Süddeutsche Zeitung - 08.08.2019

(Darren Dugan) #1

S


chon der Name verrät ihn:
Idrizović. Der Vater stammte aus
Montenegro, mit vierzehn vom
Feld geholt in die Wehrmacht, im
Krieg schwer verwundet, der Fuß
kaputt, der Mann fast ganz taub. Die Über-
lebenden wurden 1945 kontingentiert, die
Bosnier kamen nach München, die Monte-
negriner nach Augsburg. Das Verhältnis
Frauen und Männer war günstig in
Deutschland, zwei zu eins, und so kam der
kriegsversehrte Idrizović zu einer deut-
schen Frau und bald zum Sohn, der heute
die Buchhandlung am Obstmarkt führt,
aber noch viel bekannter ist als bunter
Hund der Augsburger Kulturszene.
Vater Moslem, kaum ein Wort Deutsch,
doch der Kalte Krieg machte ihm die Rück-
kehr nach Jugoslawien unmöglich. Die
Mutter immerhin protestantisch, trotz-
dem, was soll aus dem Buben bloß werden?
Drei Türen weiter von seiner Buchhand-
lung sitzt Idrizović im Café und erzählt in
breitestem Augschburgerisch einen zeitge-
nössischen Bildungsroman: sein Leben.
1952 in der Vorstadt Lechhausen gebo-
ren, aufgewachsen unter Kriegsheimkeh-
rern und Traumatisierten, alles Arbeiter.
Mit zehn Jahren wurde er den Verwandten
des Vaters vorgeführt. Er erinnert sich an
die lange Fahrt im Bus, noch ein Bus, die
Weiterreise über Land auf dem Esel und
wie schmutzig alles war. Wie die Großmut-
ter in Pumphosen auf dem Boden saß, fil-
terlose Zigaretten rauchte und die ganze
Familie kommandierte. Wie er gehätschelt
und von Arm zu Arm gereicht wurde, sich
trotzdem verloren fühlte und namenlos
fremd. Nichts verstand er, kein Wort von
dem, was die da durcheinanderredeten.
Aber wenn er die klagende Musik hört,
die schwermütigen Gesänge, wird er senti-
mental und redet wie ein Heimatvertriebe-
ner: „Meine Seele ist in Montenegro.“
Kurt Idrizović gehört zu jener Hälfte
Augsburger, die über einen Migrationshin-
tergrund verfügen, Tendenz steigend. In
Kindergärten und Grundschulen hat der
Anteil bereits die Fünfzig-Prozent-Marke
überstiegen. Die Zahl wird stolz herumge-
reicht, als wäre sie ein Ausweis wirtschaftli-
chen Erfolgs, der in Augsburg seit dem En-
de des Industriezeitalters stark nachgelas-
sen hat. Die Textilindustrie ist verschwun-
den, die Amerikaner, die seit Kriegsende
hier waren, sind auch fort. Die Arbeitslosig-
keit liegt über dem bayerischen Durch-
schnitt. Augsburg ist trotzdem Wachstums-
stadt: Weil im vom Geld versauten Mün-
chen nichts mehr zu haben ist, wird beim
Nachbarn zugegriffen. Die Mieten steigen,
die Immobilienpreise sind grotesk.


Für Freunde handelsüblicher Verschwö-
rungstheorien ist eine gigantische „Umvol-
kung“ im Gang. „Biodeutsche“ verschwin-
den aus dem Stadtbild. Ausländer, einer
dunkelhäutiger und gefährlicher als der an-
dere, begehen durch ihre Fortpflanzungs-
freude den „Ethnozid am deutschen Volk“.
Das deutsche Volk, jedenfalls in der
schwäbischen Varietät, lebt aber erstaun-
lich gut mit diesem Ethnozid. Am Manzù-
Brunnen auf dem Königsplatz, gewidmet,
wie die Inschrift besagt, der Jugend Augs-


