sie braucht dazu nicht mal ei-
nen Faden, ihr Puzzle wird von Steckna-
deln gehalten. Es besteht aus den Etiket-
ten, die in Markenkleidern Individualität
suggerieren. Entstanden ist das textile Ab-
bild eines Riesenhais, plastisch, geradezu
erschreckend echt. Die Anregung für den
„großen Fisch, der die kleinen frisst“, kam
der Künstlerin nach dem Besuch der riesi-
gen Einkaufszentren, von denen es in Istan-
bul mehr gibt als andernorts in Europa.
Hinter dem „Istanbul Modern“ steht ein
Mäzen, alle großen privaten Ausstellungs-
orte in Istanbul sind von Stiftungen finan-
ziert, die sich bekannte Unternehmerfami-
lien leisten. Das ist gut für das Image, und
die Stadt wäre ohne dieses Engagement
weit ärmer an moderner Kunst.

Die Fotoabteilung des Museums widmet
sich einem Klassiker: dem 2018 mit 90 Jah-
ren verstorbenen Meisterfotografen Ara
Güler. Der Türke mit armenischen Wur-
zeln hat seit den Fünfzigerjahren die
dunklen Ecken seiner Stadt mit der Leica
erforscht. Gülers Schwarz-Weiß-Aufnah-
men der Galatabrücke oder der Straßen-
bahn im Schnee (die Schienen kreuzt ein
Pferd) sind selbst Teil der Geschichte
Istanbuls geworden. Kaum ein Besucher,
der diese Orte vor der persönlichen Begeg-
nung nicht schon auf einem Güler-Foto ge-
sehen hat. Die Bilder erzählen auch davon,
dass die Stadt schon vor der großen Migra-
tionswelle eine breite Unter- und nur eine
dünne Oberschicht hatte. Zu sehen sind
(bis 17. November) auch eher unbekannte
Bilder, sie laufen auf zwei Schirmen im
Wechsel. Ältere Türken verharren davor
lange, sie versuchen, die Gebäude und
Straßen in ihrer Erinnerung zu finden. Die
Ausstellungsmacher haben dazu den Satz
geschrieben: „Städte sind Räume, in de-
nen das kollektive Gedächtnis geprägt und
beständig aktualisiert wird.“ Wie wahr.
christiane schlötzer

von christine dössel

E


s gibt keine große Feierlichkeit, kei-
nen Sekt und auch keinen Scheck.
Das Schönste an der Preisverleihung
bei der Theaterbiennale in Venedig ist der
Preis selbst: ein geflügelter Goldener Lö-
we, hereingebracht in einer aufklappbaren
roten Box wie in einem Schrein. Es ist die
gleiche venezianische Trophäe, wie sie
auch bei den Filmfestspielen verliehen
wird, dort allerdings mit deutlich mehr
Pomp und Aufmerksamkeit – wie das üp-
pig ausgestattete Filmfestival seine sehr
viel ärmere kleine Theaterschwester über-
haupt in allem überstrahlt. Obwohl beide
fast gleich alt sind und seit mehr als 85 Jah-
ren unter dem Dach der großen Marke Ve-
nedig-Biennale für zeitgenössische Kunst
stattfinden, allerdings jährlich.
Immerhin: Beim Finale im schmucken
Teatro Goldoni kommt Biennale-Präsi-
dent Paolo Baratta doch persönlich vorbei,
um den Ehrenpreis für ein Lebenswerk zu
vergeben. Er geht an den deutschen Dra-
maturgen Jens Hillje, den künstlerischen
Co-Leiter des Berliner Maxim-Gorki-Thea-
ters. Der freut sich und hält den Löwen tri-
umphierend hoch wie ein Sportler den Po-
kal. Eine für Hillje ungewöhnliche Pose, ist
der 51-Jährige doch ein ausgesprochen zu-
rückhaltender, leiser, ja, scheuer Mensch.
Was ihn womöglich genau dafür prädesti-
niert, ein guter Dramaturg zu sein.
Dass er als solcher in Venedig ausge-
zeichnet wird, ist doppelt ungewöhnlich.
Zum einen stehen Dramaturgen schon qua
Jobbeschreibung selten im Vordergrund –
auch Hilljes Name fällt eigentlich immer
nur im Verbund mit dem von Gorki-Inten-
dantin Shermin Langhoff. Zum anderen
wird Hillje von den Italienern für eine Tätig-
keit geehrt, die es im italienischen Theater
gar nicht als eigenständigen Beruf gibt.
Gerade deshalb hat sich Antonio Latella,
der künstlerische Direktor der Theaterbi-
ennale, von Beruf Regisseur, für Hillje als
Preisträger entschieden. Um ein Zeichen
zu setzen und ein Signal zu senden an die
Politik: „Weil ich es wichtig finde, dass
man in unserem Land versteht, was ein
Dramaturg ist, macht und für das Theater
heute bedeutet.“ In Italien, wo die Theater
keine festen Ensembles haben und die In-
szenierungen untereinander austauschen,
gebe es keine dramaturgische Idee für ein
Haus, keine Verständigung über das Publi-
kum und auch keinen Dialog mit diesem.
„Dramaturg“, das sei in Italien gleichbedeu-
tend mit dem Autor eines Stücks.


