Süddeutsche Zeitung - 08.08.2019

(Darren Dugan) #1

Z


ahlen lügen nicht, heißt es oft.
Was Unsinn ist. Aus dem Zusam-
menhang gerissen oder ohne
den richtigen Vergleichsmaß-
stab können Zahlen genauso lü-
gen wie Worte. Das hat vor wenigen Tagen
die CDU erlebt, als sie den großspurigen
Tweet in die Welt setzte: Deutschland
überholt Norwegen bei den E-Autos. Was
prompt einen Shitstorm im Netz auslöste,
und zwar völlig zu Recht. Denn auch dem
mathematisch Unbedarften ist klar, dass
es Unfug ist, die Zahl der Elektroautos ei-
nes Landes mit 82 Millionen Einwohnern
mit der Zahl eines Landes zu vergleichen,
das nur fünf Millionen Einwohner hat.
Es kommt auf den prozentualen Anteil
an. Und da sieht es für Deutschland trübe
aus. Denn während in Norwegen, dem füh-
renden Land Europas in Sachen Elektro-
mobilität, mehr als jedes zweite neu zuge-
lassene Fahrzeug ein Batterieauto oder
ein Plug-in-Hybrid (die Kombination aus
Verbrennungsmotor und Akku, der per
Stecker geladen wird) ist, hinkt Deutsch-
land hier weit hinterher. Laut einer Statis-
tik der Deutschen Automobiltreuhand wa-
ren Anfang des Jahres 47 Millionen Pkws
in Deutschland zugelassen. Lediglich et-
was mehr als 900 000 davon haben einen
alternativen Antrieb, wozu auch Fahrzeu-
ge mit Gas-Antrieb gerechnet werden.
Das sind weniger als zwei Prozent des Ge-
samtbestandes. Zwar dürfte die Neurege-
lung der Dienstwagenbesteuerung, die
E-Autos und Plug-in-Hybride begünstigt,
nun zu einem leichten Anstieg geführt ha-
ben, aber von einer Trendwende hin zur
Elektromobilität kann keine Rede sein.


Es zeigt sich zweierlei: Weder können
drohende Fahrverbote einen Bewusst-
seinswandel erzwingen, noch reichen Prä-
mienangebote allein aus, um Autokäufer
zum Umstieg zu bewegen. Der Dieselskan-
dal hat das Dieselland Deutschland und
damit die deutsche Autoindustrie zwar
härter getroffen als andere, aber die Leute
sind dann eben auf entsprechende Benzi-
ner ausgewichen. Für die Klimabilanz ist
das schlecht, denn wegen ihres höheren
Kraftstoffverbrauchs stoßen Benziner
mehr CO 2 aus als Diesel. Hier liegt auch
der Haken bei einer Hardware-Nachrüs-
tung für ältere Dieselmodelle, um damit
möglichen Fahrverboten zu entgehen. Sie
treibt den Spritverbrauch und damit den
CO 2 -Ausstoß nach oben. Man entschärft
also ein Problem und verschärft gleichzei-
tig das – größere – andere. Für die Zurück-
haltung der Autokäufer gibt es mehrere