burgs, „in deren Händen die Gegenwart
und die Zukunft dieser Stadt mit großer
Tradition liegt“, müssten die Anhänger des
Reinrassigen verzweifeln. Die Tradition
wird an diesem lauen Sommerabend mit
Füßen getreten, die kleinen Kinder – kein
einziges blond – platschen fröhlich durch
das flache Bassin, von undeutsch gekleide-
ten Müttern und Großmüttern selbst dann
noch mit Wohlgefallen betrachtet, wenn
sie sich in den guten Sachen ins Wasser fal-
len lassen. Die gefürchtete Multikultige-
sellschaft ist in Augsburg vollendet.
An diesem Donnerstag begehen die
Augsburger einen hundertprozentig augs-
burgischen Feiertag. So weit sie ihn nicht
nutzen, um in den Nachbargemeinden ein-
zukaufen, sind die Bürger der ehemals Frei-
en Reichsstadt damit beschäftigt, sich und
ihre Geschichte hochleben zu lassen. 1650,
kurz nach dem Ende des Dreißigjährigen
Krieges, wurde das Hohe Friedensfest ein-
geführt, um endlich eine Verständigung
zwischen Katholiken und Protestanten zu
erreichen oder wenigstens, dass sie sich
nicht mehr die Köpfe einschlugen.
Oberbürgermeister Kurt Gribl von der
CSU wird wie jedes Jahr auf dem Rathaus-
platz drei Stockwerke unter seinen Amts-
räumen die Friedenstafel eröffnen, bei der
sich die Bürger, teilweise in historischen
Kostümen, zusammensetzen und ein gro-
ßes Picknick veranstalten. Vertreter der
Religionsgemeinschaften werden Frie-
densbotschaften verlesen, es steigt eine
Stadtparty. Noch vor wenigen Tagen prang-
te an der Fassade die Inschrift „Augsburg
ist Welterbe“. Zwar nicht für ihre Friedens-
aktivitäten hat die Unesco der Stadt die
Auszeichnung verliehen, aber immerhin
für die historische Wasserwirtschaft.
Gribl weiß, in welcher Tradition er
steht: „Mit Blick auf ihre Geschichte ist es
Auftrag der Stadt Augsburg, den Gedan-
ken des Religionsfriedens auf die jeweils
aktuelle Lebenswirklichkeit zu übertra-
gen.“ Teil dieser Lebenswirklichkeit war
2018 sein Auftritt bei einer Demonstration
gegen den in Augsburg stattfindenden Par-
teitag der AfD, wo er Augsburg als weltoffe-
ne Stadt preisen konnte. Aus dem Antifa-
Block flogen Tomaten gegen den CSU-Poli-
tiker, und Gribl redete einfach weiter.
Die üblichen Verdächtigen konnten ihre
Schadenfreude kaum verbergen. Bei die-
sem „Multikulti-Bürgermeister“, der sich
nicht scheut, „mit linksgrünen Hypermora-
listen zu paktieren“, musste das ja so kom-
men. Gribls Parteifreund Hans-Peter
Friedrich, innerhalb seiner eigenen Partei
kaum als hellste Lampe im Lampenladen
und schon gar nicht für Subtilität bekannt,
twitterte ihm sogleich im vertrauten AfD-
Sound hinterher: „Wie konnte er glauben,
dass die #Linksfaschisten Demokraten
sind?“ Gribl nahm’s souverän: „Natürlich
ist das nicht schön, wenn von diesen Leu-
ten Tomaten und Plastikflaschen fliegen.