Sein ganzes Festivalprogramm hat Latel-
la, seit 2017 im Amt, in diesem Jahr unter
das Motto „Dramaturgien“ gestellt, nach-
dem es im Vorjahr um das Verhältnis
„Schauspieler / Performer“ ging und in sei-
nem ersten Biennale-Jahr um Regie (wobei
er da nur Regisseurinnen eingeladen hatte



  • 100 Prozent Frauenquote). „Dramatur-
    gien“, schon klar, meint alle möglichen Ar-
    ten des modernen Erzählens, nicht nur
    klassische Textarbeit. Als Pate dafür steht
    der 1995 verstorbene, im italienischen The-
    ater hoch verehrte DDR-Dramatiker Hei-
    ner Müller, der auf den Biennale-Flyern
    wie ein Gespenst aus einem Gully lugt (das
    berühmte Foto von Joseph Gallus Ritten-
    berg). Ein Zerstörer von Narrativen. Für La-


tella markiert er einen „Point of no return“.
Auch Müller war mal Dramaturg.
Keine Diskussion in Venedig, in der Jens
Hillje nicht auf den grimmen Geschichts-
pessimisten, seinen Heldenpoeten aus Ju-
gendtagen, zu sprechen käme. Als Hillje in
den Neunzigerjahren in Berlin als Drama-
turg begann, an der Seite von Thomas Os-
termeier an der damaligen Baracke des
Deutschen Theaters, da war Heiner Müller
im Theater „der Papst“. Eine Dramaturgie
nach Müller musste überhaupt erst mal ge-
funden werden, sagt Hillje.