Gründe. Zum einen liegt es am Angebot.
Zwar kommen nach und nach immer
mehr E-Autos auf den Markt, aber die Mo-
dellpalette weist eine seltsame Schieflage
auf. Am unteren Ende, bei den Kleinwa-
gen, gibt es inzwischen eine durchaus ak-
zeptable Auswahl. Doch als Erstauto für
Familien sind diese Autos zu klein und als
Zweitwagen für die Stadt, wo sie den meis-
ten Sinn machen, sind sie zu teuer. Wer
kann schon so eben mal 30 000 Euro und
mehr für einen emissionsfreien Zweitwa-
gen ausgeben?
Am anderen Ende der Skala setzen vor
allem die deutschen Premiumhersteller
auf große, schwere und sündteure Autos,
um dem US-Konkurrenten Tesla Paroli zu
bieten. Was fehlt, ist eine breite – und be-
zahlbare – Elektrifizierung der Mittelklas-
se, die für die Mehrheit der Autokäufer re-
levant ist. Zwar haben die Koreaner ent-
sprechende Autos im Angebot, aber deren
Lieferzeiten sind so lang, dass sie auf der
Straße noch kaum zu sehen sind. Es wird
sich zeigen müssen, ob sich die Situation
ändert, wenn der neue VW ID, ein E-Auto
im Golfformat, endlich da ist und andere
Hersteller ihre Mittelklassemodelle auch
als Plug-in-Varianten anbieten.
Ein noch größeres Problem ist die nach
wie vor lückenhafte und undurchschauba-
re Ladeinfrastruktur. Sie gleicht einem Fli-
ckenteppich aus unterschiedlichen Anbie-
tern und Bezahlmodellen. Wer außerhalb
seines gewohnten Heimatbiotops unter-
wegs ist, sollte möglichst viele Ladekarten
dabei haben und darauf hoffen, dass eine
davon an der fremden Ladesäule akzep-
tiert wird. Es ist eines der größten Ver-
säumnisse der Politik, nicht längst ein ein-
heitliches, transparentes und kunden-
freundliches Ladesystem durchgesetzt zu-
haben. Bei Geldautomaten funktioniert
das in ganz Europa schließlich auch.
Das Zaudern der Politik bei der CO 2 -Be-
preisung trägt weiter zum diffusen Bild
bei. Solange unklar ist, ob und wie viel
man für was künftig mehr bezahlen muss,
machen die Leute das, was sie in ungewis-
ser Lage immer machen: Sie warten ab.
Nötig wäre angesichts der dramati-
schen Herausforderungen durch den Kli-
mawandel ein Verkehrsminister, der end-
lich ernst macht mit einem ökologischen
Umbau des gesamten Verkehrssystems.
Die Bausteine dafür sind alle bekannt, sie
müssen zu einem Gesamtkonzept zusam-
mengefügt werden und jedem muss dabei
klar sein: Das wird teuer werden. Doch der
derzeitige Amtsinhaber Andreas Scheuer
(CSU) hat seinen bisher größten Elan bei
der Zulassung von E-Scootern gezeigt.
Die sind ein Zeitgeist-Phänomen und ha-
ben nichts mit der Lösung urbaner Ver-
kehrsprobleme zu tun. Eher im Gegenteil,
wie die ersten Wochen zeigen.

ELEKTROAUTOS


Woran es hapert


von peter fahrenholz


Beto O’Rourke hatte sich vorgenommen,
nicht mehr zu fluchen. Jedenfalls öffent-
lich. Man kann „shit“ und „fuck“ sagen,
wenn man als Schüler Bass in einer Punk-
band spielt, wie O’Rourke es getan hat.
Vielleicht kommt man damit auch noch
durch, wenn man ein Hinterbänkler im
Kongress ist, der im Wahlkampf nur im te-
xanischen Busch herumfährt. Aber als
Kandidat für das Amt des Präsidenten der
Vereinigten Staaten? Da verzichtet man
doch lieber auf das S- und das F-Wort.
Aber dann kam der mörderische Sams-
tag in El Paso, an dem ein junger Mann
mit einem Sturmgewehr loszog, um Mexi-
kaner zu töten. Er wolle, so schrieb er in ei-
nem Manifest, Texas vor einer „Invasion“
von Migranten retten. Und seither tut sich
Beto O’Rourke keinen Zwang mehr an,
wenn er darüber redet, wen er als den geis-
tigen Anstifter dieses Attentats sieht: Do-
nald Trump, den Präsidenten, der dem
Volk täglich einredet, Amerika werde von
„Invasoren“ aus dem Süden überrannt.
„Ihr wisst doch alle, welche Scheiße er ge-
sagt hat“, blaffte O’Rourke vor einigen Ta-
gen, als er von Journalisten nach Trump
gefragt wurde. „Er hat mexikanische Ein-
wanderer Vergewaltiger und Verbrecher
genannt. Ich meine – what the fuck?“
Die Linie von Trumps verbaler Hetze
gegen Migranten zu den rassistisch moti-
vierten Schüssen in El Paso ziehen zwar
viele der fast zwei Dutzend Frauen und
Männer, die derzeit mit O’Rourke um die
demokratische Präsidentschaftskandida-
tur für kommendes Jahr wetteifern. Doch
keiner der Bewerber ist so erschüttert wie
O’Rourke, keiner geht Trump so scharf
und wütend an. Als bekannt wurde, dass
Trump an diesem Mittwoch zu einem Kon-
dolenzbesuch nach El Paso reisen werde,