Aber wenn man da das Feld räumt, dann
braucht man keine Veranstaltung mehr
durchzuführen und keinen gemeinsamen
Nenner mehr zu suchen.“
Augsburg war eine Einwandererstadt,
seit die Römer hier vor zweitausend Jahren
ein Feldlager errichteten und Kultur ins
dunkle Germanien brachten. 1367 taucht
im Augsburger Steuerbuch unter „Fucker
advenit“ der Neubürger Hans Fugger auf,
zugezogen aus Graben weiter oben auf
dem Lechfeld. Der Kleinunternehmer be-
trieb Webstühle, heiratete sich hoch, wur-
de Weberzunftmeister, vermehrte sein
Kapital, erwarb Häuser in der Stadt und
draußen Liegenschaften. Von der reinen
Produktion verabschiedeten sich seine
Nachfahren bald: Jakob Fugger, der nicht
zufällig den Beinamen „der Reiche“ trug,
wird ein Handelshaus betreiben, das mit
seinen Kapitalgeschäften die Politik in
ganz Europa beeinflussen kann. Vom Kai-
ser abwärts kam einst die Welt nach Augs-
burg. Heute, von der Weltpolitik abge-
hängt und geduckt hinter München, bildet
es für die Weltreisenden aus Japan und Me-
xiko eine touristische Attraktion, größer
als Heidelberg und Neuschwanstein.
Genau genommen war auch der Drama-
tiker Bertolt Brecht, auf den sie heute so
stolz sind, nichts Besseres als der Sohn
eines aufgestiegenen Arbeitsmigranten.
„Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen
Wäldern“, tönte der „arme B. B.“ jugendlich-
großspurig. „Meine Mutter trug mich in
die Städte hinein/ Als ich in ihrem Leib lag.
Und die Kälte der Wälder / Wird in mir bis
zu meinem Absterben sein.“ Bereits in den
Fünfzigern machten die Zuwanderer, da-
mals als Flüchtlinge aus dem Osten be-
kannt, ein Viertel der Bevölkerung aus.
Größere Sorgen als die Zuwanderung be-
reitet Augsburg die Abwanderung der In-
dustrie, der Verfall des Gignoux-Hauses,
in dem die Kammerspiele untergebracht
waren, und der Umbau des historischen
Bahnhofs, der sich länger hinzieht als der
in Stuttgart. Was macht Augsburg besser
als Duisburg, Herr Bürgermeister, wo sie
sich in Marxloh doch nicht mehr zu helfen
wissen? Zum Vergleich mit anderen Städ-
ten will Gribl nichts sagen, aber „ich bin
mir sicher, dass wir mehr Probleme mit
der Einwanderung hätten, wenn unsere
Friedensarbeit nicht stattfinden würde“.
Ein Runder Tisch der Religionen trifft
sich regelmäßig, einer von mindestens
zwanzig, die um das Rathaus organisiert
sind. Es gibt einen Integrationsbeirat, der,
komplett sinnlos zwar, aber als symboli-
sche Geste, einen „Weltpass“ herausgibt
für eine utopische Welt ohne Grenzen, und
natürlich gab es 2015, als die Grenzen ge-
gen die Flüchtlinge aus Syrien nicht ge-
schlossen wurden, auch in Augsburg eine
Welle der Hilfsbereitschaft. Die meisten Ki-
tas kommen längst ohne Schweinefleisch
aus,Bildhat es nur noch nicht gemerkt.

„Es muss ja nicht immer gleich die Welt
verbessert werden“, meint Christiane Lem-
bert-Dobler, die als Leiterin des Friedens-
büros an der Verbesserung wenigstens der
Augsburger Welt arbeitet. Sie ist von Haus
aus Ethnologin, hat aber zu ihrem immer-
währenden Kummer die Doktorarbeit ab-
gebrochen, Thema: „Assyrer in Augsburg.
Lebensverhältnisse syrisch-orthodoxer
Christen aus der Türkei“.
Assyrer gibt es hier tatsächlich, „für die
ist Augsburg die Heimat“. Frau Lembert-
Dobler hat sich damals mit den Familien so
gut angefreundet, dass sie noch immer die
Enttäuschung zu spüren bekommt, weil
„unser Buch“ nie fertig geworden ist. Eini-
ge der Kinder, die sie einst im Arm gewiegt
hat, studieren inzwischen, und vielleicht
schreibt die eine oder der andere die aus-
stehende wissenschaftliche Arbeit selber.

Die Straßenbahn rumpelt über den Mo-
ritzplatz, die Tische vor den sechs Cafés
und Pizzerien sind jetzt zur Mittagszeit alle
besetzt, der Sonne bleibt nichts übrig, als
zu lachen, wie sollte es Probleme geben?
Die gibt es natürlich. Die unterschiedli-
chen Communitys halten zusammen und
suchen gar nicht den Kontakt zu anderen.
Trotzdem muss es versucht werden. Einen
großen Schritt wagte das Holbein-Gymna-
sium zum Beginn des Schuljahrs 1978/79:
Eine ausschließlich türkische Klasse wur-
de zunächst auf Türkisch unterrichtet,
Deutsch war die erste Fremdsprache. In
der Meinung, die sogenannten Gastarbei-
ter würden eines Tages nach Griechen-
land, Jugoslawien und in die Türkei zurück-
kehren, sollte Deutschland auf keinen Fall
Einwanderungsland werden. Der damali-
ge bayerische Kultusminister Hans Maier
wollte die Schüler deshalb nicht „zwangs-
weise eindeutschen“. Bereits im ersten Jah-
resbericht ist die Rede von den Schwierig-
keiten, die die Kinder nicht bloß in der
Schule, sondern auch zu Hause erleben,
weil sie „ganz auf sich allein gestellt sind“.
Den Eltern fehlte die Zeit und vor allem die
Vorbildung, um bei den Hausaufgaben zu
helfen. Sie wollten ihre Kinder nicht aus
dem Familienverband gerissen haben, wes-
halb diese sich kaum mit den deutschen
Mitschülern befreunden konnten. Dieses
Experiment musste aufgegeben werden.
Von 1992 an wurden Schüler mit Migrati-
onshintergrund, soweit sie sich durchge-
kämpft hatten, in die allgemeinen Klassen
aufgenommen. Aber, darauf ist der lang-
jährige Schulleiter Herbert Schuhknecht
besonders stolz, „wir haben in dreißig Jah-
ren von den Türken kein einziges Mal mit
einem Rechtsanwalt zu tun bekommen“.