Sie fanden sie in England, in den provo-
kativen, dreckig-realistischen Stücken ei-
nes Mark Ravenhill („Shoppen & Ficken“)
und einer gewissen Sarah Kane („Gier“),
der rotzigen Dramatik eines „Cool Britan-
nia“, für die der britische Kritiker Aleks
Sierz den Begriff „In-Yer-Face“-Theater
prägte: mitten in die Fresse. Die Baracke
wurde damit binnen kürzester Zeit be-
rühmt und Ostermeier mit seinem Adjutan-
ten Hillje 1999 an die Berliner Schaubühne
berufen. Gemeinsam mit Sasha Waltz bau-
ten sie in den ersten Jahren ein internatio-
nales Schauspiel- und Tanzensemble auf,
riefen das „F.I.N.D.“-Festival für internatio-
nale Dramatik ins Leben, schufen die well
made Schaubühnenästhetik. Hillje ging
nach zehn Jahren. Ostermeier ist noch im-
mer dort.
„Dramaturgien“ – Latellas Biennale-
Motto meint auch eine solche theatrale Auf-
bau-, Findungs- und Profilarbeit, sprich:
die Arbeit in den (deutschen) Dramatur-
gien. Dafür ist Jens Hillje in Venedig der
Vorzeigemann. Hillje bringe alles mit, was
den idealen Dramaturgen im 21. Jahrhun-
dert ausmache, findet Latella. Nicht nur,
weil er alle wichtigen Spielarten und Betäti-
gungsfelder im Theater aus eigener Praxis
kenne – ob nun als Schauspieler, Regis-
seur, Co-Autor, Stückbetreuer, freier Dra-
maturg, Festivalkurator oder künstleri-
scher Leiter. Sondern vor allem, „weil er
das Theater für ein neues Publikum geöff-
net hat“. Das ist für Latella das wichtigste.
Da der Italiener in Berlin lebt und selber im
deutschsprachigen Theater inszeniert, hat
er Hilljes Arbeit über die Jahre verfolgt. Ein
guter Dramaturg, sagt Latella, sei „wie ein
360-Grad-Künstler“.
360 Grad, das heißt: Alles im Blick ha-
ben, aber selber nicht im Zentrum stehen.
Claus Peymanns treuer Wegbegleiter Her-
mann Beil, einer der wenigen Berühmten
der Zunft, fasste es einmal so zusammen:
Der Dramaturg, als „Denkmaschine“ am
Theater engagiert, pendle täglich zwi-
schen „Denkfabrik“ und „Mädchen für al-
les und nichts“ hin und her. Wer diesen Spa-
gat aushalte, der sei Dramaturg.
Aber was konkret tut so ein Dramaturg?
Jens Hillje, der seinen Beruf oft erklären
muss, weil es ihn außerhalb des deutsch-
sprachigen Theaters kaum gibt, nennt in
Venedig drei Hauptaufgaben: Programmie-
rung, also Spielplan gestalten, Stücke aus-
wählen, viel lesen, viel sehen, Talente scou-
ten, betreuen, kuratieren. Produktion: den
Inszenierungsprozess begleiten und dabei
Ansprechpartner auch für die Schauspie-
ler sein. Und Kommunikation, also die Be-
treuung von Programmheften, Publikums-
gesprächen, die Vermittlung zwischen The-
ater und Öffentlichkeit. Es seien viele Auf-

gaben hinzugekommen, zum Beispiel eine
viel stärkere Produktionsverantwortung.
Dass der Dramaturg am Produktions-
prozess beteiligt ist, kam überhaupt erst
mit Bertolt Brecht und dessen gesell-
schaftsreflexiver Arbeit am Berliner En-
semble in den Fünfzigerjahren auf. Zwar
gibt es den Dramaturgen im deutschen
Theater schon seit Lessings Zeiten – Gott-
hold Ephraim Lessing hat den Beruf beim
Schreiben seiner „Hamburgischen Drama-
turgie“ zwischen 1767 und 1769 nicht nur
erfunden, sondern am Hamburger Natio-
naltheater auch selber ausgeübt –, aber
erst mit der Herausbildung des Regiethea-
ters im 20. Jahrhundert bekam das Be-
rufsbild dieses literarisch-künstlerischen
Aufführungsbegleiters eine Kontur.
Es sind die besonderen Strukturen des
deutschen Ensemble- und Repertoirethea-
ters, die diesen Beruf begünstigen und, ja:
erfordern. Die Dramaturgieabteilungen
wurden in den letzten Jahren eher größer,
ihre Aufgaben in einer vielfältigen Stadtge-
sellschaft mehr. Man sollte sich die in der
Dramaturgie Beschäftigten – viele sind
Frauen – nicht als graue Stubenmäuse vor-
stellen, die immer nur lesen statt leben, so
das klassische Klischee. Ohne Vernetzung,
Internationalität, diskursive Formate geht
da heute gar nichts mehr.
Jens Hillje sieht den Dramaturgen auch
als „Gatekeeper“ und diesen in der Pflicht,
ein Auge für das Eigensinnige, Besondere,
Andere zu haben. Auch für „die anderen“.
Ein diverses, humanistisches, universales
Theater ist für ihn unabdingbar, das mach-
te er in Venedig auch in seiner Dankesrede
klar. Hillje hat in dieser Hinsicht im deut-
schen Stadttheater einige Pionierarbeit ge-