machte O’Rourke sich zum Sprecher der
Stadt und teilte dem Präsidenten mit, er
solle bloß wegbleiben.
In gewisser Hinsicht ist diese Rolle an-
gemessen. Der 46 Jahre alte O’Rourke
stammt aus El Paso, er hat den größten
Teil seines Lebens dort verbracht – abge-
sehen von ein paar Wanderjahren in New
York –, seine Familie und die seiner Frau
sind seit Langem in der Stadt im Westen
von Texas ansässig. Von 2013 bis 2019 ver-
trat er den Wahlkreis, in dem El Paso liegt,
im US-Abgeordnetenhaus. Es waren also
seine Nachbarn und Wähler, die am Wo-
chenende ermordet wurden.

Vor nicht allzu langer Zeit galt O’Rour-
ke noch als Wunderkind der Demokraten.
Jung, lässig und emotional, ziemlich
links, dabei aber modern und nicht verbis-
sen oder streberisch; und dann auch noch
aus der texanischen Provinz und mit die-
sem coolen, spanisch klingenden Vorna-
men „Beto“ – ein echtes Talent also. Dass
O’Rourke auf den eher drögen, erziri-
schen Namen Robert Francis getauft wur-
de, erfuhren seine Anhänger nur, wenn
sie es bei Wikipedia nachschauten.
Bei der Kongresswahl 2018 versuchte
O’Rourke, dem republikanischen Senator
Ted Cruz das Amt wegzunehmen. Er ver-
lor – aber nur so knapp, dass er zu der Ein-
sicht gelangte, der zwingende nächste
Schritt sei nun die Präsidentschaftskandi-
datur. Das war wohl etwas überheblich,
bisher hat O’Rourke im Vorwahlkampf
der Demokraten jedenfalls keinen beson-
ders guten Eindruck gemacht. Als er zum
Beispiel bei einer Fernsehdebatte der Kan-
didaten plötzlich anfing, spanisch zu
sprechen, war das eher peinlich als über-
zeugend. „All hat, no cattle“, sagt man in
Texas über solche Leute, die die Erwartun-
gen nicht erfüllen: Er hat einen großen
Hut, aber keine Rinder.
Vielleicht ist ein Teil von O’Rourkes
Wutausbrüchen gegen Trump daher auch
kalkuliert. Vielleicht will er sich so end-
lich von den anderen Kandidaten abset-
zen und den Durchbruch schaffen. Die
Aufmerksamkeit des Präsidenten hat er
immerhin geweckt. O’Rourke solle „still
sein“, twitterte Trump am Vorabend sei-
nes Besuchs in El Paso. O’Rourke twitter-
te prompt zurück: Er nannte Trump einen
Rassisten, der Terroristen inspiriere. „El
Paso wird nicht still sein, und ich werde es
auch nicht sein.“ hubert wetzel

Hersteller und Politik sind dafür


verantwortlich, dass die


E-Mobilität kaum vorankommt


HERAUSGEGEBEN VOM SÜDDEUTSCHEN VERLAG
VERTRETEN DURCH DEN HERAUSGEBERRAT
CHEFREDAKTEURE:
Kurt Kister, Wolfgang Krach
MITGLIED DER CHEFREDAKTION, DIGITALES:
Julia Bönisch
NACHRICHTENCHEFS: Iris Mayer, Ulrich Schäfer
AUSSENPOLITIK:Stefan Kornelius
INNENPOLITIK:Ferdos Forudastan; Detlef Esslinger
SEITE DREI:Alexander Gorkow; Karin Steinberger
INVESTIGATIVE RECHERCHE:Bastian Obermayer,
Nicolas RichterKULTUR:Andrian Kreye, Sonja Zekri
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SPORT: Klaus Hoeltzenbein WISSEN: Dr.Patrick Illinger
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Katharina RiehlMEDIEN:Laura Hertreiter
REISE, MOBILITÄT, SONDERTHEMEN:Peter Fahrenholz
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René Hofmann; Sebastian Beck, Ingrid Fuchs,
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Zamdorfer Straße 40, 81677 München