Idrizović spricht von einer „speziellen
Gemengelage“ Augsburgs, zu der die Ange-
hörigen von 150 Nationen gehören. Nach
den Gastarbeitern kamen die Bürger-
kriegsflüchtlinge aus Jugoslawien und die
Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjet-
union. Die meisten haben sich im Univier-
tel angesiedelt, wo sie allenfalls durch ihre
übergroße Anpassungsbereitschaft an die
Eingeborenen auffallen.
Zweihundert Russlanddeutsche versam-
melten sich Anfang 2016 auf dem Rathaus-
platz, also dort, wo das Friedensfest gefei-
ert wird, aber auch gelegentlich Sand für
Beachvolleyball-Meisterschaften aufge-
schüttet wird. Die Neubürger demonstrier-
ten gegen die Flüchtlingspolitik der Regie-
rung Merkel. Anlass war die von russischen
Trollen erfundene und politisch benutzte
Vergewaltigung einer Berliner 13-jährigen
Russlanddeutschen durch muslimische
Flüchtlinge, eine Falschmeldung, die von
russischen Medien begeistert aufgegriffen
wurde. Einer der Augsburger Russen mein-
te, in Putins Russland gehe es „derzeit de-
mokratischer zu“ als in Deutschland.
Auch der Vater von Kurt Idrizović blieb
lebenslang in seiner Welt. Dem Sohn ist
vor allem das Weinen in Erinnerung geblie-
ben, das Weinen um die verlorene Heimat.
Man traf sich am Bahnhof, wo es die Zeitun-
gen gab von daheim, man trauerte gemein-
sam um Jugoslawien. Idrizović erzählt die
Biografie seines Vaters als Teil seiner eige-
nen Erfolgsgeschichte, denn er hat sich
weit davon entfernt. Für ihn war nichts Bes-
seres als Volksschule und Lehre vorgese-
hen, aber er wollte raus. Er holte die Schule
und das Abitur nach, studierte, brach ab
und wurde Buchhändler. „Meinen Auf-
stieg verdanke ich Willy Brandt und dem
Bafög. Sonst wäre es nicht gegangen.“
In einem Akt der Hyperanpassung ist
Kurt Idrizović zum Brecht-Experten in der
Brecht-Stadt Augsburg geworden. Er gibt
das „Dreigroschenheft“ heraus und ist
auch sonst nie um ein Brecht-Zitat verle-
gen. An der Kahnfahrt, dem Augsburger
Hotspot für Verliebte, hat er den Wasser-
turm restauriert, pfeilgrad gegenüber dem
Haus, in dem Brecht aufgewachsen ist,
Augschburgischer geht es kaum.
Oder italienischer als in der Maximilian-
straße. Hier zeigte sich die Stadt vor allem
nachts so feiersüchtig, als läge sie nicht
knapp nördlich, sondern südlich der Al-
pen. 1930 hat sich hier Giovanni Sommacal
mit seinem Eiscafé niedergelassen und
den deutschen Geschmack verfeinert. Heu-
te ist „der Hasan“ der beliebteste Auslän-
der. Der Hasan heißt mit Nachnamen Te-
kin, ist 57 und einer der erfolgreichsten Un-
ternehmer der Stadt. Er betreibt seine Ge-
schäfte vornehmlich im Dunkeln, wird
meist um Mitternacht angelaufen, wenn
der kleine Hunger kommt oder der Weiß-
bierdurst um zwei Uhr früh noch immer
nicht gestillt ist. Die Diskotheken und Bars