leistet. Schon das Stück „Verrücktes Blut“,
das er 2010 mit Nurkan Erpulat für das Ball-
haus Naunynstraße schrieb, eröffnete dem
Theater eine neue Sichtweise und ein neu-
es Publikum. Eine Lehrerin bläut darin ih-
ren migrantischen Problemkids Schiller
mit vorgehaltener Waffe ein. Ein Knaller.

Am Gorki-Theater, wo Hillje seit der
Spielzeit 2013/14 Shermin Langhoffs Spar-
ringspartner ist, sind Diversität und Inter-
kulturalität ohnehin Programm. Fast alle
im Ensemble haben einen Migrationshin-
tergrund, die Stücke einen politisch-gesell-
schaftlichen Bezug. Hillje arbeitet mit Yael
Ronen, Falk Richter, Sibylle Berg. Es gibt
auch ein Exil-Ensemble, das geflüchtete
Schauspieler versammelt. Heiner Müllers
postdramatische „Hamletmaschine“, die
Sebastian Nübling 2018 mit den Exilanten
erarbeitet hat, war in Venedig als Gastspiel
zu sehen, eine grellböse, kriegsalbtraum-
hafte Horrorclown-Nummer.
Hillje, Jahrgang 1968, weiß aus eigener
Erfahrung, was es bedeutet, fremd zu sein.
Die ersten Jahre seines Lebens wuchs er in
Italien auf, als „Auslandsdeutscher“ in Mai-
land. Einzelkind. Die Eltern waren Flücht-
linge aus der DDR, arbeiteten bei Carl Zeiss
Italien. Es war die umgekehrte Gastarbei-
tersituation. 1974 zogen sie zurück nach
Deutschland, erst in den Münchner Nor-
den, dann in die Nähe von Landshut.
Hillje, der optisch sofort als Italiener
durchgehen könnte, wurde als Jugendli-

cher somit in Niederbayern sozialisiert,
auch wenn man ihm das nicht anhört. Er
ging auf dasselbe Gymnasium wie Thomas
Ostermeier und erfuhr seine Theaterprä-
gung im Wirtshaus, wo er selber auftrat
und schon im Alter von 15 Arthur Millers
„Hexenjagd“ mit dem niederbayerischen
Brauch des „Haberfeldtreibens“ kombi-
nierte. Martin Sperr, Herbert Achtern-
busch, Josef Bierbichler waren Helden. Hill-
je lernte den bayerischen Anarcho-Geist,
diese Art von Widerständigkeit. Lernte
aber auch, was es bedeutet, schwul zu sein
in der CSU-Provinz. Sein Coming-out hat-
te er mit 19. Die Angst, ausgeschlossen zu
werden, gehörte immer dazu.
Studiert hat er erst in Italien, in Perugia,
danach am Institut für Angewandte Thea-
terwissenschaft in Hildesheim. Und dann
kamen auch schon die Neunzigerjahre in
Berlin, „diese tolle Zeit voller Umbrüche“.
Dramaturg zu werden, war learning by do-
ing. Am Deutschen Theater war der große
alte Dieter Sturm Hilljes Mentor. Studien-
gänge für Dramaturgie, wie heute in Mün-
chen oder Leipzig, gab es noch nicht.
In Master Classes und Workshops unter-
richtet Hillje diesen seltsamen Beruf jetzt
selber. Gibt Erfahrungen weiter. Viele Dra-
maturgen übernehmen irgendwann ein
Haus. Frank Baumbauer, Ulrich Khuon,
Matthias Lilienthal, Joachim Lux, Oliver
Reese, Sonja Anders, Andreas Beck, es gibt
zahlreiche Beispiele. Auch Hillje könnte
sich vorstellen, ein Theater zu leiten, er
sagt „zu gründen“. Allerdings würde er das
nicht alleine machen wollen. Er ist jemand,
der im Theater auf das Kollektiv schwört,
auf das Glücksrezept der „chosen family“.
Er nennt es „Arbeitsglück“.