von robert roßmann

C


arsten Linnemann hat in dieser Wo-
che nicht nur eine Debatte über
den Umgang mit Kindern ohne
Deutschkenntnisse angestoßen. Die Re-
aktionen auf seinen Vorschlag haben
auch offenbart, welche Umgangsformen
in Teilen der CDU inzwischen herrschen.
Es gibt gute Gründe gegen Linnemanns
Vorschlag, Kinder notfalls später einzu-
schulen. Aber der Ton, in dem der CDU-
Politiker von Parteifreunden angegan-
gen wurde, war erstaunlich. „Populisti-
scher Unfug“, klagte die Kieler Bildungs-
ministerin Karin Prien. Und Katja Lei-
kert, stellvertretende Chefin der Unions-
fraktion, schimpfte, man dürfe „das Aus-
länderding nicht auf dem Rücken von
kleinen Kindern“ betreiben. All das wur-
de von der „Union der Mitte“ auf Twitter
genüsslich retweetet.
In der CDU hat man lange – zumindest
in der Öffentlichkeit – Umgangsformen
gewahrt. Im Vergleich zur politischen
Konkurrenz ging es in der Partei gesittet
zu. Doch damit ist es seit einiger Zeit vor-
bei. Vor allem die Anhänger der Union der
Mitte und der Werte-Union beharken
sich in einer Weise, die an die Auseinan-
dersetzungen zwischen Realos und Fun-
dis in der Anfangszeit der Grünen erin-
nert. Das schadet inzwischen der gesam-
ten CDU – auch weil der rüde Ton bereits
auf andere Debatten übergreift, wie jetzt
im Fall Linnemann. Umso erstaunlicher,
dass die Parteiführung tatenlos zusieht.
Im Adenauer-Haus hätten sie zwar ger-
ne, dass die Union der Mitte sich auf Twit-
ter mäßigt. Und Annegret Kramp-Karren-
bauer hat über die Werte-Union einmal
geätzt, jeder in der CDU vertrete Werte,
dafür brauche es keine eigene Union.
Aber etwas gegen die Gruppen unternom-
men hat die Parteispitze bis heute nicht.
Ja, eine Volkspartei braucht unter-
schiedliche Strömungen, um die ganze

Breite potenzieller Wähler erreichen zu
können. In der CDU zeigen der Arbeitneh-
mer- und der Wirtschaftsflügel samt ih-
rer Chefs Karl-Josef Laumann und Cars-
ten Linnemann, dass man trotz oft gegen-
teiliger Ansichten fair miteinander umge-
hen kann. Das gilt auch für die Junge Uni-
on und die Seniorenunion. Werte-Union
und Union der Mitte fallen aber ständig
durch gegenseitige öffentliche Verach-
tung auf. Die beiden Gruppen verbrei-
tern nicht das politische Angebot der
CDU, sondern sie schrecken die Klientel
der jeweils anderen Seite ab.

Das schadet der CDU auch deshalb,
weil die Werte-Union und die Union der
Mitte in der Öffentlichkeit bereits als die
Flügel der CDU wahrgenommen werden.
Dabei sind beide gar keine Vereinigun-
gen der Partei. Dass sie in der öffentli-
chen Wahrnehmung trotzdem so präsent
sind, mag auch an Journalisten liegen,
die die Gruppen wegen ihrer gegensätzli-
chen Positionen gerne erwähnen. Es liegt
aber auch an der Selbstdarstellung der
beiden Gruppen. So bezeichnet sich die
Werte-Union als „der konservative Flügel
der Union“, obwohl sie nur ein Verein ist.
Und die Union der Mitte vergisst gerne
darauf hinzuweisen, dass sie lediglich ein
lockerer und relativ kleiner Gesprächs-
kreis von CDU-Politikern ist, der vor al-
lem aus einem Twitter-Account besteht.
Im Fall der Werte-Union und ihres Aus-
hängeschildes Hans-Georg Maaßen mag
sich die CDU-Spitze auch deshalb davor
scheuen, einen härteren Kurs einzuschla-
gen, weil ihr das bei den anstehenden
Wahlen in Ostdeutschland schaden könn-
te. Aber derlei taktisches Verhalten hat
noch keiner Partei auf Dauer geholfen.