an der Maximilianstraße sind so teuer wie
in München, aber beim Hasan gibt es reelle
Döner bis fünf Uhr früh.
Hasan hat keine Zeit, zu wenig Personal,
zu viel Kundschaft. Gut, zehn Minuten gibt
er her. Seine Eltern kamen 1970 als Gast-
arbeiter aus Anatolien. Er blieb mit seinen
vier Geschwistern zunächst bei den Ver-
wandten. Er bezeichnet sich als Atheist,
und das sei ihm in der Türkei nicht gut be-
kommen, als er es wagte, im Ramadan Cola
zu trinken. Strenggläubige zückten das
Messer gegen ihn. Die Eltern sagten:
„Kommst du Deutschland.“ Hasan ging
nach Deutschland, arbeitete wie seine Mut-
ter in der Ballonfabrik, dann in einem eige-
nen Pizzaladen an der Uni, er redet noch im-
mer in diesem Stummeldeutsch: „Tee,
trinkst du?“ 1995 eröffnete er an der Augs-
burger Prachtstraße seinen Dönerladen,
das Arkadaş. Der Name sei mit Bedacht ge-
wählt, sagt er, es bedeutet „Freund“.
Hasan ist mit jedem gut Freund, er
grüßt jeden Zweiten, der vorbeikommt,
springt auf, schüttelt Hände, bespricht
sich mit seinem Sohn, der mitarbeitet.
Sechzehn Stunden arbeitet er so, an den
Wochenenden mehr. Dann cruisen die jun-
gen Männer aus Aichach und Dillingen in
übertourigen Autos zwischen den histori-
schen Fassaden, umrunden den Herkules-
brunnen von Adriaen de Vries und fallen
dann beim Hasan ein. Das ist die beste Ge-
genwart und die Zukunft dieser Stadt mit
großer Tradition.
So sehr er schimpft über die kulturelle
Trägheit der Stadt, muss Kurt Idrizović
doch zugeben: „Wir haben in Augsburg
noch ein funktionierendes Nebeneinan-
der.“ Allerdings müsse man sich Gedanken
machen, wie man die Stadt zusammen-
hält. Er kann stolz darauf verweisen, dass
er einem jungen Türken bis zum Studium
geholfen hat, der es inzwischen selber zum
Lehrer gebracht hat. „Er hat mir“ – und bei
Idrizović muss es unweigerlich Brecht sein


  • „die Weisheit entrissen.“


Wenn er heute seine Freunde von der
SPD damit ärgert, dass er sich gegen die teu-
re Renovierung des Theaters wendet, aber
gegen das Kulturestablishment mehr als
15000 Unterschriften für eine richtige
Stadtbücherei zusammentrommelt, dass
die dann endlich auch gebaut wird, hat das
auch mit seinem Herkunftsmilieu und sei-
ner Befreiung davon zu tun. „Dazu braucht
es Leidenschaft, und das ist mein Papa, das
ist der Balkan.“ Nicht nur Willy Brandt,
auch die ehemals sozialdemokratische
Stadt Augsburg hat ihm den Aufstieg aus
dem keineswegs selbstverschuldeten An-
alphabetismus seines Vaters ermöglicht
und ermöglicht ihm jetzt sein Kaffeehaus-
hocken, bei dem er sich auf einen idealen
wienerischen Balkan zurückträumen kann.
Ist das nun sentimental? Wieder könnte
Kurt Idrizović Brecht zitieren: „In der As-
phaltstadt bin ich daheim.“ Der türkische
Immigrant Hasan Tekin sagt es einfacher:
„Augsburg ist meine Heimat. Hier lebe ich,
hier sterbe ich, und hier werde ich begra-
ben.“ Dann muss er wieder an den Dreh-
spieß und Fleisch für den Döner schnei-
den. Die Friedensarbeit hört nicht auf.

Unter unserem Himmel


Augsburggilt gemeinhin als besonders beschaulich. Dass die Hälfte der Einwohner einen


Migrationshintergrund hat, ist vielen nicht klar. Vom Zusammenleben und Zusammenraufen


von willi winkler


DEFGH Nr. 182, Donnerstag, 8. August 2019 (^) DIE SEITE DREI 3
Augsburg war eine Einwandererstadt, seit die Römer hier vor zweitausend Jahren ein Feldlager errichteten und Kultur ins dunkle Germanien brachten. Kinder auf dem Hohen Friedensfest 2017. FOTO: KLAUS RAINER KRIEGER / IMAGO
„Kommst du Deutschland“, sagten
seine Eltern,heute ist er einer der
erfolgreichsten Unternehmer hier
Die Stadt „ist meine Heimat.
Hier lebe ich, hier sterbe ich,
und hier werde ich begraben.“
Die meisten Kitas kommen
längst ohne Schweinefleisch aus.
Keiner regt sich auf

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