In zwei Handkoffern haben der Direktor
der israelischen Nationalbibliothek, Oren
Weinberg, und der Archivar Stefan Litt vor
zwei Wochen die wertvolle Fracht aus der
Schweiz nach Israel gebracht: 60 beige Flü-
gelmappen mit Tausenden Seiten. Der
Nachlass von Max Brod. Darin befinden
sich Handschriften des Schriftstellers
Franz Kafka und überraschenderweise
auch Zeichnungen. Litt, der aus Deutsch-
land stammt, war auch beim Öffnen der
Safes in der UBS-Bank in der Schweiz da-
bei. „Berührend“ sei es gewesen, Kafkas
Schrift wiederzuerkennen, so Litt am Mitt-
woch bei der Präsentation der Dokumente
in Jerusalem.
Es war Brod selbst, der die Hinterlassen-
schaft Kafkas in die Schweiz gebracht hat-
te – „aus Sicherheitsgründen“, wie Litt ver-
mutet. Es ist Brod zu verdanken, dass Kaf-
kas Schriften überhaupt erhalten geblie-
ben sind. Denn er ignorierte dessen testa-
mentarisch verfügten Wunsch, seinen ge-
samten Nachlass zu verbrennen. Kafka
wurde durch ihn posthum berühmt.
Überraschend ist, dass sich unter den Pa-
pieren bisher nicht bekannte Zeichnungen
Kafkas befinden. Mit klaren Strichen hatte
er Personen skizziert. „Manchmal kann
man den Menschen in Bildern mehr entde-
cken als in Texten“, meint Litt. Die Zeich-
nungen mit Tinte und Bleistift müssen
nach 1920 entstanden sein, denn sie enthal-
ten hebräische Schriftzeichen. Sieben Jah-
re vor seinem Tod hatte Kafka begonnen,
Hebräisch zu lernen. Vermutlich seinem
Freund Brod zuliebe, der ein glühender Zio-
nist war. Auch ein Vokabelheft und eine au-
tobiografische Skizze Kafkas lagerten
noch im Schweizer Safe.

Litts Einschätzung nach handelt es sich
um den „wertvollsten Teil“ des Brod-Nach-
lasses. Bereits bekannt war, dass sich in
der Schweiz drei Versionen von Kafkas Er-
zählung „Hochzeitsvorbereitungen auf
dem Lande“befanden. Die erste hatte er
noch in Kurrent geschrieben. In dem Nach-
lass befinden sich auch Briefe und Postkar-
ten, die Kafka mit zittriger Schrift noch
kurz vor seinem Tod 1924 aus dem Sanato-
rium im österreichischen Kierling an Brod
geschickt hat.