von laura hertreiter

W


as unabhängige Medien täglich
leisten, lässt sich mit Geld nicht
aufwiegen. Wer liest, streamt, zu-
hört und fernsieht, kann mitreden, kriti-
sieren und entscheiden – egal, ob es um
Klimaschutz, Zuwanderung, politisches
Personal oder Kapitalanlagen geht. Unab-
hängige Medien sind das Fundament für
Meinungsvielfalt und Machtkontrolle.
Letztlich sind sie die Grundlage einer
funktionierenden Demokratie.
Diese Grundlage aber bröckelt jedes
Mal, wenn eine weitere Zeitung in finanzi-
elle Nöte gerät oder eingestellt wird, weil
die Auflagenzahlen und Werbeerlöse sin-
ken, weil Information im Netz gratis ver-
fügbar ist. Angesichts der schwierigen
wirtschaftlichen Lage hat nun die New Yor-
ker Investmentfirma KKR 27,8 Prozent
der Aktien des Axel-Springer-Verlages ein-
gesammelt. Das ist alarmierend.
Klar, Geld muss her. Aber eine Beteili-
gungsgesellschaft, die Unternehmen auf-
kauft, aufmöbelt und nach ein paar Jah-
ren wieder verkauft, kann eine gefährli-
che Wahl sein. Vor zehn Jahren übernahm
der Brite David Montgomery den Berliner
Verlag und damit als erster ausländischer
Investor ein deutsches Zeitungshaus. Vier
Jahre später stieß er die Blätter, desaströs
und ohne verlegerische Vision zusammen-
gespart, wieder ab. Schneller Profit ist das
eine, Zukunftsfähigkeit und journalisti-
sche Qualität etwas völlig anderes.
Was eine Zusammenarbeit mit KKR
bedeutet, können die Mitarbeiter des
Münchner Medienkonzerns Pro Sieben
Sat 1 berichten, die zum Teil bis heute
unter den Folgen des Umbaus leiden.
Gemeinsam mit dem Finanzinvestor Per-
mira hatte KKR 2006 die Mehrheit über-
nommen und auch im Programm kräftig
abgebaut. Der Nachrichtensender N 24
wurde abgestoßen, weil er zu wenig Ge-
winn erwirtschaftete. Jetzt gehört er zu

Springer – und seine Zukunft ist dort
ebenso ungewiss wie die einiger anderer
journalistischer Produkte.
Der Springer-Konzern besteht aus zwei
großen Bereichen, von denen wahrschein-
lich nur einer für KKR interessant ist. Ei-
nerseits die Presseerzeugnisse:Bildgilt
noch immer als starke Boulevardmarke,
erlebt jedoch große Auflagenverluste. Hin-
zu kommt die schwächelndeWelt-Grup-
pe, einst das journalistische Aushänge-
schild des Verlages. Andererseits ist da
das florierende Rubrikengeschäft, also
Job-, Partner- und Immobilienbörsen,
das auch international Erfolge verspricht.

Nicht umsonst gelten Medienfirmen
als Tendenzbetriebe. Als Unternehmen al-
so, bei denen nicht Gewinne im Vorder-
grund stehen, sondern etwa politische,
wissenschaftliche oder künstlerische Zie-
le. Dass der Kurs des Springer-Verlages
mit KKR in eine andere Richtung gehen
dürfte, ließ sich bereits aus dem Angebots-
papier herauslesen: Man wolle dieWelt-
Gruppe „unter der Voraussetzung einer
angemessenen Steuerung der jährlichen
Ergebnissituation“ fortführen. Der Verlag
hatte eilig eine Bestandsgarantie nachge-
schoben, die womöglich noch ein paar Jah-
re gilt. Aber schon in der Vergangenheit
war man bei Springer nicht zimperlich
mit der eigenen Tradition und hat sich ei-
niger Presseerzeugnisse entledigt.
Dabei hat der Begründer dieser Traditi-
on, der Verlagsgründer Axel Cäsar Sprin-
ger, seinem Vermächtnis eine Art Beipack-
zettel verpasst: Ein Verlag, sagte er, sei
kein reines Erwerbsunternehmen wie ei-
ne Mantelfabrik oder eine Großmetzge-
rei. Dieser Beipackzettel bleibt gültig – bis
heute, 34 Jahre nach seinem Tod.

A


uf den ersten Blick wirkt die von
Grünen, Sozialdemokraten und so-
gar Unionsvertretern geforderte Er-
höhung der Mehrwertsteuer auf Fleisch
von sieben auf 19 Prozent wie eine richtig
gute Sache. Endlich passiert einmal et-
was, nachdem ein verpflichtendes Tier-
wohllabel gescheitert ist. Künftig sollen
die Einnahmen aus der Steuer bessere Hal-
tungsbedingungen ermöglichen. Wenn es
denn so einfach wäre.
Den Missständen in der Massentierhal-
tung wird man mit Geld allein nicht begeg-
nen können, erst recht nicht mit einer
Steuer. Gerade beim Billigfleisch aus der
Massentierhaltung wäre der Aufschlag
am wenigsten spürbar, das Kilo Schweine-


nacken kostete statt fünf Euro dann eben
fünf Euro fünfzig. Schmerzen würde der
Aufschlag dagegen beim schon nachhal-
tig und tiergerecht erzeugten Braten, der
bereits seinen Preis hat und künftig wo-
möglich noch seltener gekauft würde.
So ändert man in Großmastbetrieben
keine Standards. Das einzige, was gequäl-
ten Legehennen, wundgebissenen Schwei-
nen und anderen profitabel zusammenge-
pferchten Nutztieren helfen kann, sind Ge-
setze. Verbindliche, ethisch fundierte Vor-
gaben darüber, was man Tieren zumuten
darf – und was nicht. Doch dazu fehlt der
politische Wille. Das hat Landwirtschafts-
ministerin Julia Klöckner leider schon zu
oft bewiesen. kathrin zinkant

D


ie neue britische Regierung ver-
kauft das Volk für dumm. Der für
die No-Deal-Planung zuständige
Minister Michael Gove stellt vor laufen-
den Kameras mit Leichenbittermiene
fest, wie bedauerlich es doch sei, dass die
EU so gar nicht mehr mit London über den
Brexit verhandeln wolle. Gove tut so, als
verbarrikadiere sich die EU-Kommission
in Brüssel und nehme keinen der zahlrei-
chen Anrufe aus London entgegen.
Tatsache ist, dass Johnsons Fahrplan
Gespräche mit der EU nicht vorsieht. Er
hat nach Amtsantritt keine Reise in eine
europäische Hauptstadt gemacht, sein
Team hat keine neuen Verhandlungsposi-
tionen entwickelt. Die Botschaft lautet


vielmehr: Das Austrittsabkommen ist tot,
der Backstop, die Notfalllösung für Nordir-
land, ist tot; wir wollen zwar, offiziell, alter-
native Lösungen für die innerirische Gren-
ze, wissen aber, dass solche technischen
Lösungen nicht vorliegen.
Johnson kalkuliert mit No Deal, er will
den harten Schnitt. Sollte Brüssel auf Lon-
don zugehen, und wenn ja, womit? Kein se-
riöses Angebot käme ohne sensible Lö-
sung für Nordirland aus. Diese aber kann
vorerst nur so aussehen: entweder Nordir-
land in der Zollunion – oder Großbritanni-
en in der Zollunion. Die kleinere Lösung
war schon auf dem Tisch, sie wäre mach-
bar. Aber sie erfordert Konzessionen. Von
den Briten. cathrin kahlweit