Brod, 1968 in Tel Aviv gestorben, hatte
seiner Sekretärin Ilse Ester Hoffe zu Lebzei-
ten die bei ihm verbliebenen Kafka-Hand-
schriften geschenkt. Hoffe begann in den
Siebzigerjahren, Teile zum Verkauf anzu-
bieten: zuerst Kafkas Briefe an Brod, dann
Manuskripte. Das „Prozess“-Manuskript
ersteigerte das Deutsche Literaturarchiv
in Marbach 1988 für 3,5 Millionen Mark.
Die juristische Auseinandersetzung um
den Nachlass begann 2008, als Ilse Ester
Hoffe im Alter von 101 Jahren starb. Die is-
raelische Nationalbibliothek focht ihr Tes-
tament an, in dem sie ihre Töchter Eva Hof-
fe und Ruth Wiesler als Erbinnen einge-
setzt hatte. Die Nationalbibliothek argu-
mentierte, Hoffe habe das Testament
Brods missachtet. Das Oberste Gericht in
Israel und ein Schweizer Gericht legten das
Testament zu Gunsten der Nationalbiblio-
thek aus. Denn Brod hatte verfügt, dass
Hoffe den Nachlass einer Bibliothek in Isra-
el übergeben soll. Litt ist „erleichtert, dass
der juristische Prozess nach elf Jahren ab-
geschlossen ist“. Er zeigte auch einige Do-
kumente, die im Mai in Berlin vom Bundes-
kriminalamt Vertretern der israelischen
Nationalbibliothek übergeben wurden.
5000 Seiten aus Brods Privatarchiv, das
fast ausschließlich aus seinen Schriften be-
stand, waren nach einem Diebstahl vor
zehn Jahren in Berlin gefunden worden.
„Möglichst bald“, so Litt, sollen die nun
in Jerusalem lagernden Schriften Kafkas
digitalisiert und damit der Öffentlichkeit
zugänglich gemacht werden. In Jerusalem
und in Marbach befindet sich ein Teil von
Kafkas Nachlass, der Großteil ist laut Litt
in Oxford in der Bodleian Library.
alexandra föderl-schmid

Auch wenn er sein spektakuläres Debüt
mit ChopinsKlavierkonzerten gab, so spiel-
te die Musik Ludwig van Beethovens für Ev-
geny Kissin immer eine wichtige Rolle. Für
sein Klavier-Rezital bei den Salzburger
Festspielen legte er nun ein reines Beetho-
ven-Programm auf, das vielleicht auch
dem kommenden Jubiläumsjahr geschul-
det ist. Beethovens 32 Klaviersonaten sind
nach wie vor das größte pianistische Ver-
mächtnis, die Herausforderungen seit ih-
rer Entstehungszeit kaum schwächer ge-
worden, auch wenn es keine „unspielba-
ren“ Beethoven-Sonaten mehr gibt. Für
Kissin gab es die nie; bevor Daniil Trifonov
auf den Plan trat, war er der vielleicht beste
Techniker.
Auch an diesem Abend im Großen Fest-
spielhaus sah und hörte man fasziniert,
wie leicht Kissin alles von der Hand zu ge-
hen scheint. Erst später schleichen sich
kleine Ungenauigkeiten ein, vor allem eine
etwas nachlässige Phrasierung. Wo früher
scharf konturiertes Profil für Charakter
und Kontraste sorgte, erscheint manches
nun aufgeweicht, mit einem unentschlos-
senen Portato abgetan. Schon in der Pathé-
tique vermied Kissin die eindeutige Aussa-
ge, hielt auf Kosten der Detailspannung
klangliche Schwebezustände aufrecht. Die-
ses Spiel mit ineinander fließenden Stim-
mungen und Färbungen fand im Adagio ei-
nen ersten Höhepunkt. Dennoch blieb Kis-
sin auch hier außergewöhnlich spröde, na-
hezu abstrakt-objektiv, das ist neu. Er ver-
zichtete beinahe ganz auf das Pedal, ging je-
der gefühligen Klangopulenz aus dem
Weg, forcierte auch hier, was er besser als
andere beherrscht, das unverhetzt Stür-
mende, Drängende.