I


m Bürgerkrieg, der Mosambik 15 Jah-
re lang lähmte, standen sich die Regie-
rungspartei Frelimo und die Oppositi-
onspartei Renamo als Feinde gegenüber.
Fast drei Jahrzehnte später haben beide
Seiten – die ewige Regierungspartei und
die Opposition – nun offiziell Frieden ge-
schlossen.
Das Abkommen soll nicht nur das Ende
der Gewalt besiegeln, sondern auch einen
Schlussstrich unter die Zeit des Ein-Partei-
en-Staates ziehen. Die Zusage gewährleis-
tet allerdings nicht, dass fortan wirklich
Frieden herrscht in Mosambik. In beiden
Parteien gibt es Hardliner, die mit dem
Vertrag nicht einverstanden sind, beson-
ders Renamo gilt als zersplittert.


Dabei sollten die politischen Eliten end-
lich die großen Probleme des Landes ange-
hen. Im Norden terrorisieren Islamisten
die Bevölkerung. Im Frühjahr begrub ein
Tropensturm ganze Regionen unter Was-
ser und forderte enorme Ernteausfälle. Zu-
sätzlich zur Gewalt, die in den vergange-
nen Jahren immer wieder ausgebrochen
war, galt der Staat 2016 als bankrott. Die
Regierung hatte geheime Kredite autori-
siert. Zudem verhindert die Korruption,
dass Mosambik vorankommt, trotz viel-
versprechender Kohle- und Gasvorkom-
men. Deshalb braucht Mosambik demo-
kratische Institutionen und echte Gewal-
tenteilung. Der Friedensvertrag ist dort-
hin ein erster Schritt. anna reuß

Wer andere Menschen diskri-
miniert, vom lateinischen dis-
criminare (trennen, unter-
scheiden), der unterscheidet
zwischen ihnen anhand eines
bestimmten Merkmals wie Geschlecht,
Religion oder Ethnie. So lautet die Definiti-
on, zum Beispiel im „Brockhaus“. Und so
wird der Begriff auch im Recht verstan-
den, wo es nicht nur dem Staat laut Artikel
3 des Grundgesetzes verboten ist, nach ei-
ner Reihe solcher explizit benannter Merk-
male zu diskriminieren, sondern seit
2006 auch Unternehmern laut Antidiskri-
minierungsgesetz. Eine Diskriminierung
setzt begrifflich die Anknüpfung an ein
solches Merkmal voraus – und das macht
es so ulkig, wie sich derzeit der Ehrenrat
des Fußballvereins Schalke 04 windet.
Der Schalker Aufsichtsratschef Clemens
Tönnies habe „gegen das in der Vereinssat-
zung und im Leitbild verankerte Diskrimi-
nierungsverbot verstoßen“, heißt es in ei-
ner Erklärung. Der Vorwurf des Rassis-
mus sei aber „unbegründet“. Clemens
Tönnies hat also Menschen diskriminiert.
Wonach aber? Die Frage soll nicht beant-
wortet werden. Tönnies hatte in einer Re-
de zum Klimawandel ein bestimmtes Bild
von Afrikanern gezeichnet. Man solle
jährlich 20 Kraftwerke in Afrika finanzie-
ren. „Dann würden die Afrikaner aufhö-
ren, Bäume zu fällen, und sie hören auf,
wenn’s dunkel ist, Kinder zu produzie-
ren.“ rst

4 HF2 (^) MEINUNG Donnerstag, 8. August 2019, Nr. 182 DEFGH
FOTO: REUTERS
CDU
Eine Partei twitterisiert sich
PRESSEFREIHEIT
Ausverkauf
TIERWOHL
Nur Gesetze helfen
BREXIT
Der harte Schnitt
MOSAMBIK
Erster Schritt zum Frieden
sz-zeichnung: wolfganghorsch
AKTUELLES LEXIKON
Diskriminierung
PROFIL
Beto
O’Rourke
US-Demokrat,
der Trump
verflucht
Der Streit zwischen Union der
Mitte und Werte-Union schadet
inzwischen der ganzen Partei
Ein Finanzinvestor steigt bei
Springer ein – ein Alarmsignal
für die Medienbranche

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