Auch in den „Eroica-Variationen“ spiel-
te Kissin mit Dynamik, Akzentuierung, Far-
be, eigentlich allen musikalischen Parame-
tern – was der Musik in jedem Moment zu
plastischer, raumgreifender Gestalt ver-
hilft. Kissin entwickelt Spannungen und
Bezüge unmittelbar aus der Musik heraus,
aus dem eigenen Hören. Es gibt kein Kon-
zept, das übergestülpt wird. Trotzdem
geht es darum, einen neuen Blick auf das
Bekannte zu ermöglichen. Der Komponist
steht ihm dabei nicht im Weg, sondern
bleibt künstlerisch-spirituelles Zentrum.
Das mag Kissin auf den ersten Blick von
anderen unterscheiden. Von Ivo Pogore-
lich, der mit seinen jüngsten Aufnahmen
noch einmal seinen Standpunkt klar ge-
macht hat, dass man Beethoven vor allem
als Revolutionär begreifen muss. Oder von
Igor Levit – er spielte zwei Tage zuvor im
Haus für Mozart –, der sich in einer Art ma-

nieristisch aufgeladener Abstraktion mit
extremen Kunstpausen von der musikali-
schen Erzählung distanziert, den melodi-
schen Fluss und die rhythmisch-harmoni-
schen Gebundenheit demontiert, um neu-
en Raum zu schaffen, um sich selbst zu be-
haupten und gleichzeitig Künstler und
Werk ein bisschen auseinander zu ziehen.
Oder von Daniil Trifonov, der Beethoven
unter Hochspannung setzt, um dessen exis-
tenzialistischen Furor auszustellen.

Kissin bleibt da etwas im Unklaren, er-
freut sich und den Hörer mit spieltechni-
scher Brillanz – der gnomenhaft ratternde
Beginn der „Waldstein-Sonate“ gab dafür
ein hinreißendes Beispiel – und den dar-
aus sich ergebenden musikalischen Mög-
lichkeiten. Die lebte er in den „Eroica-Varia-
tionen“ aus – da war vom schlicht Liedhaf-
ten über die komplex-kontrapunktische
Totale bis hin zum orgelnden Getöse alles
dabei. Aber, anders als Levit, öffnet sich
Kissin nie ganz dem Publikum, vielleicht
nicht einmal sich selber. Er scheint gerade-
zu Angst davor zu haben, sich interessant
zu machen, sich zwischen Werk und Publi-
kum zu stellen. Da ist er konservativ, da
glaubt er, alles, was zu sagen ist und wie es
zu sagen ist, aus der Komposition selber
herausholen zu können. Levit und Kissin –
das sind zwei ziemlich konträre Herange-
hensweisen, die aber beide wesentliche As-
pekte des Beethoven’schen Komponierens
beleuchten können. helmut mauró

Die


Denkmaschine


Was tut ein Dramaturg? Jens Hillje ist einer, ein guter.


In Venedig bekam er dafür einen Goldenen Löwen


Als 15-Jähriger spielte er
Millers „Hexenjagd“ in einem
niederbayerischen Wirtshaus

Er scheint geradezu Angst
davor zu haben, sich zwischen
Werk und Publikum zu stellen

Einige der Skizzen Franz Kafkas, die in
der israelischen Nationalbibliothek vorge-
stellt wurden. FOTO: MENAHEM KAHANA / DPA

Den Menschen entdecken


MaxBrods Nachlass mit Werken Franz Kafkas ist in Israel angekommen


Die Bilder erzählen, dass die Stadt
schon vor der Migrationswelle
eine breite Unterschicht hatte

Heiner Müller lugt


immer noch auf den Flyern


wie ein Gespenst aus einem Gully


Dramaturgen gibt es
im deutschen Theater
schon seit Lessings Zeiten

Evgeny Kissin spielt Beethoven – ohne
sich wichtig zu machen. FOTO: MARCO BORRELLI

Stürmend, drängend, pur


Evgeny Kissins Beethoven-Konzert bei den Salzburger Festspielen


SCHAUPLATZ ISTANBUL


Ein Engel


ausKüchenkaro


Die Türkin Sabire Susuz
schuf die textile Skulptur eines
Riesenhais aus Kleideretiketten

Jens Hillje, Co-Leiter des Berliner Maxim-Gorki-Theaters, beschwört das Glück der „chosen family“. FOTO: ESRA ROTTHOFF

DEFGH Nr. 182, Donnerstag, 8. August 2019 (^) FEUILLETON HMG 11

Free download pdf